SECHSUNDZWANZIG
Sie holte tief Luft und stieß die Tür auf. Ihr Herz raste so schnell, dass sie trotz ihres Alters glaubte, eine Herzattacke zu erleiden.
Sie waren verschwunden; alle Kreaturen hatten den Dinosauriersaal verlassen. Das Beängstigende war – und das musste sie sich selbst in Erinnerung rufen –, dass sie vermutlich nicht weit weg waren, womöglich im nächsten Raum, wo sie römische Artefakte zerstörten oder irgendwelche kostbaren Gewänder vollbluteten.
Spielte keine Rolle.
Was zählte, war, dass sie ihre Machete einsatzbereit hatte, sobald sie die Abstellkammer verließ.
Kurz glaubte sie, sie müsse darin sterben wie eine Maus, hinter einer Fußleiste kauernd, versteckt von der unerbittlichen Katze.
Langsam bewegte sie sich durch den Raum, hörte auf jegliche Geräusche und Bewegungen. Wenn sie nahe waren, waren sie zumindest sehr ruhig.
Sie konnte nichts anderes als ihren Herzschlag hören, der sie ziemlich nervös machte.
Der Sturm rüttelte an den Fenstern, was er schon die ganze Nacht lang getan hatte. Dennoch konnte sie zwischen dem Stöhnen der Untoten und dem Heulen des Windes unterscheiden.
Die Kreaturen beendeten ihre Laute knurrend, der Wind brach einfach ab.
Ihr wurde bewusst, dass sie in diesem Museum nicht länger in Sicherheit war, sie musste es verlassen, bevor dieser Ort von Untoten nur so wimmelte. Die Nacht neigte bereits dem Ende zu; war es möglich, noch vor dem ersten Tageslicht zu verschwinden?
Konnte sie noch so lange durchhalten?
Sie hatte Angst sich zu bewegen, weil sie sich einbildete, dass sie sie hören und zurückkommen könnten. Wenn sie versehentlich wo gegen lief – oder Gott bewahre, Niesen oder Husten musste – dann würde es nur ein Resultat geben, und über dieses wollte sie gar nicht nachdenken.
Sie schlüpfte hinter einen gläsernen Ausstellungskasten und duckte sich; sollte einer von denen jetzt in den Saal kommen, würde sie nicht sofort entdeckt werden.
Trotzdem fühlte sie sich bei dem Gedanken unwohl, dass sie innerhalb weniger Sekunden gesehen werden könnte, solange diese Dinger hier herumschlurften. Sie stand wieder auf und atmete frustriert ein und aus.
Genauso gut könnte sie zurück in die Abstellkammer zu den Reinigungsutensilien gehen; hier draußen zu sein, ließ wieder Tausende Dinge in ihrem Kopf herumgeistern. Zumindest würde sie dort drinnen nur das Problem haben zu verhungern.
Nein.
So wollte sie nicht enden. Sie hatte sich selbst ein Versprechen gegeben und sie wollte kämpfen. Das, so hatte sie es sich geschworen, wolle sie bis zum Ende tun.
Sie schwang ihre Machete und durchschnitt damit die Luft, dabei hätte sie fast das gigantische Skelett eines längst ausgestorbenen Tieres übersehen. Als ob sie ihre Entschlossenheit wittern konnten, kamen drei Zombies durch die Tür, die dabei übereinander stolperten.
Adrenalin, so hoffte sie, würde ihr Überleben sichern. Sie waren langsam, unglaublich ungeschickt und leicht zu erledigen, vorausgesetzt, sie handelte nicht zu übermütig.
Es waren nur drei; sie hatte schon gegen mehrere gekämpft, aber das war draußen gewesen. Hier im Dinosaurier-Saal war es eng. Draußen hatte sie Freiraum in alle Richtungen, keine Kreatur blockierte ihr dort im Normalfall den Weg. Hier im Museum war es wie in einem Käfig, gefangen mit Zombies. Sollte sie gegen eine Wand gedrückt werden, wäre sie ziemlich am Arsch, und das wusste sie.
Die Kreaturen würden alle auf einmal über sie herfallen, als hätten sie wochenlang nichts zu essen bekommen – was womöglich auch der Fall war.
Sie duckte sich nach rechts und stieß mit ihrer freien Hand eine Säule um, die auf die Dinger fiel. Die Säule, von der sie glaubte, dass diese aus Stein wäre, war tatsächlich nur aus Polystyrol. Sie landete harmlos einige Schritte entfernt, wo sie geräuschlos vor- und zurückrollte.
»Komm schon!«, gab sie eine Art Kampfschrei von sich. Ihr Gesicht war verzerrt wie das von William Wallace, so dachte sie, und ihre Augen traten fast aus ihren Höhlen, als wäre sie bereit für die Zwangsjacke.
Sie schnappte sich eine Dinosaurier-Ei-Nachbildung und schleuderte sie so fest sie konnte gegen eine Kreatur.
Das Ei erwischte das Ding an der Nase, Fleisch flog durch die Luft. Die Kreatur – einst eine Frau, aber jetzt weit davon entfernt –, reagierte kaum darauf. Wenn überhaupt, dann spornte es das Ding noch zusätzlich an.
Mit erhobener Machete schlug sie vor dem Ding durch die Luft. Die Kreatur wich zwar nicht zurück, blieb aber stehen. Es war fast, als hätte das Ding etwas Wichtiges zu sagen, so wie es den Mund öffnete und wieder schloss. Ein schwarzer, dicker langer Speichelfaden hing der Untoten aus dem Mund, die glasigen Augen rollten in den Höhlen herum, und dann rutschte der Kopf – oder das meiste davon – vom Körper.
Sie hatte Glück mit dieser Untoten; wenn sie sich nicht genau in diesem Moment auf sie gestürzt hätte, wäre das Ding vermutlich genau auf ihr gelandet und würde sie nun verspeisen.
Die anderen beiden Kreaturen waren sich nicht sicher, wo sie am besten ansetzen sollten. Eines der Dinger stolperte seitlich durch den Raum, aber sie nahm nicht an, dass dies beabsichtigt war. Es war einfach die Richtung, die ihm seine Füße vorgaben.
Der andere Untote – der wie ihr ehemaliger Lehrer Mr Daniels aussah –, knurrte, grunzte und stürzte auf einmal zu Boden. Sie sprang zurück, wich den wirbelnden Armen aus und stieß die Machete direkt in seinen Hinterkopf.
Wenn das Mr Daniels war, dachte sie, dann hatte er das als langweiligster Naturwissenschaftslehrer wirklich verdient.
Sie schwang die Machete herum; ein lautes Knirschen war zu hören, und dann folgte ein Ton, als würde eine nasse Oberfläche mit einem trockenen Handtuch bearbeitet. Der Hinterkopf brach nach oben auf und wurde zu einem schrecklichen Geysir. Das Ding zuckte krampfend, doch kaum hatte sie die Machete herausgezogen, rührte es sich nicht mehr.
Sie dachte kurz darüber nach, ob die Kreatur, die vor ihr auf dem Boden lag, mal eine Baseballkappe getragen hatte, nur um cool auszusehen, als sie plötzlich den kalten, fauligen Atem eines weiteren Untoten in ihrem Nacken spürte.
Sie drehte sich gerade in dem Moment um, als eine Hand sie an der Schulter packte, und nun war sie es, die zu stöhnen begann. Die schnappenden Zähne waren nun so nah, dass sie den Bart seitlich an ihrem Gesicht spüren konnte. Es gelang ihr, einen Ellbogen zwischen sich und die Kreatur zu bekommen, die gerade im Begriff war, ihr ein Stück vom Ohr abzubeißen.
Plötzlich wurde ihr übel. Ihr Magen schien sich zu überschlagen, ein heftiger Schmerz machte sich in ihr breit. Vielleicht lag es an der Mischung aus angreifender Fäulnis und zu viel Limonade. Wie auch immer, das Ding war auf ihr und zwang sie nach unten.
Ihr blieb nichts anderes übrig; sie konnte es nicht den ganzen Tag lang abwehren.
Das Gesicht der Kreatur war nun wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Warmer, dunkler Speichel tropfte auf ihr Kinn und auf ihre Schulter, aber sie versuchte, nicht daran zu denken.
Die Art, in der sie ineinander verschlungen waren, machte es unmöglich, genügend Schwungkraft für ihre Machete zu gewinnen, und so stieß sie, entgegen ihrer Hoffnung, die Klinge einfach nur seitlich gegen die Kreatur, als wäre diese nichts weiter als ein widerspenstiges Haustier und sie die Besitzerin einer aufgerollten Zeitung.
Sie spürte eine Klaue – Kralle? Es fühlte sich zumindest wie eine an, und diese Kralle versuchte, ihren Mantel aufzureißen, aber sie war irgendwie darauf vorbereitet gewesen und trug so viele Schichten übereinander, dass sie sogar fast ein Wolfsrudel aufgehalten hätten.
Sie landeten mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden, und dann tat die Kreatur das Schlimmste, was sie nur tun konnte.
Sie zerrte an ihrem Mantel, ein Versuch, an das saftige Fleisch darunter zu kommen. Das Geräusch der kratzenden Nägel auf dem Stoff war grauenhaft, die Art von Geräusch, die einem durch Mark und Bein ging, wie Nägel, die über eine Tafel kratzten.
Sie wusste, dass sie ihr nur wenig Zeit blieb, also manövrierte sie so rasch wie möglich die Machete ans Kinn der Kreatur und führte die Klinge so schnell nach rechts, dass ihr fast der Arm aus dem Gelenk sprang. Das Gurgeln des Dings war Beweis genug, dass sie es geschafft hatte, ihm die Kehle durchzuschneiden, die heraussprudelnde Flüssigkeit tränkte ihren Mantel.
Die Zunge der Kreatur schaukelte ziellos hin und her, und als sie die Klinge nach links zog, hörte sie diesmal einen Schlag, als der Kopf zu Boden fiel und über den unbezahlbaren Teppich rollte.
Das Ding landete mit seinem vollen Gewicht auf ihr, sie konnte kaum noch atmen. Nach einem Moment der Anstrengung gelang es ihr, darunter hervorkriechen. Zum ersten Mal seit Tagen schwitzte sie, was nicht einmal unwillkommen war.
Sie zog ihren Mantel mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus – es war ein alter antiker Wandteppich, den so mit Sicherheit niemand mehr schätzen würde – und als sie davon überzeugt war, dass ihr eigene Kleidung sie nicht infizieren konnten, atmete wieder.
Es war ihr gar nicht aufgefallen, dass weitere Untote hier waren – eine Menge davon –, sie irrten wie gelangweilte Besucher einer Fingerhut-Convention durch das Museum.
Aber sie waren da; sie konnte sie hören, ihr Kratzen und ihr Stöhnen, dabei versuchte sie herauszufinden, woher es kam.
Ihre Möglichkeiten waren begrenzt, und fürs Erste erkannte sie, dass sie mit der Wahl des Museums einen schweren Fehler begangen hatte. Klar, mit den hellen Lichtern und der konstanten Wärme wirkte es attraktiv, aber das wussten sie, sie mussten es gewusst haben, da bereits so viele hierher gewandert waren.
Ein weiterer Fehler, der ihr plötzlich bewusst wurde, waren die wenigen Fluchtmöglichkeiten. Sie hatte noch nie, kein einziges Mal im letzten Monat, ein Gebäude ohne Fenster, Tür und sogar Dachfenster betreten. Niemals. Doch das Museum hatte sie ausgetrickst, irgendwie war es dem Gebäude mit dessen Magie, der Ehrfurcht und dem Zugang zu all dem Junkfood gelungen, sie zu täuschen.
Dumm. Sie war sehr dumm gewesen.
Sie schulterte ihren Rucksack, nachdem sie so viel wie möglich aus dem Automaten hineingestopft hatte. Die Magenkrämpfe würden schließlich verschwinden und der Zuckergehalt des Junkfoods schien sie hellwach zu halten, was sehr nützlich war, wenn es darauf ankam, gegen Untote kämpfen zu müssen.
Sie stand vor einer zertrümmerten Tür und holte tief Luft.
Der Dinosaurier-Saal und die angrenzende Abstellkammer waren nur kurz ihr Zuhause gewesen, dennoch verließ sie dies alles wehmütig, wohl wissend, dass die Wärme und die momentane Atempause bald der Vergangenheit angehören würden.
Sie ging, die Machete an ihrer Seite schwingend, hinaus in den Gang, in den Rachen des Todes.