SIEBZEHN
Colburn führte die alte Frau zu einem abgelegenen Teil des Lagers. Als sie von ihm wissen wollte, wohin sie unterwegs waren, erklärte er ihr schlicht, dass es nicht seine Angelegenheit sei, und dass Victor Lord um ihre Anwesenheit gebeten hätte. Die Frau schien ihm das abzukaufen – sie hatte erwartet, dass der Captain sie irgendwann herzitieren würde, obwohl sie eigentlich davon ausgegangen war, dass er bereits auf der Suche nach dem teuren Fahrzeug war.
»Scheint wohl keine Menschen zu mögen, was?«, fragte die Frau und zündete sich eine Zigarette an.
Colburn blieb stehen. »Was?«
Sie inhalierte noch einmal kräftig, bevor sie zu sprechen anfing. »Er wohnt ja ziemlich weit entfernt vom Rest, also wird er uns nicht gerade sehr mögen.«
Colburn öffnete seinen Mund, als ihm bewusst wurde, was die alte Hündin wollte. »Nun, ihm gefällt es, wenn alles tipptopp ist und reibungslos abläuft.«
»Möchte sich wohl nicht von einer Erkältung, die sich womöglich einer von uns eingefangen hat, anstecken lassen.«
»Nein«, antwortete Colburn irritiert. »Wollen wir alle nicht.«
Er führte sie ein paar Treppen nach oben, und wenn er ganz ehrlich zu sich war, hatte er keinen blassen Schimmer, wie er das zu Ende bringen sollte. Er hoffte nur, dass sie ihm nicht draufkam, bevor er eine Chance dazu hatte.
»Warum befolgen Sie eigentlich seine Befehle?«, wollte die Frau von ihm wissen. »Es gibt hier weder das beschissene Gesetz noch das verfluchte Militär.«
Colburn biss sich auf die Lippen; das war alles, was er tun konnte, anstatt sich umzudrehen und ihr einen Tritt die Stufen hinab zu verpassen.
»Ma’am, ich tue das, was mir aufgetragen wird, weil diese ganze Scheiße hier eines Tages zu einem Ende kommen wird. Wenn es soweit ist, möchte ich der Erste sein, der befördert wird.«
Die Frau lachte. Ihr war nicht bewusst, wie verflucht nahe sie der Kugel in ihrer Stirn war. »Denken Sie wirklich, dass Sie nach all dem irgendwie geehrt werden … vergessen Sie’s. Sie sind ja wirklich dümmer als Sie aussehen.«
Atme, Henry, aaaaaattmmeeee …
Sie erreichten die oberen Stufen und Colburn bog rechts ab. Es schien die bessere Wahl zu sein, denn er wusste nicht, ob die Tür links unverschlossen war. Es hätte sicherlich das Blatt gewendet, wenn er versucht hätte, den Türknauf zu drehen, nur um dann herauszufinden, dass das Zimmer nicht zu betreten war.
Am Ende des Ganges war eine T-Kreuzung. Colburn ging nach links, wieder hoffte er, dass ihn seine Unwissenheit über diese Gänge nicht verraten würde.
Eigentlich spielte es keine Rolle mehr; sie waren weit genug von den anderen entfernt, und er konnte sein Vorhaben auch schon hier durchführen.
»Denken Sie, dass dieser Arsch von Victor Sie für irgendeine Beförderung vorschlägt, sollte es gelingen, diesen seltsamen Virus irgendwie zu stoppen?«, fragte ihn die alte Frau. »Dieser Mann ist herzlos, ich denke nicht –«
Eine Hand packte sie an der Kehle. Henry Colburn war so schnell – erwischte sie mittendrin –, dass ihr die Worte mitten im Satz abgeschnitten wurden.
»Du verdammte Schlampe!«, zischte er, während er fester zudrückte und hoffte, dass ihr keine Zeit mehr blieb, tief durchzuatmen. »Stirb … verflucht noch mal … stirb!«
Sie fiel auf ihre Knie, ihre Augen drohten aus den Höhlen zu treten. Zuerst lief sie dunkel an und kurz vor dem Ersticken wurde sie lila.
Colburn konnte ihr dabei nicht ins Gesicht sehen; er schloss seine Augen und wünschte sich, dass sie endlich mit diesen gurgelnden Lauten aufhören würde.
Ihre kalten, knochigen Hände versuchten die seinen von ihrem Hals zu lösen, aber sie war zu alt und zu kraftlos. Jeden Moment würde sie erschlaffen und das würde es dann sein. Er drückte zu, so fest er konnte, hoffend, dass sie dann endgültig umfiel, denn er glaubte nicht, dass er noch mehr davon ertragen könnte.
Aber dann taumelte er nach hinten, vollkommen überrumpelt. Alles war verschwommen, ein plötzliches stechendes Gefühl machte sich in seinem Gesicht breit. Seine Nase fühlte sich an, als wurde sie komplett entfernt, obwohl ihm mit Sicherheit sein Verstand gerade einen Streich spielte.
Er war nun auf seinen Knien, sackte immer weiter zusammen. Als sich der Nebel allmählich lichtete, konnte er wieder normal sehen. Doch da war es zu spät. Der Feuerlöscher erwischte ihn voll, dann nochmals, direkt über seinem rechten Auge.
Das Letzte, was er sah, bevor die Dunkelheit eintrat, war ein kleines Mädchen mit einer uralt aussehenden Puppe.
***
»Ich habe es dir ja gesagt, Mommy! Ich wusste ja, dass der Mann ihr wehtun würde.«
»Ja, das hast du«, sagte Susie und versuchte Maggie Cox auf die Beine zu helfen. »Und es tut mir leid, dass ich dir nicht zugehört habe.«
Kelly lächelte süffisant. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sich entschuldigte, dabei hatte diese schon so oft falsch gelegen.
»Ist sie okay?«, fragte Kelly, die Jezebel vor ihrer Brust umklammerte. »Wenn sie stirbt, Mummy, dann muss ich weinen.«
Obwohl der Körper der alten Dame so hager aussah, war er schwer. Vielleicht lag es an den Knochen, die bis an die Oberfläche der Haut ragten, und Susie wollte ihr nicht mehr wehtun, als sie es bereits tat.
Ihr gelang es, Maggie über den Gang zu wuchten und sie gegen eine Wand zu lehnen. Sie war bei Bewusstsein, hatte aber stark mit ihrer Atmung zu kämpfen. Scheiße, wer weiß, was passiert wäre, wenn sie einige Sekunden später aufgetaucht wären. Nun, Susie war klar, dass die alte Frau dann tot wäre, zweifellos, aber sie hatte sie ja vorsichtig verfolgt, darauf geachtet, dass sie ihnen nicht zu nahe kam; sie wollte weder das Leben ihrer Tochter noch ihr eigenes in Gefahr bringen.
»Der böse Mann wollte sie erwürgen«, sagte Kelly und trat einen Schritt auf Henry Colburn zu.
»Geh weg von ihm!«, rief Susie. »Der böse Mann schläft nur ein wenig. Ich möchte nicht, dass du in seiner Nähe bist, wenn er aufwacht.«
Kelly grinste. »Er schläft nicht, Mommy. Du hast ihm mit dem Feuerlöscher auf den Kopf geschlagen. Du hast ihn richtig erwischt.«
»Gut«, sagte Susie und rieb Maggie Cox seitlich über das Gesicht, sie versuchte, sie zu beruhigen. »Wie auch immer, komm ihm bloß nicht zu nahe.«
Kelly fuhr mit ihren Fingern durch die Haare ihrer Puppe und näherte sich dabei der atemlosen alten Frau.
»Geht’s Ihnen gut?«, fragte Kelly.
Maggie starrte das kleine Mädchen verwirrt an, dann deren Mutter. Als sie die Kleine wieder ansah, zählte sie zwei und zwei zusammen.
»Dieser verdammte Hundesohn wollte mich erwürgen!«, keuchte sie, als sie die regungslose Gestalt von Colburn mitten im Gang liegen sah. »Er wollte mich umbringen … versuchte … ich …«
»Bleiben Sie ruhig«, sagte Susie, die ihr kleines Mädchen etwas näher zu sich heranwinkte, damit sie sich etwas weiter von dem bewusstlosen Psychopathensoldaten entfernte. »Alles wird wieder gut.«
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Maggie Cox, mit einer Hand rieb sie sich über den Hals.
Susie Bloom hatte zum ersten Mal in ihrem Leben keine Antwort parat.
***
Zu Abend aß sie Biskuits und spülte diese mit irgendeinem apfelsaftähnlichen Zeug hinunter. Es war womöglich das beste Mahl, das sie je gehabt hatte – zumindest fühlte es sich so an. Nach einem etwa einstündigen Rundgang durch das Museum – es war großartig; sie wusste gar nicht, dass Geschichte sie so begeistern konnte –, begab sie sich zurück in den Dinosauriersaal, dorthin, wo sie ihren Rucksack zurückgelassen hatte. Ihre Machete war jedoch immer bei ihr, obwohl sie hier sicher sein sollte, aber sie war nicht dumm. Wenn es etwas gab, das sie seit dem Ausbruch gelernt hatte, dann, das Nachlässigkeit als anderes Wort für »Nahrung« diente.
Draußen heulte der Wind, was sie ein wenig entnervte. Zuerst vermutete sie Kreaturen; die neigten dazu, sich gegenseitig anzustöhnen, wenn man es so sagen konnte. Kaum hatte sich die Gänsehaut in ihrem Nacken gelegt, begann sie, mit sich selbst zu reden. Sprechen fühlte sich gut an; sie hatte den Klang ihrer eigenen Stimme beinahe vergessen und als das erste Wort über ihre Lippen kam, dachte sie, es sei die Stimme von jemand anderem.
Jemand Älterem.
Im Saal war es warm, ein Kronleuchter spendete ein wenig Licht, welches über einen Dimmschalter an der östlichen Wand reguliert werden konnte. Sie hielt das Licht absichtlich dunkler; es machte sehr wenig Sinn, ihre Anwesenheit gleich kundzutun. Sie war weit genug von der Hauptstraße entfernt, somit zog sie keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich, aber wie immer galt: keine Gewähr.
Mit ihrem vollen Bauch, in dem eine Mischung aus Schokobiskuits und Soda steckte, ließ sie sich mit einigen Broschüren, die sie sich beschafft hatte, nieder.
Als sie in die Geschichte des Schwarzen Todes eintauchte, spürte sie, dass etwas vor sich ging.
Etwas abscheulich Grauenhaftes.
Hätte sie geahnt, wie grauenhaft, während sie sich mit der zerschlissenen Broschüre auf ihrem Schoß und ihrem schmerzenden Bauch niederließ, hätte sie sich schneller bewegt. Wie es schien, blieb ihr nur wenig Zeit etwas gegen den drohenden Horror zu unternehmen.
Der Wind nahm etwas zu. Einen Moment lang klapperten die Fenster in ihren Rahmen so stark, dass sie dachte, sie würden gleich zerbersten und in einem Scherbenregen herabrieseln, dem der schreckliche Schnee folgte.
Der heulende Wind war eine Sache, aber sie war sich sicher, dass ein Stöhnen darin mitschwang.
Und sie lag damit richtig. Ein paar Sekunden später war es wieder zu hören; ein tiefer, kehliger Laut, der nur eines bedeuten konnte.
Sie kam auf die Beine, die Biskuits waren halb verdaut und drohten ihre Kehle hochzukommen, aber sie schaffte es, sie unten zu behalten. Panisch griff sie nach hinten auf ihren Rücken zu ihrer Machete. Sie schwang sie durch die Luft – wusch … wusch –, wie ein Baseball-Profi, der auf den Ball wartete, um den möglichen Treffer für einen Home-Run oder Strike zu ermöglichen.
Das Stöhnen tauchte wieder auf, diesmal näher. Aus dem Gang vielleicht. Vor der Tür.
Sie wusste, dass sie am Arsch war. Durch den Saal blickend, suchten ihre Augen nach einer Möglichkeit, sich zu verstecken.
Wenn es nur eines von den Dingern war, würde sie damit fertig werden. Das Problem bestand darin, dass sie nicht alleine unterwegs waren. Wenn es einer war, würde ein weiterer dabei sein, vielleicht auch eine ganze Horde. Die Chancen, dass sie es lebend aus dem Saal schaffte, standen gleich null.
Darüber wollte sie gar nicht erst nachdenken.
Sie rannte durch den Raum, stolperte dabei fast über einen unechten Säbelzahntiger-Teppich.
Die Kreatur stöhnte wieder und dieses Mal folgte eine Antwort. Eine weibliche … eine weitere Kreatur, wodurch ihre Überlebenschance sank.
Dort war eine Tür, eine, die man am silbernen Längsgriff aufstoßen musste. In roten Lettern stand darüber: PERSONAL - ZUTRITT VERBOTEN.
Im weitesten Sinn war sie der letzte Mitarbeiter hier; sie war bereits lange genug hier, um sich selbst als vollständigen Mitarbeiter betrachten zu können.
Sie schob die Tür auf und schlüpfte in die Dunkelheit. Da stand ein Speicherschrank oder etwas in der Art. Sie spürte die langen Griffe hinter sich, die sie wie Skelettfinger zu begrapschen schienen. Es waren natürlich Mopps, Besen und andere Reinigungsgegenstände, von denen sie keine Ahnung hatte. Sie stieß gegen etwas und hörte Wasser schwappen. Wer zuletzt aufgewischt hatte, musste wohl vergessen haben, den Eimer zu leeren.
Ich könnte davon trinken, dachte sie, aber schnell verbannte sie den Gedanken, den sie gar nicht denken wollte, aus ihrem Kopf.
Sie zog die Tür zu – klick –, da hörte sie die Haupttür in den Dinosauriersaal aufgehen, gefolgt von einer höllischen Konversation, die nur den Kreaturen zugeordnet werden konnte. Sie schloss ihre Augen; ein Versuch sich irgendwo anders hinzuwünschen – irgendwo –, aber es war zu schwer, einen schönen Ort zu finden, mit diesen Kreaturen, die nur einige Schritte entfernt waren, und die ihr bisschen Glück, welches sie bis vor kurzem noch hatte, zerstörten.
Passierte das gerade wirklich?
Sie war sich unsicher. Es fühlte sich wie ein Traum an, wie einer dieser schlechten Albträume, die sie durchlebt hatte, bevor einige Monate später dieser Virus jeden mit sich genommen hatte.
Dieser jedoch war real; natürlich war er das. Das Leben, die Realität, alles war jetzt ein riesiger Albtraum. Durch nichts ließen sich die wachen Stunden von denen im Albtraum unterscheiden.
Sie schluckte trocken, fühlte das Soda in ihrem Magen sprudeln, und hoffte, dass sie es bei sich behalten konnte.
Was alles noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass sie die Dinger aufgrund des fehlenden Schlüssellochs in der Tür nicht sehen konnte. Hören konnte sie sie gut – oh ja, sie konnte sie gut hören –, aber nicht zu wissen, wo sie genau waren, verursachte ihr nach und nach immer mehr Unbehagen.
Die Weibliche – sie nahm an, dass die Kreatur weiblich war – schrie, bevor ein ohrenbetäubender Krach folgte. Sie hoffte, dass die Kreatur sich irgendwie selbst den Kopf abgetrennt hatte, vielleicht hatte sie sich selbst irgendwie auf einem der hölzernen Speere an der westlichen Wand aufgespießt. Dann hörte sie ein weiteres Stöhnen; ein falscher Alarm, der keine guten Neuigkeiten mit sich brachte. Absolut typisch.
Sie sackte in einer Ecke zusammen, direkt vor den Eimer zu ihren Füßen, und fing an zu beten, dass sie sie nicht durch die dicke, hölzerne Tür wittern konnten.
Vielleicht verschwinden sie, dachte sie, und dann fügte sie hinzu: Wunschdenken.
Sie würden nicht einfach so fortgehen.
Das taten sie nie.
Plötzlich fühlte sie sich einsamer als je zuvor.