EINS

Die Straßen waren voller Untoter. Sie drängten sich so dicht zwischen den zerstörten Geschäften, dass es ihnen kaum möglich war, sich frei bewegen zu können, ähnlich wie Mikrozellen unter einem Mikroskop. Und das waren sie; ein Grippestamm mit nur einem Ziel: suchen und infizieren. Während des ersten Ausbruchs war Shane Bridge noch ein Gefangener, der voller Freude und Hoffnung auf seinen bevorstehenden Entlassungstermin wartete. Jetzt, mit aus dem Helikopter herabbaumelnden Beinen und einem M1919 Browning Maschinengewehr dazwischen, war nur noch sehr wenig von dieser Freude und der Hoffnung übrig geblieben.

»Gar kein Ziel heute Abend?«, drang eine Stimme aus seinem Headset. Er schreckte kurz auf, worauf sein Finger den Abzug betätigte und er eine Kugel abfeuerte, die für niemanden bestimmt war.

Der Pilot, Kyle Poulson – oder Flyboy, wie er liebevoll genannt wurde – zog den Hubschrauber etwas nach oben und flog sie alle über die überfüllten Straßen zurück in die Heimat. Wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte.

»Nicht in der Stimmung«, meinte Shane und entfernte seinen Finger wieder vom Abzug. Ihm war sehr bewusst, dass das Verschwenden von Munition nicht gerade das Klügste war, was es zu tun gab. Die Zeit würde kommen, in der Kugeln nur noch in Erinnerungen existierten, und genau dann wollte Shane es sein, der aufstand, um der Welt stolz zu verkünden, dass er keine einzige davon verschwendet hatte.

»Gut«, sagte Flyboy, »ich flieg uns heim. Heute ist es einfach unmöglich, das Biest hier zu landen. Ich bin mir auch verflucht sicher, dass ich es auch nicht einfach so tun würde, außer für einen Haufen Antibiotika vielleicht.«

»Ich bin mir sicher, dass sich einige rund um die Kasernenbaracken tummeln«, sagte Shane, während er sich in den Helikopter zurückzog. Er fing an zu zittern, da es spürbar kälter wurde, als Flyboy den Hubschrauber etwa 20 Meter hochzog. Shane konnte schon jetzt mit Bestimmtheit sagen, dass ihnen ein furchtbarer Winter bevorstand, schlimmer als je zuvor. Es war der erste Winter mit den Untoten, und die Baracken warmzuhalten, stellte bereits ein Problem dar.

Das war der Grund, weshalb sie ausgesandt worden waren. Einige Leute waren bereits an einer Lungenentzündung oder der Grippe erkrankt. Mithilfe von Antibiotika könnten sie durch den Winter kommen, vorausgesetzt, sie würden ausreichend davon finden. Klar, der Zustand der Straßen war niemals vorhersehbar, und den Hubschrauber einfach neben der nächsten Apotheke zu landen, glich einem Selbstmordkommando.

Es musste warten.

»Ich glaube«, kicherte Flyboy in das Mikrofon, »das ist der siebte Tag in Folge, für den du dich freiwillig gemeldet hast.« Lachend fügte er an: »Gibt es einen bestimmten Grund, warum du das nicht einen anderen machen lässt?«

Shane wollte Flyboy seine wahren Beweggründe, warum er von den Baracken weg wollte, nicht nennen, weshalb er einfach irgendetwas von sich gab, was jedoch so klang, dass er es sich beinahe selbst abgenommen hatte.

»Ich bin gerade erst aus dem Knast raus«, sagte Shane. »Ich schätze, dass ich genau deswegen der Gesellschaft etwas schuldig bin.«

Das war Bullshit, schien ihm aber abnehmbar.

»Ahhhhh«, knackte die Stimme. »Und du glaubst wirklich, dass mit diesem Heldentum, mit dem du das Überleben dieser Menschen zu sichern versuchst, du diese Tatsache irgendwie überspielst, und dass es sich lohnt, in erster Reihe bei denen zu sein, die zuerst draufgehen? Mir ist schon klar, wo du herkommst, aber ob ich an deiner Stelle dasselbe täte, ist fraglich.«

Shane schien sich in diese Lüge immer mehr zu verstricken und konnte es selbst kaum fassen, als folgende Worte seinen Mund verließen: »Ich hab’s mir versprochen, noch als ich eingesessen war. Ich nahm mir vor, alles wieder gut zu machen. Das ist eine Art … Selbstbestrafung.«

Shane seufzte, sein kleines Mikrofon baumelte vor seinem Mund hin und her, weswegen der Pilot ihn nicht verstand.

»Tja, alles, was mir dazu einfällt, ist: Bravo«, meinte Flyboy, dann klatschte er in die Hände, was unangenehm laut durch Shanes Kopfhörer drang. Der Helikopter zog kurz nach rechts, weswegen Shane sofort den Ledergriff neben sich packte. Flyboy war ein guter Pilot – womöglich der beste, den sie hatten –, jedoch nahm Shane nicht an, dass Flyboy genauso gut ohne Hände am Steuerknüppel fliegen konnte.

»Behalte die Schlampe einfach unter Kontrolle«, sagte Shane. »Sonst wird keiner von uns als Held zurückkehren.«

Während sie heimflogen, sinnierte Shane über die wahren Beweggründe, warum er sich eigentlich jede der letzten sieben Nächte freiwillig für den Ausflug gemeldet hatte.

Er war ruhelos.

In seinem Innersten wusste er, dass seine Frau und seine Tochter noch irgendwo da draußen waren. Ob sie noch lebten, war eine völlig andere Sache. Allerdings konnte er sie fühlen, in sich, ihre Seelen waren in gewissem Sinn miteinander verbunden. Endlose Versionen von Albträumen plagten ihn seit fast einem Monat und forderten nun ihren Tribut.

Er wusste, dass er etwas tun musste.

Die Unsicherheit schien ihn töten zu wollen.

Der Helikopter schnitt sich durch die kalte Mitternachtsluft auf die Baracken zu, wo die kranken Leute auf ihre Medizin warteten. Sie waren sicherlich wenig bis kaum erfreut, wenn sie wieder einmal mit leeren Händen heimkehren würden.