ACHT
Shane fuhr mit dem Snatch auf die Rückseite der Baracken zu, wo die Chancen größer standen, nicht von den Nachtwachen entdeckt zu werden. Von denen gab es nur zwei, aufgrund der mageren Anzahl an Infanteristen. Aber sie würden sich vermutlich fragen, warum eine Gruppe Überlebender eines der wenigen funktionierenden Fahrzeuge an sich nahm, und noch dazu nachts. Eigentlich waren es fast sechs, aber es war zu dunkel, um über den stets wachsenden Schneeberg sehen zu können.
Er fuhr vorsichtig, wollte verhindern, dass die Bremsen versagten und sie deswegen quer über den Platz schlitterten.
»Wer hat dir so zu fahren beigebracht?«, fragte Marla von der Rückbank. »Miss Daisy?«
Shane blickte über seine Schulter und entdeckte sie rechts gegen das Gitter lehnend; ein makellos schönes Gesicht, trotz des Grauens, das Marla erlebt hatte.
»Du hast wohl vergessen«, fing Shane an, während er mit dem Jeep über zwei Hügel fuhr, »dass ich erst vor kurzem entlassen worden bin. Um ehrlich zu sein, war ich nie der beste Fahrer, selbst bevor ich eingebuchtet wurde.«
Terry lachte in Anbetracht von Shanes scherzhafter Stimmlage. Jared, auf der anderen Seite, griff nach einem Ledergriff, der vom Dach herabhing. Er sah nervöser aus als jemals zuvor. Er hatte die Rückbank gewählt, nicht wegen Marla, nicht weil es da sicherer war – wenn auch nur geringfügiger –, aber weil er nicht sofort involviert sein wollte, sollte es Schwierigkeiten geben oder sich ihnen etwas in den Weg stellen. Hätte er auf dem Beifahrersitz Platz genommen und eine Horde beschissener Untoter hätte beschlossen, mitten auf der Straße aufzukreuzen, wäre er derjenige, der sie beseitigen musste, nicht wahr? Er wusste nur zu gut, dass er das schwächste Mitglied der Gruppe war, weswegen er Terry den Vordersitz überlassen hatte. Für ihn waren dessen Weisheit und Erfahrung Grund genug dafür.
Es hatte funktioniert und er hatte dabei nicht gleich wie eine Pussy geklungen.
Sie passierten militärische Unterkünfte, trostlose, unscheinbare Gebäude. Jeder der Überlebenden hätte sich in einem dieser niederlassen können, trotzdem hatten sie es als Gruppe vorgezogen, im Hauptteil der Kaserne zu bleiben. Hüttenkoller war schon schlimm genug, da brauchte es nicht zusätzlich eine Trennung von den anderen Überlebenden. Natürlich bestand auch die Gefahr, entfremdet zu werden; sich von den anderen abzugrenzen hätte mit Sicherheit für Unruhe gesorgt, was keiner wollte, da niemand auch nur den blassesten Schimmer hatte, wie lange sie hier eingesperrt bleiben würden.
Der Schnee fiel unaufhaltsam weiter, beschichtete alles im Sichtfeld. Es musste wohl auch Wind aufgekommen sein, denn der Schnee wirbelte wie ein Minitornado im Kreis.
Direkt vor sich konnte Shane das Tor ausmachen; Terry musste seine Augen zusammenkneifen, um es ebenfalls sehen zu können. Sein Augenlicht war nicht mehr so, wie es mal gewesen war.
»Sind da noch irgendwo welche von denen?«, fragte Marla. Sie rückte näher ans Gitter, welches sie und Jared von der Fahrerkabine trennte. »Kannst du überhaupt was sehen?«
Shane konnte das Tor erkennen, aber nichts darüber hinaus, zumindest nicht durch die dicke Schneeschicht.
»Ich glaube nicht«, sagte Terry. In Wahrheit hätte sich eine verfluchte Horde in der Größe von ganz Kentucky auf der anderen Seite aufhalten können; er konnte einfach nichts erkennen. Brillen sollten in den nächsten Tagen mit Sicherheit irgendwo zu finden sein, wenn sie in der Nähe der Stadt waren.
Shane ließ den Jeep die letzten 20 Meter auf das Tor zurollen, nur für den Fall, dass dort Untote in Hörweite wären. Unter den Reifen knirschte der Schnee, weswegen er davon ausging, dass sie ganz sicher zu hören waren.
Er hielt den Snatch an und zog die Handbremse.
Irgendjemand musste hinaus, um das Tor zu öffnen und er wusste, dass Jared der Letzte war, der sich freiwillig dafür melden würde. Es war sinnlos, ihn danach zu fragen.
Er öffnete die Tür und stieg hinaus in die eiskalte Nacht.
Oder war es bereits morgens? Es war nicht ganz klar, da die Dunkelheit sich weigerte, der Morgendämmerung zu weichen.
»Sei vorsichtig«, hörte Shane Marla von der Rückbank her. Er hätte fast etwas Sarkastisches darauf geantwortet, hielt sich aber zurück. Es war kaum der Zeitpunkt dafür, den Klugscheißer zu spielen, und er hatte schon schwer damit zu kämpfen, sich aufgrund des Zähneklapperns nicht auf die Zunge zu beißen.
Das Tor selbst war, wie erwartet, sehr robust, so wie das in einer militärischen Anlage zu erwarten war. Shane wusste, dass es mehrmals versperrt war, um ein mögliches Durchdringen der Horden wesentlich zu erschweren. Es sollte sich zwar von selbst öffnen, sobald man sich von innen näherte, aber dem war nicht mehr so. Die Generatoren waren abgeklemmt worden, da man auf unnötige Energieverschwendung verzichten wollte. Stattdessen wurde das Tor nun von drei riesigen Ketten zusammengehalten. Technisch gesehen, machte das Sinn, da auch dies die Untoten auf der anderen Seite hielt. Drei lange Ketten leisteten denselben Job wie ein paar Kabel, durch die verdammt viel Strom floss.
Shane holte den Bolzenschneider aus dem Fußraum und ging damit auf das Tor zu. Er konnte Blicke auf sich fühlen und wusste, wenn er sich in diesem Moment umdrehen würde, wären es die der drei starrenden Personen aus dem Inneren des Wagens. Er fühlte sich etwas unwohl, aber irgendwie auch sicher, weil sie da waren.
Dann war hinter ihm plötzlich ein Klacken zu hören. Als er sich umdrehte, sah er Terry Lewis aus dem Fahrzeug klettern. Er trug einen Sack bei sich; Shane hatte fast die Vorhängeschlösser vergessen.
»Dachte, ein wenig Hilfe könnte nicht schaden«, flüsterte Terry und ging langsam auf Shane zu. »Verdammt, ist mir kalt.«
Shane lächelte. »Ich befürchte, dass mir gerade die Eier zusammengefroren sind.«
»Tja«, grinste Terry. »Hätte schlimmer sein können, zumindest haben wir einen Bolzenschneider.«
Beide verzogen schmerzhaft ihre Gesichter, und Shane verspürte tatsächlich einen Stich in seiner unteren Leistengegend, als hätte da unten jemand zugehört und beschlossen, ihn an seine Eier zu erinnern.
Sie machten sich an die Arbeit. Shane schnitt die erste Kette durch, während Terry sich auf beiden Seiten des Tores umsah.
»Scheint, als ob wir immer versuchen irgendwo auszubrechen«, scherzte Terry, dabei hüpfte er auf und ab, ein Versuch, irgendwie Körperwärme zu erzeugen.
»Scheint so«, stimmte Shane zu. »Nur diesmal wissen wir, was wir tun.« Zumindest hoffen wir das, dachte er sich daraufhin.
Nachdem er die drei Ketten durchgeschnitten hatte, zog er sie heraus und ließ sie auf den Boden fallen. Der Schnee war bereits so hoch, dass sie vollständig darin versanken, nur noch Mulden waren zu sehen.
Terry wollte gerade das Tor aufschieben, als Shane seinen Namen flüsterte. »Noch nicht«, sagte er. »Geh zurück zum Wagen. Ich werde es öffnen. Sobald ich soweit bin, musst du hindurchfahren. Sollten da irgendwelche Kreaturen sein, dann sollten wir deren Chancen so gut es geht verringern. Es gibt noch immer gute Leute hier, und das Letzte, was wir wollen, ist, sie durch die Ungnade einer beschissenen Horde umzubringen.«
Terry stellte nickend seine Tasche im Schnee ab und ging zum Jeep.
Shane konnte beide Seiten der Straße sehen und es gab nichts zu berichten, außer er hätte eine Krähe als Bedrohung angesehen. Sie hüpfte auf einem Holzpfosten herum, bevor sie Richtung Himmel verschwand, und Shane dachte kurz nach, ob er diesen Anblick als Zufall oder schlechtes Omen werten sollte.
Oder nichts von beidem.
Terry näherte sich mit dem Jeep; Shane konnte Marlas Stimme hören, aber keines ihrer Worte verstehen. Er vermutete, dass sie Terry Anweisungen gab, und er konnte sich gut vorstellen, dass Terry ihr sagte, sie solle die Klappe halten, denn es gab nichts Schlimmeres als Rückbankfahrer.
Shane atmete tief durch und zog das Tor nach innen auf. Es war schwerer als erwartet und nach zwei Zentimetern stieß es auf Widerstand.
Dennoch zog er, so fest er konnte. Die Zeit drängte und je schneller er wieder im Snatch – in Sicherheit – war, desto besser.
Er winkte zu Terry, signalisierte ihm, dass das Tor für den Jeep nun weit genug offenstand. Terry fuhr langsam vor, dabei zeigte er Shane seinen erhobenen Daumen. Marla meckerte immer noch über etwas, jedoch konnte Shane es aufgrund des Windes und des Schneegestöbers nicht verstehen.
Als der Wagen sicher auf der anderen Seite war, blieb er stehen, Shane packte die Ketten und zog das Tor hinter sich zu. Er zog die erste Kette hindurch und versperrte sie; dann die zweite.
Er hatte die Dritte bereits in der Hand, als Terry aus dem Fenster schrie.
»Shane. Dort drüben!«
Shane drehte sich um und entdeckte eine Kreatur, die auf das Fahrzeug zukam, und er rief zurück: »Wo kommt die denn her, verdammt noch mal?«
Sie war alleine, doch der Blick in ihren Augen war Shane nicht fremd, er verriet ihm, dass sie hungrig war.
»Was auch immer du vorhast«, sagte Shane, »bleib im Jeep.«
Er verließ das Tor und näherte sich dem Untoten. Aus dem Jeep war Marlas panischer Schrei zu hören, während Terry ständig die Ereignisse kommentierte.
Gott sei Dank war es nur eine. Shane wurde eben bewusst, dass, wäre eine Horde gekommen, sie total unvorbereitet gewesen wären.
Die Kreatur stöhnte, ihre tiefen, monotonen Laute waren durch den Wind kaum hörbar. Schwarzer Sabber triefte zwischen den Lippen hervor und schmolz den Schnee wie zähflüssiger Teer.
Mit der um das Handgelenk gewickelten Kette näherte sich Shane dem Untoten, sein Herz drohte seine Kehle hochzuspringen, seine Augen fixierten das Ziel.
Als das Ding nach ihm zu greifen versuchte, schlang er die Kette um dessen Hals. Wie erwartet, stürzte es sofort auf die Knie und fing an, heftig dagegen anzukämpfen. Erfolglos.
Shane zog fester zu, die Augen der Kreatur traten heraus und ploppten aus ihren Höhlen. Der zweite Zug – ein gewaltiger – trennte ihren Kopf ab. Aus dem Halsstumpf sprühte schwarzes Sekret, Shane wandte sich ab. Eine winzige Menge von dem Zeug in seinem Mund hätte ausgereicht, um ihn anzustecken.
Der Körper kippte nach vorne; der Kopf lag mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Sofort umgab diesen eine dunkle Pfütze. Shane trat zurück, und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er glauben können, dass das vor ihm ein Ölfleck war.
»Shane, komm schon!«, rief Terry. Als Shane sich umdrehte, sah er Terry mit einer Remington in den Händen halb aus dem Jeep hängen. »Worauf warten wir noch? Auf weitere von denen?« Er drehte sich um, eilte zur Beifahrertür und stieg ein.
Shane erreichte das Tor und befestigte die dritte Kette. Er verschloss es, da fiel ihm auf, dass an den einzelnen Gliedern Fleisch hing; verrottet, voller Maden.
Während der Zeit, in der er in den Wagen kletterte, war ihm ein wenig mulmig zumute.
Wie es schien, stand ihnen ein Höllentrip bevor.