VIERUNDZWANZIG

Sie lauschte aufmerksam, hoffte, dass sie mit ihrer Annahme richtig lag; seit zehn Minuten herrschte Ruhe. Ihr Magen tat von dem ganzen Junkfood immer noch weh und sie musste wirklich auf die Toilette. Sollte es eng werden, dann würde sie es genau hier auf dem Boden der Abstellkammer tun, das war ihr bewusst; ihr blieb nichts anderes übrig. Sie wollte kein Risiko eingehen, und zudem wollte sie ihre Kleidung nicht ablegen. Es war warm, doch auf so engem Raum und in der Dunkelheit war Geklapper wohl nicht zu vermeiden.

Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr vollgepisst, aber jetzt hatte sie vor, es zu tun, auf so etwas konnte man sich nicht vorbereiten.

Auf Bewegungen von der anderen Seite der Tür lauschend, wusste sie, dass sie sich nicht ewig vor ihnen verstecken konnte. Sie hatte ihre Machete, sie musste sie nur dann erwischen, wenn sie nicht damit rechnen würden.

Sie sind tot, dachte sie. Wenn es jemals einen Zeitpunkt gibt, jemanden überraschend zu erwischen, dann, nachdem er gestorben ist.

Das Problem, vor dem sie stand, war deren Anzahl. Sie hatte keinen Plan, wie viele Zombies rund um das Museum schlichen. Mit zehn könnte sie fertig werden, aber wenn es 20, 30, 100 oder mehr waren, war das nicht gut. Was nutzte einem schon eine Machete, wenn man keinen Platz hatte, sie zu schwingen?

Sie fühlte die ersten warmen Urintropfen in ihrer Hose, und dabei wurde ihr bewusst, dass sie sowieso keine andere Wahl hatte; wenn es raus musste, dann musste es raus.

Sie hoffte nur, dass sie sie nicht durch die Tür riechen konnten. Nicht nur dass ihr das peinlich wäre, aber es würde ihr Leben auf würdelose Art und Weise beenden.

Sie zuckte zusammen, als die Pisse heruntertropfte. Das war die Sache, die das Fass zum Überlaufen brachte.

Sie wollte sich noch ein paar Stunden geben, bevor sie hinausging.

Wenn da 30 von ihnen waren, dann sollten die besser vorsichtig sein.

Zur Hölle, mit einer Frau, die sich selbst vollgepisst hat, war nicht zu spaßen.


***

Terry erwachte und entdeckte Marla und Shane, die auf der anderen Seite des Raumes schliefen. Sie lagen ineinander verschlungen, so wie es Lebenspartner taten, aber da war nichts anderes als Unschuld. Das Zimmer war kalt und ihre Körperwärme war alles, was sie hatten. Wenn Terry auch nur geahnt hätte, wie kalt es war und noch werden würde, hätte er sich zu ihnen gesellt.

Gruppenkuscheln.

Er ließ sie so liegen. Schlafen war sowieso eine Seltenheit geworden und bei Gott, sie hatten sich ein paar Stunden verdient.

Er war überrascht, dass es ihm überhaupt gelungen war, kurz die Augen schließen zu können. Er hatte an diesem Tag einige schreckliche Dinge erlebt, genug, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben. Einen Moment fühlte er sich schuldig, als er sich umdrehte und die bedeckten Leichen im Raum erblickte. Sie hatten zumindest Jared von den Untoten weggezogen; das war das Mindeste, was sie für ihn tun konnten. Er hatte es nicht verdient, bei ihnen zu liegen wie in der Zeit nach dem Schwarzen Tod. Er war ein wahrer Freund und ein guter Zellengenosse gewesen. Abgesehen von der Tatsache, dass er schwach und verletzlich gewesen war, war er wie ein Held gestorben.

Terry konnte nicht stillstehen; er musste sich etwas bewegen. Er wusste aber auch, dass er es für gewöhnlich niemals in Erwägung ziehen würde, die Gruppe kurz zu verlassen. Seit dem Ausbruch hatte er oft genug gesehen, wie Fehler begangen wurden und er wollte keinem dieser Beispiele folgen.

Er nahm die Flinte aus der Ecke und ging durch die Tür, die er leise hinter sich schloss.

Die Stille, welche die Schule erfüllte, war unheimlich. Sie bedeutete, dass er hier in Sicherheit war. Er wusste, dass er keine verschlossenen Türen unvorbereitet öffnen sollte – Gott segne dich, Jared –, und mit diesem Wissen war alles gut für ihn.

Er schlenderte leise den Gang entlang, die Remington bereit, für den Notfall. Als er eine T-Kreuzung erreichte, wählte er den Weg nach links. Warum er diese Richtung wählte, konnte er nicht sagen.

Zur Zeit des Ausbruchs musste wohl eine Art Schulaufführung geplant gewesen sein; überall hingen Plakate: wunderschöne Zeichnungen von Elfen und großen grünen Burgen. Es kostete Terry etwas Zeit, um herauszufinden, dass es keine Elfen, sondern Mönche waren. Sie inszenierten Der Zauberer von Oz, und die Aufführung hätte am 28. Oktober 2011 stattfinden sollten, eine Woche nach dem höllischen Ausbruch in der Jackson State Justizanstalt.

Das Stück wurde nie aufgeführt, dachte Terry. Die armen Kinder hatten nie die Chance bekommen, sich zu verkleiden und es aufzuführen. Die stolzen Eltern hätten vermutlich gespannt auf die fabelhafte Darstellung eines Mönches oder eines fliegenden Affen gewartet, nur um festzustellen, dass der letzte Akt bereits vorbei war.

Terry ging weiter, ignorierte die anderen Plakate. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war weiteres Elend, und über die armen Kinder nachzudenken – selbst über diejenigen, die an Jared genagt hatten – war unerträglich.

Er stieß die Tür am Ende des Ganges auf und sah, dass es noch immer schneite. Er starrte hinaus in die Nacht, dabei fiel ihm auf, dass er den Hintereingang des Gebäudes erreicht hatte. Zum Glück, da die Tür weit offen stand. Eine unbestimmte Menge Untoter konnte einfach so hier hereinkommen; er war dankbar, dass dort keine waren.

Der Schneefall hatte etwas abgenommen, aber schneite immer noch stark und häufte sich auf die bereits vorhandene Schicht. Morgen würde es ein Albtraum werden. Sie hatten immer noch 60 Kilometer vor sich. Terry ging hinaus, unter seinen Schuhen knirschte es, als würde er über Krabben gehen. Er ging einen weiteren Schritt, noch einen und dann sah er etwas, was seine Stimmung deutlich anhob.

Einen Schulbus.

Groß, gelb, zuverlässig, die Räder größer als die des Snatch; Terry war sich nicht ganz sicher, ob er wachte oder träumte.

Er ging zum Bus, überprüfte ihn auf Schäden, die ihn womöglich unbrauchbar machten. Zufrieden trat er zurück und warf ihm einen weiteren flüchtigen Blick zu. Was für ein Glücksfall und ein Zeichen des Herrn, dass sie Jackson am nächsten Tag erreichen sollten.

Terry lächelte.

Nicht alles war beschissen.

»Beweg dich, alter Mann, und ich stell sicher, dass du die Kugel kauen wirst, bevor du sie schlucken kannst«, sagte eine Stimme.

Terry senkte seine Schrotflinte und hob langsam seine Hände.

Er starte in den Himmel. Zuerst gibst du und dann nimmst du es fort.

Die Wege des Herrn sind unergründlich.


***

Victor Lord konnte sein Glück nicht fassen. Konnten die Chancen, sie aufzuspüren wirklich so hoch stehen? Obwohl ein Großteil dem neugierigen Ex-Sträfling zu verdanken war, weil der beschlossen hatte, einen Nachtspaziergang zu machen.

»Also, hast du einfach beschlossen, dich auf die Suche nach der Familie dieses Arschlochs zu begeben? Du hast mein Eigentum gestohlen und es zerstört. Hast du eigentlich den leisesten Schimmer, was du angerichtet hast?«

Terry schüttelte seinen Kopf. »Wir wollten nur ein paar Tage wegbleiben«, sagte er. Es schneite wieder stärker. Er starrte auf den Schulbus und begann sich zu fragen, ob er immer noch brauchbar sein würde. »Es war ein Hirsch«, fing er an. »Scheiße, er kam aus dem Nichts.«

Moon zuckte bei der Erwähnung zusammen. Es musste wohl dasselbe Tier gewesen sein, das Randalls Kopf abgerissen hatte und anschließend durch den Schnee raste, während selbiger aus seinem Maul baumelte.

»Ich gebe einen Scheiß darauf, selbst wenn es Aliens waren«, schnappte Victor. »Das Fahrzeug war mehr wert, als all ihr Idioten zusammen und es ist verflucht sicher, dass es auch mehr wert war als eine verdammte Frau und ein Kind, die sich vermutlich sowieso schon verwandelt haben.«

Terry hatte keine Antwort parat; selbst wenn er eine gehabt hätte, es war zu kalt, um weiter ins Detail zu gehen. Er biss sich auf die Unterlippe, ein Versuch, das Zähneklappern zu unterbinden. Alles, was er tun konnte, war, mit eiskalten Füßen herumzustehen. Der Captain und seine Schergen waren für dieses Wetter gut ausgerüstet; ihre langen, gepolsterten Mäntel hielten sie warm, und sie trugen Handschuhe, die dicker als Terrys Jacke waren.

»Gut, es war ein Fehler«, brachte Terry schließlich heraus. Er wollte gerade seine Hände senken, als er den Lauf einer Waffe an seinem Ohr spürte. »Verstehen Sie doch, ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Wir dachten, wir würden auch ein paar Lebensmittel auftreiben, während wir unterwegs sind, verstehen Sie, Medizin und Nahrung. Wenn wir gewusst hätten, wie viel Scheiße wir da –«

»Du hast keine Ahnung, was du für eine Scheiße angerichtet hast«, höhnte es von Victors Seite her, was nur bedeuten konnte, dass der massige Idiot, David Moon, der Besitzer der Waffe war. Terry fühlte sich dabei keineswegs besser und plötzlich entwickelte er das Bedürfnis, eine Toilette aufzusuchen.

»Und jetzt?«, fragte Terry, er sprang von einem Bein auf das andere; dabei knirschte der Schnee, aber die Kälte weichte bereits seine Socken ein und er musste tanzen, auch wenn ihm das in Anbetracht der Umstände gar nicht lieb war. Terry hatte angenommen, dass der Captain ihn aufgrund seines idiotischen Rettungsversuches niedermachen, sich anschließend Shane und Marla schnappen und mit ihnen zurück zum Helikopter gehen würde, der hier irgendwo sein musste; Victor wäre doch kaum ohne ihn unterwegs.

»Bring mich zu ihnen«, sagte Victor. Er ging herum, aber Terry konnte sein Gesicht immer noch nicht sehen, seit die beiden aus dem Nichts gekommen waren. »Ich muss mit dem Arsch das eine oder andere Wort wechseln, bevor ich dem Ganzen ein Ende setze.«

Terry dachte zuerst, er hätte sich verhört. Natürlich hatte er das; eine Morddrohung vom Captain war nichts Außergewöhnliches, oder doch?

»Entschuldigen Sie?«, fragte Terry und versuchte wieder, seine Arme zu senken. Da klopfte ihm der eiskalte Lauf an den Hinterkopf und müde hob er sie wieder.

»Du hast ihn gehört«, sagte Moon, als er mit dem Lauf gegen Terrys Ohr stieß. »Also, ich denke, du solltest dich bewegen. Wenn der Abzug einfriert, kann ich für nichts garantieren.«

Aus dem Schulbus wurde nichts anderes als ein Wunschtraum. Eine Oase, die nun endgültig verschwand.

Terry konnte kaum atmen; die Erkenntnis, dass der Tod keine Minute mehr entfernt war, konnte einen Mann einfach nur dazu bringen, es als Ironie des Schicksals anzusehen.

Er deutete auf die Tür, die in die Schule führte. »Wir hatten uns entschieden, die Nacht hier zu verbringen«, sagte er. »Hatten nicht viel Sinn darin gesehen, bei dieser Scheiße weiterzumachen.« Er deutete halbherzig gen Himmel. »Ich bin zufällig auf den Bus gestoßen, andernfalls bin ich mir sicher, dass Shane in der Nacht weitergezogen wäre.«

»Nun«, sagte Victor irgendwo aus den Schatten. »Können wir uns nicht glücklich schätzen, dass wir dich bei der Überlegung, wie ihr weiterkommen solltet, hier draußen gefunden haben? Wir wären niemals länger geblieben.«

Terry traf die Drohung hart, er wollte sich am liebsten selbst eine verpassen. Der Captain hatte recht; sie hätten vorher nachsehen sollen. Wie auch immer, es war schon schwer genug, die Moral zu heben – und den Mut –, wenn man gerade einen seiner Freunde durch Kinderhände hatte sterben sehen. Kinder, die gerade mal aus dem Alter raus waren, ins Bett zu machen. Terry machte sich nicht die Mühe, das zu erwähnen. Warum sollte er Victor Lord noch mehr Zündstoff geben, als er bereits hatte.

Was schon eine Menge war.

»Hinein«, befahl Victor, sein Mantel raschelte, als er seinen Arm hob und auf die Tür deutete. »Führe uns zu ihnen.«

Terry nickte mürrisch. Er würde Victor hinführen, und dann? Er bekam mit, was er gesagt hatte, und das war noch beschönigt. Sie würden sterben, vielleicht noch nebeneinanderliegend. Terry war danach dran, sein Gewissen schmutziger als das eines Meth-Dealers. War es so, wie es ablaufen sollte? War es das, was der Herr für Terry Lewis‘ Schicksal wollte?

Terry knirschte durch den Schnee, langsam ging er durch die offene Tür, die ihn schließlich zur letzten Ruhestatt führen sollte.

»Und versuch ja nichts«, sagte Victor. »Oder du wirst mehr leiden, als du musst.«

Danke, dachte Terry. Du bist der beste Vollstrecker, den man sich wünschen kann.

Die drei Männer betraten das Gebäude; Victor blieb hinten und zog die Tür zu. Warum die Kälte hereinlassen, noch dazu, wenn alle vorgehabt hatten, die Nacht hier zu verbringen. Obwohl einige von ihnen bald etwas weniger atmen würden als die anderen, aber dennoch …

»Nur dort entlang«, meinte Terry und deutete mit seinem Finger verschwörerisch den Gang entlang. »Ich nehme nicht an, dass ihr mich jetzt entschuldigen würdet?«

Moon lachte; Victor nicht.

»Glaubst du ernsthaft, dass du dich hier herauswinden kannst?«, fragte der Captain. Für den kurzen Satz, den er gerade ausgesprochen hatte, schien jedes Wort eine Ewigkeit lang nachzuhallen. »Du hast dir dein Bett gerichtet, hineingeschissen und darin wirst du auch liegen.«

Terry hatte diesen Spruch noch nie so gehört, aber es war eine treffende Beschreibung für die Schwierigkeiten, in denen er steckte.

Dann sagte Victor etwas, das weder Terry noch Moon erwartet hatten. »Ich sag dir mal was, alter Junge. Du übergibst mir Shane und die Ärztin, und ich lass dich und den anderen am Leben. Du kannst mit uns zurück zu der Kaserne. Wie klingt das für dich?«

Terry war sprachlos; dies war die Art von Angebot, das man nur einmal bekam. Der andere – Jared – würde es nicht mehr zurück zu der Kaserne machen, nicht wenn sie ihn nicht mit einem Mopp und Eimer zusammenwischen würden, und Terry wusste, dass er Shane und Marla nicht dermaßen verraten durfte.

»Klingt, als hätten wir einen Deal«, log Terry. Auch wenn er es nicht so meinte, spürte er Reue, als die Worte seine Lippen verließen.

Terry führte Victor und den Schergen, der gerne abdrücken würde, den Gang entlang. Weg von dem Raum, in dem Shane und Marla schliefen. Er wusste nicht, wo dieser endete, oder was er tun sollte, wenn er dort ankam, aber fürs Erste war es das, was er tun konnte. Er war nicht in der Lage, mit dem einen oder dem anderen fertig zu werden, und selbst wenn er versuchen sollte, an Moons Waffe heranzukommen, standen die Chancen gut, dass er an der Wand verteilt enden würde.

Als die Luft sich spürbar veränderte – es war fast so, als hatte sie sich verdickt und erschwerte einem das Atmen –, hoffte Terry, dass er seinen Glauben zur rechten Zeit wiedererlangen konnte. Er hatte so lange darauf verzichtet, vielleicht hatte Gott ihn deswegen verlassen. Vielleicht, und dies war der Teil, der ihn am meisten ängstigte, machte es gar keinen Unterschied, ob er an etwas glaubte oder auch nicht. Was, wenn er sterben würde, unabhängig davon? Was, wenn all die Jahre als Padre vergeudet wären und da wäre nichts als Dunkelheit und ewiger Schlaf?

Während diese Gedanken ihn gnadenlos überfielen, musste er gegen den Drang ankämpfen, Victor den wahren Platz von Shane und der Ärztin zu verraten. Dies gelang ihm mit dem wenigen Vertrauen, das er noch hatte. Und so ging er durch den Flur, sein Herz raste, sodass er nichts anderes hören konnte.

Als sie den nächsten Durchgang erreichten, wusste er: genug ist genug; er könnte sie die ganze Nacht lang auf seiner beschissenen Glaubensreise herumführen, aber das schien dem Endprodukt keinen Abbruch zu tun.

Er stand kurz davor zu sterben.

Er zögerte damit bloß das Unvermeidliche hinaus.

»Sie sind dort«, sagte Terry und deutete auf eine Tür, die irgendwohin führen könnte. »Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie es schnell machen, während sie schlafen.«

»Tut mir leid«, sagte Victor in einem Tonfall, der überhaupt nicht danach klang. »Ich muss mich mit diesem Narren unterhalten, bevor Moon ihn umlegen wird.«

»So sei es«, sagte Terry. Die Reaktion des Captains hatte nichts geändert. »Kann ich hierbleiben? Ich möchte nicht, dass sie wissen, dass ich Sie hierher geführt habe.«

Victor seufzte, blickte seinen Kollegen an, der nervös von einem Bein auf das andere trat. Als er sich wieder an Terry wandte, war ein leichter Hauch von Mitleid in seinen Augen zu sehen, sehr schwach, fast nicht vorhanden, aber er war da.

»Okay«, flüsterte er. »Aber versuch ja nichts oder ich werde dich töten, zusammen mit ihnen, verstanden?«

Sie öffneten die Tür und betraten die Dunkelheit.

Terry schloss seine Augen und betete leise.


***

Der Raum war eine Art Theater mit Sitzen von vorne bis ganz nach hinten. Ganz vorne befand sich eine Bühne, die sich einen guten Meter über den Boden erhob. Seitlich führten zwei kleine hölzerne Stufen nach oben. Die Vorhänge waren zugezogen, aber irgendwo musste ein Fenster offen sein, da sie im Wind flatterten.

Victor signalisierte Moon: Leise bewegen. Es war etwas schwierig für einen Mann seiner Statur, leise zu sein, nichts zu berühren oder irgendwo gegenzutreten, da er sofort erschossen werden könnte.

Hinter ihnen klickte die Tür zu. Beide drehten sich um, wussten nicht, was sie zu erwarten hatten, doch als sie bemerkten, dass es nur die Tür war, überkam sie Erleichterung.

Der Boden war nass, irgendwo musste wohl ein Loch im Dach sein, oder vielleicht war eine Wasserleitung geplatzt und diese überschwemmte alles.

Und dann erkannte er, dass es kein Wasser war.

Blut. Genug, um bei jedem ihrer Schritte kleine Wellen zu schlagen.

Der Gang war breit genug für drei, vielleicht auch vier Leute, wie Victor erleichtert feststellte; es offenbarte die Chance, dass der Oger, der ihn begleitete, keinen Stuhl umwerfen und somit die Deserteure von ihrer Anwesenheit in Kenntnis setzen würde.

An Victors Rücken hing Terrys Flinte, was für die Situation etwas zu unvorsichtig schien. Er zog sie hervor und entsicherte sie leise. Es war fast sinnlos, so unvorbereitet weiterzugehen, und er hatte vergessen den Alten zu fragen, ob Shane bewaffnet war.

Der Wind heulte wie ein geflohener Irrer. Irgendwo im Saal klapperte ein Fenster im Rahmen. Die Vorhänge tanzten kurz auf der Bühne, bevor sie sich einen Spalt öffneten.

Durch diesen konnte Victor eine Bewegung ausmachen.

Sie waren definitiv dort hinten, versteckten sich hinter dem Stoff wie viel zu neugierige Nachbarn. Im Raum war es dunkel, aber das Mondlicht bot genügend Licht, um ihnen zu versichern, dass der Alte sie in die richtige Richtung geführt hatte.

Als sie das Ende der Reihen erreichten, deutete Victor nach links; dorthin, wo er Moon sehen wollte. Er selbst würde die rechte Seite übernehmen.

Der Soldat nickte und ging hinüber. Dort angekommen, ließ er sich vor dem Vorhang nieder und brachte seine Waffe in Position, direkt unter seine Wange. Er beobachtete, wie der Captain sich entfernte, erkannte aber noch ein dünnes Lächeln auf dessen Lippen.

David Moon hatte sehr wenig vom Krieg gesehen; abgesehen von einem Kurzausflug in den Irak, aber diese Tour hatte nur zur Friedenserhaltung und nicht für Böses stattgefunden. Das hier brachte sein Herz zum Rasen, so schnell, dass er dachte, er würde sich vollpissen.

Victor stieg langsam auf die Bühne, für einen älteren Kerl bewegte er sich immer noch ziemlich geschmeidig. Moon hatte eigentlich erwartet, Knochen knacken zu hören, oder etwas in der Art.

Der Captain holte langsam Luft, bevor er den Vorhang aufzog. Mit erhobener Schrotflinte, bereit zum Abfeuern, schrie er aus vollen Lungen: »IHR SCHEISSKERLE HABT DEM VERFLUCHT FALSCHEN TYPEN DEN VERFLUCHTEN JEEEEEP GESTOHLEN!«

Auf der anderen Seite der Bühne, den Vorhang brutal aufreißend, preschte David Moon vorwärts, gleich mehrere Ausdrücke auf einmal in seinem Gesicht: Wut, Hass, Aufregung … und Angst.

Er geriet einem Moment aus dem Gleichgewicht, als er realisierte, wo hinein er sich aus tiefstem Herzen selbst katapultiert hatte.

Der Arsch und die Ärztin waren nirgendwo auf der Bühne zu sehen.

Stattdessen waren da Kinder, in verschiedenen Kostümen, und eines war sofort klar:

Sie waren hungrig.

»Was zum Te–«, brachte Victor hervor, als ein knapp ein Meter großer, als Löwe verkleideter Untoter auf ihn zukam. Das Ganze wirkte so unrealistisch, dass Victor ihn nicht wegpustete; er war zu hypnotisiert von dem seltsamen Anblick.

Zu dem Löwen gesellte sich noch ein weiterer, dieser trug einen silbernen Hut aus Alufolie. Schwarzer Schleim hing ihnen in Fäden von den Lippen, als sie vorwärts schlurften, und endlich war Victor wieder Herr seiner Sinne.

Gerade noch rechtzeitig.

Er betätigte den Abzug und der Schuss riss die Hälfte des Gesichts des kleinen Mannes mit sich. Er wirbelte nach hinten, die Kraft des Schusses reichte aus, um ihn ein paar Schritte zurückzuschleudern.

Der Löwe kam weiter auf ihn zu, knurrend, sabbernd und schreiend.

Moon war immer noch fassungslos, er wollte nicht wahrhaben, was da soeben vor sich ging. Was ein einfacher Zugriff hätte sein sollen, entwickelte sich zum schlimmsten Albtraum, und nun stand er vor einer Armee Mini-Untoter in albernen Kostümen. Vor den Kreaturen stand ein Mädchen – zumindest war es dem Geschlecht nach einmal eines gewesen –, welches ein blau-weißes Kleid trug. Ihre Haare waren zu einem unschuldigen Zopf zusammengebunden, aber sie schlurfte auf ihn zu und er wusste, dass sie alles andere als unschuldig war.

Er feuerte zweimal, streckte damit zwei Mönche nieder, die das Mädchen flankierten. Der dritte und vierte Schuss trafen das Mädchen, zerrissen ihr Kleid und schleuderten sie einige Meter nach hinten, aber das reichte nicht aus, denn sie kam erneut auf ihn zu.

Das meiste ihrer Wange fehlte und Moon konnte ihre Zähne klappern sehen, darunter wabbelte Haut. Er wollte gerade seinen letzten Schuss abfeuern, als etwas an seinem Knöchel zog. Der Schmerz war so stark, und er war zu verängstigt, den Grund dafür herauszufinden. Er schoss, und dem oder der Untoten im blauen Kleid – Dorothy? – blieb keine Zeit auszuweichen, ihr Kopf explodierte und an dessen Stelle entstand ein blutiger Geysir.

Er trat mit einem Bein um sich, das, welches nicht wie die Hölle schmerzte, und traf auf etwas Hartes. Schließlich sah er doch nach unten und erblickte einen Mini-Untoten, der gerade zu einem weiteren Biss ansetzen wollte. Das Ding hatte eine Strohspur hinterlassen und Moon konnte erkennen, dass es als Vogelscheuche verkleidet war.

Wie seltsam, dachte er, als er mit seinem Fuß auf den Schädel stieg. Es war ein fleischiges Geräusch zu hören und die Kreatur sackte zusammen.

Durch das klaffende Loch in seinem Bein konnte Moon den Knochen sehen, der hervorblitzte, weshalb er sich übergeben hätte, wäre etwas in seinem Magen gewesen, das er hätte hochwürgen können.

Er warf einen Blick auf Victor Lord und wusste, dass der Captain in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Da waren sechs von den kleinen Bastarden, die auf ihn zu krochen und versuchten, ein ordentliches Stück von seinem Fleisch zu bekommen. Victor zappelte und versuchte sie irgendwie loszuwerden, damit er an seine Flinte herankam, welche irgendwie nutzlos ein paar Schritte entfernt auf der Bühne lag. Er schrie auf, als eine kleine Hexe sich in seiner Kehle verbiss, und dann gurgelte er, als sie wild an seinem Fleisch zerrte. Der Rest der Horde war aus irgendeinem Grund wie geflügelte Affen gekleidet, und diese fanden sogleich saftiges Fleisch und machten sich über den noch lebenden Victor Lord her.

Moon wusste, dass er fliehen musste, er trat probehalber mit seinem verletzten Bein auf. Der brennende Schmerz reichte aus, um weiße Flecken vor seinen Augen tanzen zu lassen. Es gab keine Chance, rennen zu können, dank einer verfluchten Vogelscheuche.

Er drehte sich um und ließ sich von der Bühne fallen, versuchte irgendwie, seine Waffe festzuhalten. Er landete irgendwo zwischen der dritten und der vierten Reihe – krachte in die Stühle –, und versuchte dort auf die Beine zu kommen, aber der blutverschmierte Boden war einfach zu rutschig, und so landete er mit dem Gesicht voran auf dem Boden.

Er hob seinen Kopf und sah durch den Schmerz und all das klebrige Blut an seinen Augenbrauen einen Schatten am hinteren Ende des Saals.

Terry.

Er hob seine Hand und deutete dem Mann, ihm zur Hilfe zu kommen, doch der bewegte sich nicht.

»Hilf mir, du Arschloch!«, schrie Moon, der dabei war, sich irgendwie an den Plastikstühlen hochzuziehen. Die fielen mit ihm zusammen auf den Boden zurück.

Der Mann am Ende des Raumes bekreuzigte sich und eilte zur Tür.

»Komm zurück!«, schrie Moon. »Verflucht noch mal, komm her oder ich werde –«

Was folgte, war noch mehr Schmerz. Er spürte etwas auf seinem Rücken, das Gewicht zwang ihn nach unten, selbst sein Kopf wurde nach unten ins Blut gedrückt. Er schaffte es, sich herumzurollen und starrte in die Augen eines Zauberers.

Der wundervolle Zauberer von Oz …

Die Kreatur biss wild um sich und riss Moon die Nase aus dem Gesicht.

Moon schrie, als die fliegenden Affen sich den Rest von ihm schnappten.