ZWÖLF

Was sie betraf, war der Morgen nicht schnell genug angebrochen. Es musste zu schneien angefangen haben, kaum dass sie die Rückseite des Hauses erreicht hatte. Sie konnte fast nichts durch die Fenster sehen, da die Bretter, die davor angenagelt worden waren, ihr die Sicht raubten. Schockiert sah sie eine mindestens 15 Zentimeter dicke Schneeschicht, als sie das Haus verlassen wollte.

Das war nett.

Es wäre aber noch viel netter gewesen, gäbe es keine Untoten, die mit einer Vorliebe für Menschenfleisch unterwegs waren, aber man kann eben nicht alles haben, oder doch?

Sie verließ das Haus mit mehr Kleider-Schichten am Körper als nötig. Es war auf jeden Fall besser so. Eine Möglichkeit etwas auszuziehen, gab es immer, andersrum würde ihr sonst die Kälte übel zusetzen.

Sie überquerte das Feld und ging in die Stadt, wohl wissend, dass sich die Kreaturen dort irgendwo tummelten. Der Unterschied war nun: Sie konnte sie nicht richtig sehen. Es war einfacher, ihnen auszuweichen – oder sie zu jagen –, wenn die Sonne schien, obwohl sie dank des Schnees deren Schritte eher hören konnte.

Aber sie hatte auch ein Problem.

In dem Haus fühlte sie sich nicht mehr wohl; sie wollte mehr, etwas Größeres, einen Ort, an dem es mehr als nur ein Fenster mit einer Pressspanplatte davor gab. Rund um das Feld schienen sich noch mehr Dinger als am Vorabend zu tummeln. Und sie hatte keine Ahnung, warum.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die sich an den Fenstern und Türen zu schaffen machen würden; ihr Zufluchtsort war nicht länger unverwundbar. Hinzu kam die Tatsache, dass es keine Heizung gab – der Schneefall verriet ihr, wie kalt es war und wie lange diese Kälte während der kommenden Wochen noch andauern würde – und sie wusste, dass sie irgendwo anders unterkommen musste.

Durch den Schnee stapfend, nur mit einem kleinen Rucksack ausgestattet, erreichte sie den äußeren Stadtrand. Dabei wurde sie ihrer neu aufgekeimten Kraft gewahr. Offenbar wirkte ein mit Erdbeerwasser hinuntergespülter Bohneneintopf Wunder. Sie fühlte sich, als ob sie nun tagelang ohne Pause laufen könnte.

Sie hoffte nur, dass es nicht nötig wäre.

Nach einer kurzen Pause und einem Schluck Wasser – normalen, geschmacklosen – ging sie weiter und folgte den Schildern an jeder Kreuzung.

Der Schnee fiel dichter, wieder einmal, was sie an vergangene Weihnachten erinnerte, als alles noch normal gewesen war – zumindest normaler als sonst – und wie da der Schnee vor dem Fenster gefallen war. Sie verdrängte die Erinnerung, als sie ein großes Gebäude erreichte.

Da es von allen Seiten von einem schwarzen, schmiedeeisernen Zaun umgeben war, wirkte es wie ein Ort, an dem das britische Königshaus zu Besuch war. Die goldenen Kerzen an den Spitzen des Zaunes bestärkten dieses majestätische Aussehen. Sie starrte die lange, gewundene Auffahrt entlang, ein Versuch herauszufinden, um was für eine Art Ort es sich handelte. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, eigentlich war sie noch nie auf dieser Seite außerhalb der Stadt gewesen.

Es gab keinen Weg hinein, zumindest nicht von dort, wo sie stand. Der Zaun schlängelte sich rund um das Gelände und schottete es somit von der restlichen Welt ab.

Es war perfekt.

Es war genau das, wonach sie gesucht hatte.

Nachdem sie am Zaun entlanggegangen war, traf sie auf den vermeintlichen Haupteingang. Was auch immer dies für ein Ort war, er war für Besucher gedacht. Kleine Schilder befanden sich an der Einfahrt; eines davon zeigte zum großen Tor und darauf stand: MUSEUMSEINGANG, während ein anderes auf die Rückseite des Gebäudes verwies, wo sich eine Cafeteria und die öffentlichen Toiletten befanden.

Ein Museum.

Sie ging die Auffahrt entlang. Unter der ständig höher werdenden Schneeschicht knirschte Kies. Hoch konzentriert musterte sie ihre Umgebung. Sie wollte sichergehen, dass ihr keine der Kreaturen auf den Fersen war. Ein paar von denen waren aus der Entfernung zu hören, irgendwo hinter ihr, aber sie schienen genug weit weg zu sein und stellten somit keine Bedrohung dar.

Das Tor war zum Glück nicht abgeschlossen. Sie schob es auf und fand sich selbst in einer bemerkenswerten Empfangshalle wieder. Bei so manchen Gelegenheiten hatte sie zwar schon einen Elefanten gesehen, aber noch nie dessen Skelett. Es war atemberaubend. Genau hier aufgestellt, wo vermutlich die Besucher in Empfang genommen wurden und man ihnen versicherte, dass sie hier erstaunliche Dinge zu sehen bekommen würden, sah es aus, als wurde das Skelett einfach des Fleisches und der Haut beraubt.

Hinter ihr klackte das Tor zu und sie entdeckte den Riegel, der ihr ein wenig Sicherheit gab. Jetzt, da abgeschlossen war, ging sie – weg von diesem prächtigen, knöchernen Tier – in den ersten Raum.

Das Erste, was ihr auffiel, war der Temperaturunterschied. Im Empfang war es noch kalt, fast so wie draußen, aber hier war es angenehm warm und wohnlich. Ein Anzeichen dafür, dass die Heizung noch funktionierte, was sie sehr froh stimmte. Licht strahlte aus den drei teuer aussehenden Kronleuchtern. Sie hatte es warm, sie hatte Licht und sie nahm an, dass es hier irgendwo auch etwas zu essen gab. Das Schild an der Einfahrt hatte auf eine Cafeteria hingewiesen, aber sie wollte nicht dorthin, um etwas zu essen; Sandwiches wären jetzt genauso schlecht wie Kuchen oder Gelatinezeug. Vielleicht gab es dort einen Tiefkühler, aber das wollte sie später herausfinden. Fürs Erste musste sie nachsehen, ob sie hier drinnen sicher war.

Gibt es hier eine Alarmanlage?

Sie wusste es nicht und auch das wollte sie später herausfinden.

Jetzt war sie erst mal mit dem zufrieden, was sie hatte; es war ein verdammt viel besseres Haus als das vorige. Jetzt gab es keinen Anlass mehr, dorthin zurückzukehren. Die wenigen Dinge, die sie dort zurückgelassen hatte, waren austauschbar, und sie zu holen, wäre ein Weg in die falsche Richtung.

So fing sie an, sich an ihr neues Zuhause zu gewöhnen.