SIEBENUNDZWANZIG

»Da vorne ist ein Schild«, sagte Shane, während er versuchte, den Bus auf der rutschigen Fahrbahn so ruhig wie möglich zu halten. »Kann jemand lesen, was darauf steht?«

Marla stand auf, ließ ihren Rücken sehr unweiblich knacken und sagte: »Ich hoffe, es steht irgendetwas mit Essen darauf.« Sie ging nach vorne, hielt sich dabei seitlich an einem Aluminiumgriff fest. Als sie vorne ankam, sah sie durch die Windschutzscheibe auf die bedeckte Fahrbahn. »Scheiße, Shane, wie sollen wir so nur vorankommen?«

Er seufzte. »Langsam. Sehr langsam.«

Der Schnee lag so hoch, dass der Schulbus einige Zentimeter über der Fahrbahn rollte. Der Schnee kratzte sanft am Unterboden des Busses, was nicht allzu beruhigend war, aber bisher hatte er noch nirgendwo aufgesetzt, was vermutlich mehr Glück als alles andere war.

Auf dem Schild, das nun links zu sehen war, stand: JACKSON - 3 MI.

Shane rutschte nervös auf seinem Sitz herum. Obwohl er Hilfe zum Lesen des Schilds angefordert hatte, konnte er seinen Blick lange genug von der Straße abwenden, um es selbst entziffern zu können.

Marla legte eine Hand auf seine Schulter. »Wenn sie dort sind«, fing sie an, während sie ihm sanft über den Kragen strich, »werden wir sie finden.«

Er seufzte, sowohl vor Erleichterung als auch vor Anspannung, die denkbar härteste Kombination.

Terry saß ein paar Sitze weiter hinten; er hatte die wenig beneidenswerte Aufgabe, Shanes Pistole zu reinigen, die bei aller Fairness reif für den Müll war. Als er das Flüstern der beiden bemerkte, setzte er die Waffe schnell zusammen und ging nach vorne, um herauszufinden, was vor sich ging.

»Wir sind fast da«, sagte Marla. Ihr Blick verriet Terry alles, was er wissen musste; der Moment der Wahrheit näherte sich; Zeit, sich vorzubereiten oder um ruhig zu bleiben …

»Mich ärgert der Verlust meiner Remington«, sagte Terry. Er wollte damit auch ausdrücken, dass sich Shanes Pistole in einem miserablen Zustand befand.

»Nicht deine Schuld«, erinnerte Shane ihn. »Du hast uns das Leben gerettet, indem du sie in sie Irre geführt hast. Ich bin unendlich dankbar für das, was du getan hast; deine Flinte zu verlieren, war nur ein geringer Preis, den wir zahlen mussten.«

Marla küsste Terry auf die Wange, was ihn vollkommen schockierte. »Ja«, sagte sie. »Wir wären dank deines Opfers wohl nie wieder erwacht.«

Terry war sich des Risikos bewusst gewesen, er hätte sich selbst nicht als Held betrachtet, selbst wenn der Captain und dessen Trottel Moon nicht für immer aufgefressen worden wären.

Er sagte nichts, oder konnte es nicht. Marlas Kuss hatte ihn zum Schweigen gebracht.

»So ist es also das erste Mal, dass wir seit der Zeit im Gefängnis nach Jackson zurückkehren«, stellte Marla fest. »Die alte Bande ist wieder zusammen, was?«

Shane lächelte. »Ich dachte, ich würde diesen Ort für immer hinter mir lassen«, sagte er. »Zeigt nur wieder, wie beschissen diese Sache mit der Schuld ist.«

»Wir mussten fliehen«, sagte Marla. »Wenn du dich erinnerst: Diese verfluchten Untoten hatten uns umzingelt und der Helikopter hätte nicht tagelang auf uns gewartet. Es ist einfach, zurückzudenken und zu sagen, dass du die Dinge anders geregelt hättest. Ich nehme nicht an, dass du es unter den gegebenen Umständen auf die Reihe bekommen hättest. Wir flüchten, wir sind noch immer am Leben und wir sind jetzt hier. Wenn Megan …«, Scheiße, sie hatte den Namen seiner Frau vergessen.

»Holly«, half Shane ihr auf die Sprünge, er versuchte, wegen ihrer Vergesslichkeit nicht zu verärgert zu klingen – obwohl sie den Namen vielleicht absichtlich aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte; ihre Gefühle für Shane waren offensichtlich.

»Wenn Megan und Holly«, fing sie nochmals an, »dort sind und sehen, dass wir noch am Leben sind, werden sie dir bestätigen, dass du genau das Richtige getan hast.«

Shane dachte kurz nach, bevor er zustimmend nickte. Marla lag richtig, wie immer, und der Gedanke daran dies zuzugeben schmerzte ihn, er wusste, dass es nichts anderes gab, als das, was sie getan hatten.

»Hey«, sagte Marla, weitaus lebhafter, als sie es bisher gewesen war. Sie tippte gegen ein kleines Fenster und deutete auf so etwas wie ein Strip-Lokal. Die Neonlichter funktionierten immer noch, selbst nach einem Monat; zwei blinkende weibliche Beine, die sich immer wieder spreizten. »Ratet mal, wer dort einmal gelebt hat?«

Stille.

Dann fing Terry an zu lachen. »Doch nicht etwa du?«

»Doch«, lachte sie. »Drei Jahre lang habe ich die Porno-Musik von unten gehört, als ich mich damals auf meine Promotion vorbereitete. Es war das Einzige, das ich mir damals leisten konnte.« Sie machte eine Pause, versuchte sich an ein paar Details zu erinnern, die die Spannung etwas lindern konnten. Dann sagte sie: »Der Vermieter war ein richtiger Bastard. Mir fällt gerade sein Name ein. Jebediah Crunt.«

Zum ersten Mal sagte Terry nichts. Stattdessen warf er ihr einen ungläubigen Blick zu, dabei testete er die Story anscheinend auf ihren Wahrheitsgehalt.

»Ich schwöre«, kicherte sie. »Ich hab ihn immer Jeb the Cunt genannt. Der Hundesohn hat mir zum Schluss nicht einmal mehr meine Kaution zurückgegeben. Sagte, ich hätte seinen ganzen Badezimmerteppich vollgepisst, was natürlich nicht so war. Warum sollte eine Frau auch auf einen Teppich pissen?«

Shane meldete sich zu Wort. »Da wärst du überrascht.« Er fing an zu lachen.

Dann lachten auch alle anderen, dankbar für Marlas kurzes Schwelgen in Erinnerungen, und ob es wahr war oder auch nicht, es schien die Stimmung im Bus für den letzten Kilometer bis Jackson etwas aufgelockert zu haben.

Obwohl es der letzte Kilometer war, fing genau da der Albtraum an.


***

Sie starrten auf die Straße vor sich, keiner sagte etwas. Mit Schnee bedeckte Fahrzeuge standen verstreut auf der Fahrbahn. Ein Transporter lag umgekippt auf der gesamten Fahrbahnbreite. Die Leute waren in ihren Autos angegriffen worden; entweder das, oder sie waren um ihr Leben gelaufen und hatten ihre Fahrzeuge zurückgelassen. Der Transporter lag beinahe komplett unter einer Schneeschicht verborgen, die Hondas, die er transportiert hatte, waren kaum zu erkennen.

»Ist einer von euch schon auf die Idee gekommen, dass wir die Stadt nicht erreichen werden?«, fragte Marla schließlich.

»Ich hatte es erwartet«, sagte Shane und drehte den Schlüssel im Zündschloss herum. Die Stille, die darauf folgte, war schrecklicher als der Anblick durch die Windschutzscheibe. »Wir können froh sein, dass wir es so weit geschafft haben.«

»Ich fühle mich gerade nicht sehr glücklich«, sagte Marla.

Shane stemmte sich aus seinem Sitz und wandte sich an Terry, der ihm seine gereinigte 22er zurückgab.

»Was denkst du«, fragte der alte Mann. »Es ist noch etwa ein Kilometer bis zu der Stadt. Hast du eine Ahnung, wo wir die Suche starten sollen?«

»Sie lebten zusammen bei Hollys Mutter, so hatte sie es mir gesagt«, erklärte Shane, den die Richtung, in die das Gespräch zu verlaufen schien, etwas störte. »In einem Haus nicht weit vom Museum entfernt. Ich schätze, dass wir in weniger als einer halben Stunde dort sein könnten.«

»Ohne die Untoten dabei zu berücksichtigen«, warf Marla wie immer optimistisch ein. »Und die Tatsache, dass wir uns mitten in einem verdammten Blizzard befinden.«

Shane seufzte. »Ich weiß schon, dass du den Bus nicht verlassen möchtest«, sagte er und versuchte, den Augenkontakt mit beiden zu vermeiden. »Ihr habt bereits genug für mich getan, aber wie ihr wisst, muss es so sein. Ich kann jetzt nicht aufhören.«

»Willst du damit sagen, dass du das alleine durchziehen möchtest?«, fragte Marla, von Shane leicht genervt.

»Nein, natürlich nicht –«

»Dann lass uns machen, dass wir aus diesem Bus kommen«, sagte sie. »Versteh doch, Shane, uns ist klar, was dir deine Familie bedeutet. Scheiße, ich würde genau das Gleiche in dieser beschissenen Situation tun, wenn einer meiner Freunde noch am Leben wäre. Wir haben es so weit zusammen geschafft, und wir werden das gemeinsam durchstehen.«

Shane lächelte.

»Das werde ich euch niemals vergessen«, sagte er.

»Das werden wir auch nicht zulassen«, sagte Terry, der den Reißverschluss seiner Jacke zuzog, unter der die Hälfte seines Gesichts verschwand. »Aber können wir jetzt einfach los, bevor ich meine Meinung noch ändere?«

Shane zog am Hebel neben dem Armaturenbrett, laut öffnete sich die Tür. Marla streckte ihre Hand in Richtung Tür aus, zu der bereits Schnee hereinwehte.

»Nach dir«, sagte sie.

Shane drehte sich um und nahm vorsichtig die Treppe. Das Letzte, was er wollte, war auszurutschen, auf seinem Arsch zu landen und sich zum kompletten Idioten zu machen.

Doch dann packte ihn eine Hand am Knöchel, die beinahe dafür sorgte, dass alle drei der genannten Dinge zutrafen.

Marla wollte ihn gerade noch packen, aber es ging zu schnell. Anfangs dachte sie, er wäre einfach nur ausgestiegen, doch dann landete er mit einem dumpfen Geräusch im Schnee, und als er herumwirbelte, konnte sie erkennen, dass ihn etwas anderes erschrocken hatte.

Terry ging nach draußen, folgte dabei Shanes Blickrichtung. Er landete im Schnee, drehte sich um und entdeckte sofort die Kreatur, die ihn aus der Dunkelheit anstarrte.

Victor Lords Gesicht war fast gänzlich verschwunden, aber seine Wange war noch da, sie flatterte an seinem nassen Schädel. An der Schule hatte ihm nur ein Arm gefehlt; nun war alles von der Hüfte abwärts verschwunden. Irgendwie war es ihm dennoch gelungen, sich fast 60 Kilometer festzuhalten, seine restlichen Gliedmaßen mussten während der Fahrt abgetrennt worden sein, sein Gesicht hatte vermutlich die ganze Fahrt lang am Boden geschabt.

»Hartnäckiger Wichser«, sagte Terry.

Er bemerkte eine Zigarre, die nicht brannte und nutzlos aus der Brusttasche der Kreatur hervorlugte, dem letzten Rest vom dem, was vom Tarnanzug übriggeblieben war.

»Möchtest du die ehrenvolle Aufgabe übernehmen, oder –«

Shane hob seine Waffe und zerriss Victors Kopf mit einem einzigen Schuss. Knochenteile und Fleisch spritzen rund um den Bus und landeten im Schnee. Die Zähne der Kreatur klapperten noch einige Sekunden wie verrückt, und dann fiel der Kopf nach vorne auf die weiße Schneedecke.

Shane trat die immer noch zuckende Hand von seinem Knöchel und versuchte zu begreifen, was gerade passiert war. Wie zum Teufel war es dem gelungen, sich über eine so lange Distanz festzuhalten? War er wirklich so rachsüchtig, sie für den Diebstahl des Jeeps bezahlen zu lassen, oder war es einfach der unerbittliche Antrieb der Kreatur, die er am Ende gewesen war?

Shane stand auf und befreite seine Kleidung vom Schnee. Sein Arsch war durchnässt und er wollte die nächsten Stunden nicht in einer Hose, die wie Cellophan an ihm klebte, verbringen.

Marla stand nun neben der Bustür und sah erschrocken aus. »Kann ich jetzt hinunterkommen?«

Terry lächelte, bevor er ihr seine Hand anbot, die sie annahm. Als sie hinabstieg, blickte sie unter den Bus. Die Fetzen des verbrannten Tarnanzugs ließen sie und nach Luft schnappen. Dann schlug sie die Hand vor den Mund.

»Wow!«, entwich es ihr.

Shane hatte eigentlich ein »Oh mein Gott« oder Ähnliches von ihr erwartet.

»Schätze er wollte wirklich seinen Jeep zurück«, sagte Terry, während er sich den Schnee abklopfte. »Dieser Hundesohn wollte einfach nicht aufgeben.«

»Wollen wir jetzt den ganzen Tag lang hier herumstehen«, fing Marla an, »oder wollen wir deine Familie jetzt suchen gehen?«

Shane gefiel diese Einstellung. Er deutete zum Transporter, der wie ein totes Mammut aus der Eiszeit vor ihnen lag. »Das ist der beste Weg zu Fuß«, sagte er. »Wir lassen die Rucksäcke hier; ich glaube kaum, dass sie uns irgendwer stehlen wird.«

»Warum nicht?«, fragte Terry. »Wir würden das tun.«

Terry hatte recht, aber Shane zuckte mit den Achseln; es war einfach nicht drin, eine solche Last mit sich herumzuschleppen, wenn sie schnell sein wollten. Und sollte ein Untoter oder noch Schlimmeres auftauchen, was dann? Das Gewicht würde sie ohne Zweifel verlangsamen.

»Kommt schon«, sagte Shane.

Er trat einen Schritt nach vorne, ein gutturaler Laut ließ ihn erstarren. Sie blickten zur Blockade, von wo der Lärm offenbar kam.

Sie lagen richtig.

Auf einen Untoten folgte ein weiterer. Ziemlich bald war es eine kleine Horde, die hinter dem Transporter auftauchte. Sie hatten sie noch nicht entdeckt, aber das würden sie noch.

»Wir müssen los«, sagte Shane und deutete nach rechts. Terry und Marla folgten ihm. »Sie können uns nicht sehen, wenn wir im Schatten bleiben.«

»Die sind uns mitten im Weg«, flüsterte Terry. »Was sollen wir dagegen tun?«

Marla zuckte mit den Achseln. »Ich kenne diese Stadt wie meine Westentasche«, sagte sie. »Da gibt es eine Abkürzung zum Museum, drüben bei der Bank, wenn euch ein wenig Klettern nichts ausmacht.«

»Woher kennst du die?«, fragte Shane und drückte sich gegen eine Ladenfront. »Bist du früher über Zäune gesprungen, als du noch über dem Strip-Lokal gewohnt hast?«

Marla nickte. »So was in der Art.«

Sie gingen zur Bank, hielten sich dabei im Schatten verborgen und versuchten, die Horde um sie herum zu ignorieren.


***

Sie kämpfte sich durch den zunehmend überfüllten Flur vorwärts. Die Kreaturen versuchten, sie mit ihren gebrochenen Fingern und ihren blutigen Mäulern zu erwischen, aber sie gab ihnen kaum Gelegenheiten. Sie waren zu langsam, zu ungeschickt, und sie war geschmeidig wie eine russische Turnerin. Zwischen ihnen hindurchtanzend, näherte sie sich direkt dem Museumshaupteingang. Als sie an der letzten Kreatur vorbeischlüpfte, wurde sie beinahe erwischt. Sie wirbelte herum und stieß auf einen Cowboy – zumindest schien es einer gewesen zu sein –, der mit seinen arthritischen Fingern nach ihr langte. Das Gesehene hatte sie so verunsichert, dass sie fast gestolpert wäre.

Der Gang endete am Museumsempfang und sie wusste, dass sie es schaffen konnte. Etwa zehn Dinger steuerten auf sie zu, offenbar von dem Cowboy angeführt, der eifrig mit ausgestreckten Armen auf sie zukam, der Hut wurde nur von einem Gummiband, welches über dem Kinn verlief, gehalten.

Sie riss die Machete nach oben und enthauptete den Kadaver, wo er stand. Sein Kopf flog durch den Raum, knallte gegen eine Wand, prallte davon ab, riss dabei ein vermutlich unbezahlbares Artefakt mit sich, welches in mehr Stücke zerbrach, als man zählen konnte, und rollte langsam aus, immer noch blinzelnd. Als ihr bewusst wurde, was geschah, war der Cowboy bereits bei ihr.

Sie schwang die Machete zurück, dabei schnitt sie das Gesicht des Cowboys in Scheiben und trennte den Hut ab. Sie ließ sich auf ein Knie fallen und schob die Klinge in das Kinn der wandelnden Leiche, und weiter hinauf in den Kopf. Der Hut balancierte kurz auf der Spitze der Klinge. Als sie ihre Waffe zurückzog, fiel der Hut wieder nach unten und landete auf dem verwirrt aussehenden Kopf des Cowboys. Für einen Beobachter hätte es wohl wie ein Cowboy ausgesehen, der einfach nur höflich war. »Danke sehr, Ma’am.«

Er fiel genau dann zu Boden, als sie wieder auf ihre Beine kam.

Sie drehte sich um und eilte zum Eingang, durch den die Kälte der Nacht drang. Als sie hinausstürzte, bemerkte sie, dass der Kampf gerade erst begonnen hatte.

100 Kreaturen – vielleicht auch mehr – schlurften rund um das Museumsgelände, dabei stießen sie gegeneinander, fielen um und liefen überall gegen. Sie rannte zu einer Gruppe Untoter vor sich, weil ihr die Kreaturen hinter ihr keine Wahl ließen.

Sie schwang die Machete durch die Luft und nahm einen tiefen Atemzug.