FÜNF
Sie ging durch die Nacht, das Stöhnen, das der Wind mit sich brachte, ignorierte sie. Sie hatte immer noch keine Untoten gesehen, was nur gut war, weil sie so ihren Weg weiter fortsetzen konnte.
Dass sie zu hören waren, hieß, dass sie irgendwo hier waren, womöglich schnüffelten sie in der Stadt nach noch genießbarem Fleisch. Als der Wind das Stöhnen zu ihr trieb, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Egal wie viele Tage sie sich noch vor ihnen verstecken, sie überleben, sie töten würde, der Gedanke daran, was sie wirklich waren, jagte ihr eine schreckliche Angst ein.
Hinter einem Container hockend, versuchte sie, wieder zu Atem zu kommen. Sie konnte sehen, dass der Laden noch nicht vollständig geplündert war, noch nicht. Als der Wahnsinn angefangen hatte, hatten die Plünderer jedes elektronische Gerät mitgenommen. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen hatten bewaffnete Banden Fernseher und Videospielkonsolen die Straße entlanggeschleppt, als ob das Ganze in wenigen Tagen vorbei wäre, und dann könnten sie vor ihren 42-Zoll-Plasmafernsehern sitzen.
Verfluchte Idioten!
Allerdings hatte ihre Dummheit auch etwas Gutes; an Lebensmittel war immer noch leicht heranzukommen, vorausgesetzt, man begab sich etwas in Gefahr, um sie zu bekommen. Jedoch wurde langsam das Wasser knapp. Ziemlich schnell waren sich die Plünderer bewusst geworden, dass sich die Infektion über die Wasserleitungen ausbreitete. Abgefülltes Wasser war die einzige Option, für die meisten war es aber bereits zu spät. Die halbe Stadt war infiziert. Wie dies mit der Versorgung passieren konnte, blieb ihr schleierhaft. Sie stellte sich vor, dass irgendwo in der Kanalisation – oder der Klärfabrik, sie wusste nicht, wie das alles funktionierte – Monster waren, die ins Wasser bluteten, und der Virus auf diese Weise in die einzelnen Haushalte gelangte. Ähnlich einer Spam-E-Mail; niemand möchte sie, aber ins Postfach gelangt sie trotzdem.
Genau da, als sie in den Laden gehen wollte, schlurfte ein Monster in ihr Blickfeld. Es trug eine Uniform, und es bestand kein Zweifel daran, dass es auch einmal angegriffen worden war – warum auch nicht? Es war nicht so, dass sie genügend Köpfchen besaßen, die Kleidung wechseln zu können, wann immer diese blutig oder sonst wie verdreckt war. Wenn dem so wäre, gäbe es hilflos überlaufene Warteschlangen vor den Waschsalons.
Dieses besondere Mitglied der Untoten war mal ein Sanitäter gewesen; seine grüngelbe Kleidung war von oben bis unten besudelt und zerrissen. Er bewegte sich ziemlich schnell, trotz der Tatsache, dass ihm ein ganzer Fuß fehlte. Anstatt langsamer zu werden, schleppte er seinen Stumpf erstaunlich schnell hinter sich her.
Sie hatte noch nie einen Untoten gesehen, der sich so zügig bewegte.
Das könnte sich zu einem Problem herausstellen.
Sie griff nach hinten zu der Machete, die sie auf dem Rücken festgeschnallt bei sich trug. Frisch geschliffen – sie hatte sich zu lange gelangweilt, sie hatte ein Buch nach dem anderen über beschissene Vampire gelesen und war immer noch nicht damit durch – war sie bereit, es einzusetzen, und vor ihr befand sich der perfekte Testkandidat.
Als sich der tote Sanitäter ihr näherte, mit einer für diesen Zombie halsbrecherischen Geschwindigkeit, erwartete sie ihn mit kontrollierter Atmung und lauschte den gequälten Lauten der anderen Kreaturen in naher Umgebung.
Diese waren weit weg und stellten vermutlich keine eigentliche Bedrohung dar, obwohl sie die Kreatur, die sich ihr gerade näherte, auch nicht gehört hatte. Es zahlte sich aus, sehr vorsichtig zu sein.
Mit dem ihr zugewandten Rücken, den Blick auf den Laden gerichtet und ihr im Weg stehend, blockierte das Ding den Weg zu den Lebensmitteln, die sie dringend benötigte. Sie wusste, dass dies die beste Gelegenheit für sie war.
Sie sprang hinter dem Container hervor, und wenn man den Abstand zwischen den beiden betrachtete, war das ziemlich schnell geschehen. Das Ding musste sie gehört haben – oder vielleicht auch gefühlt haben, was gleich passieren würde –, weil es sich umdrehte.
Sie schwang die Machete durch die Luft, schneller, als sie es sich vorgenommen hatte, weswegen sie ein wenig erschrocken war. Ihrer Dynamik – und ihrem Adrenalinausstoß – war es zu verdanken, dass es ein mehr als sicherer Treffer war.
Dann war ein reißendes Geräusch zu hören, als das Ding ein paar Meter vor ihr stand, und sie entdeckte sofort die Folgen dessen, was sie gerade getan hatte.
Die Kreatur stand regungslos da, verwirrt? Glühend rote Augen starrten sie an. Schwarzer Schleim sickerte zwischen den Lippen hervor, von denen jeweils eine Hälfte komplett fehlte und die darunterliegenden Zähne und Kieferknochen zeigte. Sie gurgelte, taumelte ein paar Zentimeter vor, dann kippte der Kopf, der vom Hals getrennt worden war, seitlich weg, und mit einem dumpfen Plumps landete dieser auf der Straße und blieb neben dem Körper liegen.
Sie richtete sich wieder auf, wohl wissend, dass der beschissene Dreckskerl erledigt war. Der Körper fiel um wie ein Kartoffelsack, und sie schritt, ohne weiter darüber nachzudenken, auf den Laden zu. Die Klinge wischte sie auf dem Weg dorthin am Hosenbund ab.
Das Schaufenster war zerschlagen und die Scherben lagen überall verteilt. Als sie darüber stieg und durch die doppelte Tür eintrat, knirschte es. Überraschenderweise waren alle Türen intakt geblieben, was die Mentalität der Plünderer wieder mal unter Beweis stellte; es war offensichtlich, dass sie durch das Schaufenster eingestiegen waren.
Es überraschte sie, dass die Kaufhausmusik immer noch lief, wenn auch nur leise. Trotzdem untermalte diese das ganze Szenario noch gruseliger.
Im Haupteinkaufsbereich waren die Lichter erloschen, ein gelegentliches Flimmern aus einem Raum an der Rückseite verschaffte ihr ausreichend Licht.
Sie war nur bei Licht unterwegs; dieser Tage war das die einzige Möglichkeit. Wenn man sich selbst zwischen Genussmitteln wiederfindet und plötzlich eine Horde auf einen zuströmt, reduziert dies die Überlebenswahrscheinlichkeit enorm. Sie hatte nichts bei sich, mit dem sie die Lebensmittel hätte transportieren können. Eine Plastiktüte wäre vermutlich ausreichend, wenn auch eine Einladung an einem besonders windigen Tag. Kaum hätten die Kreaturen das Rascheln gehört, wären sie hinter ihr her.
Sie zog eine Stofftasche vor – sie war dankbar, dass es diese Taschen-fürs-Leben überall gab. Diese waren in allen guten Läden an der Kasse zu finden, und sie waren ideal für schwere Gegenstände. So eine war auch das Erste, was sie an sich nahm, als sie die Hauptkassen passierte.
Die Tiefkühlprodukte ließ sie ganz aus. Das war tote Nahrung, für nichts mehr zu gebrauchen. Dies hatte sie auf die harte Tour in einer vom Wahnsinn geplagten Nacht nach einer Käse- und Zwiebelpastete selbst erfahren.
Dosen … die galten als einzig sichere Nahrung. Sie packte Bohnen, Spaghetti, Chili und irischen Eintopf ein. Zu viel wollte sie heute Nacht nicht mitschleppen; es war schon schlimm genug, dass es draußen bereits dämmerte, doch der lange Schlaf und die Langeweile hatten sie diese Nacht hinausgetrieben.
Von den gefundenen Wasserflaschen steckte sie drei ein, eine davon mit Erdbeergeschmack, einfach mal etwas anderes. Sie musste unbedingt daran denken, sich mit dieser einen nicht die Haare zu waschen.
Mit dem Wasser und der Verpflegung waren die nächsten Tage gesichert. Jetzt blieb ihr ein wenig Zeit, die Haushaltswaren durchzusehen. Sie hatte fast keine Bindfäden mehr, und Messer waren immer nützlich, also packte sie alles ein und fand dazu noch einen dickeren Mantel in ihrer Größe.
Scheiße, es wurde kalt.
Mit ihrem neuen Mantel und ziemlich allem, was sie brauchte, um die nächsten Tage halbwegs erträglich zu gestalten, ging sie zurück zum Hauptbereich, die Machete hielt sie bereit.
Plötzlich klapperte es hinter ihr. Sie wirbelte herum und rechnete mit dem Schlimmsten. Sie war erleichtert, auf nichts gestoßen zu sein, zumindest nicht hier.
Allerdings stammte das Geräusch von irgendwoher.
Von dem Raum im Gang sieben, dort, wo das Licht flackerte.
Sie seufzte, musste aber nachsehen. Waren dort vielleicht Überlebende? Was, wenn sie sie irrtümlich für ein Monster hielten? Sie musste es herausfinden.
Ihre Gesellschaft würde nicht unbemerkt bleiben, zum Guten oder Schlechten.
Sie näherte sich der Tür, fast hypnotisiert von dem intermittierenden Flackern, welches aus dem Raum dahinter kam. Die Schatten auf den Regalen spielten ihrem Verstand Streiche, und ein paarmal erwischte sie sich dabei, wie sie die Machete fester packte, bereit für den Kampf …
Dann weiteres Geklapper, dieses Mal fingen ihre Beine an zu schlottern. Sie musste sich zusammennehmen, und zwar schnell.
Sie steuerte auf das Licht zu, welches mit jedem Flackern summte. Fast wie eine Motte, die vom Schein angezogen wurde, näherte sie sich.
Als sie die Türen erreichte, atmete sie tief und leise durch. Behutsam betrat sie mit erhobener Machete den Raum, einen Lagerraum. Sie musste sich nicht allzu genau umsehen, um die Quelle des Lärms zu lokalisieren.
Eine Ratte – nein, mehrere Ratten – hatten sich ihren Weg durch die meisten Waren gefressen. Ihnen war dabei nicht einmal aufgefallen, dass sie beobachtet wurden, während sie eine Dose Kartoffelchips verspeisten. Die Dose rollte von der einen auf die andere Seite, als drei kleine Mäuler versuchten, an die Chips zu kommen. An der Dosenöffnung tauchte eine Ratte mit Krümeln am Maul auf. Offenbar war es für dieses Tier der beste Weg, an die Nahrung heranzukommen, indem es hineinkletterte und sich so vorarbeitete. Die anderen Ratten schienen eifersüchtig und verwirrt, sie verstreuten sich auf der Suche nach anderen Leckerbissen in alle Richtungen.
Sie drehte sich um und lächelte in sich hinein. Was war es, was sie angezogen hatte?
Und dann entdeckte sie den wahren Grund dafür, warum die Ratten sich überhaupt hier herumtrieben. Sie waren nicht auf Nahrungssuche, sondern warteten auf den endgültigen Tod ihrer Nahrung.
Zwei Mädchen, kleine Asiatinnen, waren an etwas am Rande des Lagerraumes angekettet. Sie begannen zu knurren, als sie sich ihnen näherte.
Zwölf, vielleicht 13 Jahre alt, jedoch ließ sie der Verfall viel älter und auch verdammt viel beängstigender aussehen.
Sie konnte nicht verstehen, was in den Köpfen von so manchen vor sich ging. Die Eltern – vermutlich die Ladenbesitzer – mussten auf die glorreiche Idee gekommen sein, ihre Töchter hierzulassen, während sie selbst auf der Suche nach dem Allheilmittel waren. So mussten die Mädchen hier lebendig angeknabbert und infiziert worden sein.
Sie hatten die Kinder wie missratene Hunde in Ketten hier zurückgelassen.
Etwas musste unternommen werden; so konnte sie sie nicht zurücklassen. Natürlich waren sie infiziert, dennoch war es nicht richtig. Sie würden hier weiterleben – im untoten Sinne natürlich –, bis vielleicht eine der Kreaturen über sie stolpern und es endgültig beenden würde (machten die so etwas überhaupt?), oder bis die Ratten beschlossen, dass es hier nichts anderes mehr gab und sich über sie hermachten. Der einzige Grund, warum die Ratten noch auf Distanz blieben, war: Vermutlich wussten sie, wie hungrig die kleinen Mädchen waren; vielleicht hungriger als sie selbst.
Als sie ihnen näherkam, schnappte das rechte Mädchen sofort nach ihr. Die Ketten rasselten. Es knurrte, leckte sich über die Lippen, schwarze Schmiere kam hervor, der Sabber war so lang, dass er bis zum Boden hing. Dies verdeutlichte den wahren Hunger und die Absichten dieses Dings.
Es dauerte kaum länger als eine Sekunde, bis sie die Machete nach oben schwang; drei weitere, um beide zu enthaupten. Am Ende fiel sie auf ihre Knie und fing leise an zu schluchzen.
Was war aus ihr geworden? War dies die Art und Weise, wie sie den Rest ihres erbärmlichen Lebens fortführen musste?
Mit den beiden sie anstarrenden Köpfen der Mädchen vor sich – ein Publikum, auf das sie gerne hätte verzichten können –, versuchte sie, sich wieder zu fassen, kam auf die Beine und ging hinaus in die Nacht.
Es wurde von Minute zu Minute kälter.