EINUNDZWANZIG

Shane konnte nicht sagen, ob es in der Schule kälter war als draußen, aber es kam ihm so vor. Gefrorener Dunst verdichtete sich beim Atmen vor ihren Gesichtern, sodass ihre Sicht erheblich eingeschränkt war.

»Ich hasse es, das zu sagen«, sagte Marla und Shane glaubte, es sich nur eingebildet zu haben, »aber ich denke, es wäre besser gewesen, im Snatch zu übernachten.« Es war zwar eine lächerliche Idee, aber beim Rundumblick in der Sandown Grundschule – DER BESTE START, DEN DU DIR WÜNSCHEN KANNST – hatte niemand ein Gegenargument auf Lager.

»Lasst uns dorthin gehen, wo die Fenster noch nicht zerbrochen sind«, sagte Terry, der sich mit seiner Flinte durch die Gruppe schob. »Deswegen kann ich nicht so gut mit Kindern.«

Shane lächelte. »Hat sicherlich nichts damit zu tun, dass du ein Karriereverbrecher bist.«

»War ich, Shane, ich war ein Karriereverbrecher. Ich möchte dir damit nur sagen, dass ich immer annahm, dass mir noch genug Zeit bleiben würde, Kinder zu haben, nachdem ich mich zurückgezogen hätte.«

»Gut, dass dem nicht so war«, sagte Marla. Die Wahrheit, wenn auch schmerzhaft, kam immer von Marla.

Als sie das Ende des Ganges erreichten – wo ihnen an die Wand gehängte oder mit Tesafilm angeklebte Bilder ein beklemmendes Gefühl verliehen –, trafen sie auf eine Tür, auf der stand: MRS BEETHAM. In der oberen Hälfte der Tür befand sich ein Milchglasfenster, das in der Dunkelheit jedoch nichts brachte. Auf der anderen Seite könnte einfach so eine Horde Dreckskerle auf sie warten; und sie würden es erst bemerken, wenn es zu spät war.

»Passt auf Mrs Beetham auf, wenn wir da hineingehen«, riet Terry. »Ich glaube kaum, dass sie in der Stimmung für Besucher ist.«

Shane drehte am Türknauf und schob die Tür auf.

Das Zimmer war leer, was eine enorme Erleichterung mit sich brachte. Hier war es nicht gar so dunkel, da durch das Fenster etwas schummriges Resttageslicht drang.

Shane führte sie langsam durch die Tischreihen. Stühle lagen zertrümmert auf dem Boden; die Tafel an der Stirnseite der Klasse war mit blutigen Handabdrücken bedeckt.

»Verheißt nichts Gutes«, sagte Marla. »Die armen Kinder.«

Shane wurde sofort von Visionen seiner kleinen süßen Megan geplagt. War sie in der Schule gewesen, als der Ausbruch stattgefunden hatte? Konnte es sein, dass ein Klassenzimmer gute 60 Kilometer weit entfernt im selben Zustand wie das hier war?

»Kein Anzeichen von einem Lehrer«, sagte Terry, dabei bekreuzigte er sich. »Keine Ahnung, ob das gut oder schlecht ist.«

Jared stand am anderen Ende des Klassenzimmers und las etwas, was die Wand zierte; ein Gedicht, womöglich von einem der unglücklichen Kinder, einem der vermissten, oder vielleicht dem, dem Marla so hart ins Gesicht getreten hatte.

Ohne nachzudenken – das Gedicht schien ihn hypnotisiert zu haben und beraubte ihn seiner Sinne – riss er die Tür vor sich auf. Sie führte ihn in einen Schrankraum, in so einen, in dem Kreiden, Farben und leere Hefte zu finden waren.

Nur dieser beinhaltete noch etwas.

Den Tod.

»Jared!«, schrie Marla, aber es war bereits zu spät. Sie konnte nur mit ansehen, wie er unter den infizierten Kindern verschwand. Gliedmaßen schlugen um sich, schwarzer Schleim spritzte durch die Luft und Jared heulte auf, als Zähne sich in seinen Hals, seine Schulter und seine Beinen gruben.

Shane wirbelte benommen um sich – seine Gedanken waren immer noch bei Megan –, was teilweise der Grund war, warum Jared nun in einem Meer von blutverschmierten Schuluniformträgern unterging. Wäre er geistig frei gewesen, hätte er mit Sicherheit nicht zugelassen, dass Jared so nahe an einen geschlossenen Schrank ging. Seine Gedanken hatten diesen Mann zum Tode verurteilt, und das wusste er.

Die Kreaturen schienen nicht zu begreifen, dass noch andere da waren. Sie hätten sie sicherlich auch gewollt, und es gab mehr, als sie erwartet hatten.

Wie lange waren sie da wohl eingeschlossen gewesen? Wie lange hatten sie auf ihr Freikommen gewartet?

Als Shane einen kleinen Holztisch beiseite warf, fiel ihm sofort der vollständig verzehrte Kadaver vor dem Schrank auf.

Mrs Beetham.

Sie wurde so zerlegt, als wäre sie nichts anderes als ein Gelegenheitshäppchen gewesen. Knochen und ihr zerfetztes Kleid waren alles, was von ihr übrig geblieben war.

Terry feuerte seine Remington ab und befreite damit eine Kreatur von ihrem Kopf. Dieser flog beiseite, worauf Jareds teilweise angeknabbertes Gesicht zu sehen war. Heilige Scheiße, wo war sein Auge? Es baumelte aus seiner Höhle und tanzte um lose Hautlappen.

Die restlichen zwei Untoten achteten weder auf den Schuss noch auf die kopflose Kreatur, die zuvor mit ihnen geschlemmt hatte. Sie vergruben ihre Köpfe tiefer in Jared, kauten an ihm, versuchten, an alles, was er hergab, heranzukommen.

Shane stürzte nach vorne, mit einem Tritt gelang es ihm, ein kleines untotes Mädchen mit einem Schwung zur Seite zu treten. Sie quietschte – Essenzeit war vorbei –, als Shane ihr zwei Kugeln in den Schädel verpasste. Während sie rücklings flog, sah er wieder Megan vor sich. Da diese Kreatur ganz und gar nicht nach seiner Tochter aussah, waren es schlussendlich die Augen – schwarz, kalt, tot – wegen denen seine Gedanken an sie verschwanden.

Marla schrie. »Heilige Scheiße! Shane, pass auf!«

Die zweite Kreatur, fetter als jedes Kind, das Shane je zu Gesicht bekommen hatte, richtete seine Aufmerksamkeit auf Shanes Knöchel. Als es sich bewegte, war es übernatürlich schnell, Shane zog sein Bein zurück und feuerte mitten auf Billy Bunters Kopf. Man konnte die Kugel förmlich hören, wie sie durch Haut und Haar, Schädelknochen, durch das Hirn und den Kiefer ging und ihn zu Boden riss.

Er fiel um wie ein blutgetränkter Sack Kartoffeln.

Marla kreischte immer noch. Shane fragte sich, ob ihr das überhaupt noch bewusst war. Vermutlich nicht.

Terry lud seine Flinte nach, aber es gab nichts mehr, worauf er noch hätte schießen können, zumindest im Moment.

Shane zog den fetten Jungen von Jared und wünschte sich sofort, dass er sich nicht die Mühe gemacht hätte. Ihr Freund war ausgehöhlt; alles vom Hals abwärts fehlte oder lag dampfend neben ihm. Shane wollte losbrüllen, jedoch steckte irgendetwas in seiner Kehle. Bald erkannte er, dass es Erbrochenes war. Er stürzte durch den Raum und übergab sich so lange, bis sein Magen vollkommen leer war.

Marla fing an zu heulen, sie schluchzte sich das Herz raus. Ihre Beine gaben nach und sie knickte zusammen wie Papier.

Und die Nacht hatte noch nicht einmal begonnen, als die Finsternis draußen diesen Ort mit einem Dunst aus Albtraum und Verzweiflung erhellte.



     ***

Er erwachte, um zu bemerken, dass er sich nicht bewegen konnte. Er war gelähmt vor Angst und wegen seiner Verletzungen, und als er versuchte, den Schmerz irgendwie wegzublinzeln, war alles, woran er sich noch erinnern konnte, ein Pferd – nein, kein Pferd, aber so etwas in der Art –, welches sich über ihm befand. Es war wirklich eigenartig, weil er keine Ahnung hatte, warum er so ein lächerliches Bild vor seinem geistigen Auge hatte. Vielleicht war er einmal ein Reiter gewesen und vom Pferd gefallen, das würde Sinn ergeben, obwohl er sich nicht erinnern konnte, jemals auf einem Pferd gesessen, geschweige denn an einem Rennen teilgenommen zu haben.

»Wo zum Teufel kommt das nur her?«, brüllte eine Stimme. Er erkannte die Stimme, weil er sie schon einmal gehört hatte, jedoch konnte er ihr keinen Namen zuordnen.

Ein anderer Jockey, dachte er. Ja, genau so war es. Er war vom Pferd gefallen und nun umgaben ihn alle Gesichter der anderen Reiter.

Aber dem war nicht so.

Nicht einmal annähernd.

»Ist er tot?«, fragte eine andere Stimme. »Sieh mal nach.«

Er versuchte sich zu bewegen, versuchte, irgendein Zeichen von sich zu geben, eines, welches vermittelte, dass er am Leben war. Nichts. Er blinzelte, die Schmerzen waren immer noch da.

»Wenn er tot ist, Captain, dann sind wir wirklich am Arsch.«

Captain? Gibt es bei Pferderennen Captains?

In der Dunkelheit strahlte ein schwaches Licht; irgendjemand stand über ihm. Er konnte aber kein Gesicht erkennen. Eigentlich konnte er gar nichts erkennen.

»Er ist nicht tot«, erklärte eine Stimme. »Aber er könnte es bald sein. Er wurde gebissen.«

Kurze Panik überkam ihn und er versuchte zu ergründen, was der Schatten da gerade von sich gegeben hatte.

Gebissen? Von was? Einem beschissenen Pferd?

»Scheiße!«, sagte eine zweite Stimme. »Scheiße, scheiße, scheiße!«

Er steckte offensichtlich in Schwierigkeiten. Wenn etwas – sein Pferd - ihn gebissen hatte, war das sehr übel. Er konnte das in der Stimme des anderen Mannes hören.

Nein, kein Pferd, dachte er, und dann erinnerte er sich an alles. Alles auf einmal, was seinen Kopf beinahe zum Explodieren und sein Herz zum Rasen brachte.

Untote. Zombies. Ein Hirsch …

Der Ausbruch … ein Virus, der die Welt in die Knie gezwungen hatte.

Er wurde gebissen und er wusste, was mit Leuten passierte, die gebissen wurden.

»Was kann ich tun?«, fragte ein Schatten über ihm. »Fuck, Captain, was soll ich tun?«

Nein, dachte er. Bitte nicht, ich bin nicht infiziert, noch nicht jedenfalls. Vielleicht werde ich weiter … vielleicht bin ich immun … vielleicht …

»Verflucht, uns bleibt nichts anderes übrig«, sagte eine andere Stimme. »Bringen wir’s hinter uns. Scheiße! Wir sind am Arsch!«

Nein … bittteeeee …


***

Das, dachte sich Freddie Dewson, ist mir ein Rätsel. Er starrte die Generatoren an, als wurden diese von Aliens erschaffen, als ob sie zu nichts anderem gebaut worden waren, um die Menschen vollkommen zu verwirren.

Warum musste er sich auch freiwillig dafür melden? Schließlich war er kein Ingenieur. In der Tat hätte er sich vor gar nicht allzu langer Zeit mit einem Stromschlag fast selbst getötet, als er einen Stecker austauschen wollte, was Grund genug sein sollte, sein vorlautes Maul zu halten.

»Du bist einfach zu verdammt nett«, murmelte er in der Dunkelheit.

Der wahre Grund, warum er sich dazu entschieden hatte, einen Blick zu wagen, war: Vielleicht, auch nur vielleicht, war einfach die Sicherung herausgeflogen. Wenn es etwas so Simples war und er in der Lage war, es zu reparieren, dann könnte er in die Haupthalle zurückkehren und alle Leute würden ihn für seine Arbeit bewundern.

Das war es.

Das war der Grund, warum er jetzt im Dunkeln stand, sich am Kopf kratzte und hoffte, dass die Generatoren sich einfach von selbst wieder einschalten würden.

Die Temperatur fiel weiter; er konnte den Temperaturabfall fast fühlen, obwohl es vermutlich an der Tatsache lag, dass er gute fünf Minuten stocksteif dastand und die monströsen Maschinen vor sich ansah, als hätten sie etwas Abfälliges zu ihm gesagt.

»Scheiß drauf!«, sagte er und drehte sich auf dem Absatz um. Die mussten in dieser Kälte und der Dunkelheit einfach frieren. Es gab keine Optionen, und wenn einer von den Leuten sich einbildete, es besser machen zu können, dann nur zu.

Als er gehen wollte, wurde er von irgendetwas aufgehalten. Ein paar Sekunden lang hatte er keine Ahnung, was soeben geschah, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht bewegen. Und dann folgte nur noch Schmerz.

Sein Kopf kippte zurück – wie bei einem Pez-Spender – und fiel von seinen Schultern. Sein Körper nahm den umgekehrten Weg und krachte seitlich gegen die veralteten Generatoren, Blut spritzte aus seinem Halsstumpf.

Aus der Dunkelheit kam Henry Colburn und starrte den noch zuckenden Körper an, der einem Mann gehört hatte, mit dem er noch nie ein Wort gewechselt hatte, und dank der Feueraxt in seiner Hand, würde er das auch nie tun müssen.

Er war ein Mann auf einer Mission.

Diese Mission hieß Zerstörung.