FÜNFZEHN
Der Dinosauriersaal gefiel ihr am besten. Diese bereits vor Millionen von Jahren ausgestorbenen Tiere hatten irgendetwas Magisches an sich. Einige der Dinosaurier hätten sich bewegen sollen, aber da sie stromlos waren – oder nicht mehr funktionierten –, standen sie in ihrer herrlichen Pracht einfach nur da.
Seit Wochen fühlte sie sich wieder etwas lebendiger. Ob es daran lag, dass es hier sicherer war oder sie hier Nahrungsmittel hatte, wusste sie nicht. Was sie jedoch wusste, war, dass dieser Giganotosaurus vor 90 Millionen Jahren, in der späten Kreidezeit, gelebt hatte, und dieses wenige Wissen machte sie glücklich.
Ihr war es gelungen, einen Automaten mit nichts anderem als einem Brecheisen und roher Gewalt zu öffnen. Der erste Schokoriegel schmeckte herrlich, der zweite noch besser. Nach dem Dritten musste sie verschnaufen.
Doch wie sie sich kannte, würde das nicht lange dauern. Das war nur vorübergehend, und diesen Luxus konnte sie sich einfach wieder gönnen.
Nein, die Rationierung war voranging. Je schneller sie sich durch den Automaten arbeitete, desto schneller müsste sie sich wieder in die Welt hinauswagen. Soweit es sie betraf, konnte sie bis zum Rest ihres Lebens hier im Museum verweilen, niemals mehr jemand anderes sehen, niemals mehr auf eine dieser Kreaturen stoßen.
So würde es nicht kommen, aber es wäre schön. Zumindest für jetzt.
Sie suchte nach dem nächsten Raum, in dem das Thema das alte Rom zu sein schien. Darin befanden sich Tuniken und Togen hinter Glaswänden; einige von ihnen waren in einem besseren Zustand als die anderen. Aber das alles war schon sehr, sehr alt, und die Risse in mancher Kleidung waren somit kaum verwunderlich.
Kriegsbekleidung hing etwas weiter an der Wand verteilt. Sie erkannte einen Brustpanzer, Tuniken, Gürtel und Armschutze. Sollten sie echt sein, waren sie in einem sehr guten Zustand. Vielleicht war der Feind zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Dorfbewohner anstatt der Krieger zu erwischen, zumindest dem Zustand der Tuniken nach zu urteilen.
Sie fand ein Buch über die Römer und nahm es mit in den Dinosauriersaal.
Sie kauerte sich in eine Ecke, eingewickelt in einen indianischen Powwow Schal, den sie im dritten Raum gefunden hatte, und begann zu lesen.
Dabei schlief sie vor dem Ende der zweiten Seite ein.
***
»Werden sie sie töten?«, wollte Kelly Bloom von ihrer Mutter wissen. »Ich möchte nicht, dass sie sterben.«
Susie verschluckte sich fast an ihrem Wasser; es spritzte ihr wie ein wässriges Niesen aus der Nase. »Kelly, niemand wird irgendwen töten«, beruhigte sie ihre Tochter, dann wischte sie sich den Mund ab. »Sie sind ihnen nur nach, um sicherzustellen, dass sie nichts Dummes anstellen.«
Kelly war nicht dumm, und ohne nachzudenken, bohrte sie nach: »Aber die alte Frau hat gesagt, dass sie sie töten wollen. Warum sollte sie so etwas sagen, wenn es nicht stimmt?«
Verfluchte Maggie Cox; Susie hätte ihr am liebsten eine Menge Scheiße an den Hals gewünscht, nicht, dass das irgendetwas gebracht hätte.
»Sie hat nur gemunkelt, Liebes«, sagte Susie, dabei streichelte sie ihrer Tochter durch die Haare, welche verfilzt und schmierig waren und außerdem etwas zu riechen begonnen hatten. Heute war Waschtag; Susie würde sicherstellen, dass Kellys Haare dabei ordentlich gewaschen wurden.
»Ich sagte die Wahrheit«, erklang eine Stimme. Sowohl Susie als auch ihre Tochter drehten sich um, um Maggie Cox nur wenige Schritte entfernt stehen zu sehen. »Das Problem ist nur, dass niemand hier auch nur ein wenig einer alten Schachtel wie mir zuhören möchte.«
»Glauben Sie?«, fragte Susie. »Ich möchte nicht, dass Sie in Gegenwart meiner Tochter so reden.«
»Oh, ich bin mir sicher, dass es sie nicht stört«, fuhr die ältere Frau fort, dann lächelte sie, was ein paar verfärbte Zähne zum Vorschein brachte. Sie kam einen Schritt näher und setzte sich mit verschränkten Beinen neben Kelly. »Du hast doch sicher nichts dagegen, dass ein dummes altes Weib dumme Worte von sich gibt?«
»Mommy sagt, es ist unhöflich zu schwören«, sagte Kelly, unsicher, ob es ihr erlaubt war, mit Maggie Cox zu sprechen oder auch nicht. Sie sah nervös zu ihrer Mutter.
»Das ist richtig, Kelly«, sagte Susie mit mehr Stolz, als sie es in Worte hätte fassen können. Zu Maggie sagte sie: »Ich habe ihr beigebracht, andere Menschen zu respektieren, selbst wenn die es nicht wirklich verdienen.«
»Nun«, grinste Maggie. »Das ist Ihr Fehler, nicht wahr?« Sie wandte sich an Kelly. »Obwohl es stimmt. Was ich zu dem bösen Menschen sagte, ist wahr.«
Susie hatte nicht die Absicht, dies zu dulden. Ihre Tochter war leicht zu beeindrucken, zu leicht für ihr Alter. Die alte Frau schien nett zu sein. Vielleicht hatte sie schon früher an diesem Tag Dampf abgelassen. Doch selbst nett zu sein, verschaffte ihr nicht das Recht, den Kopf ihrer Tochter mit Märchen vollzustopfen.
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre kleinen Verschwörungstheorien für sich behalten würden«, meinte Susie. Dabei versuchte sie, nicht zu unfreundlich zu klingen, was ihr jedoch schwerer fiel, als sie erwartet hatte.
Maggie ignorierte Susie vollkommen und sagte: »Möchtest du die Wahrheit hören oder nicht? Selbst wenn du ein kleines Mädchen bist, brauchen dich Erwachsene nicht anlügen, oder?«
Kelly schüttelte ihren Kopf. »Mommy sagt, dass Lügen schlecht ist.«
Susie spürte, wie die Wut in ihr hochkochte. Sie griff nach Kellys Schulter und wollte die unangenehme Situation beenden, als sie von einer Stimme unterbrochen wurde.
Quer durch den Raum rief einer der Soldaten – dessen Namen sie nicht kannte – nach Maggie.
Ein verwirrter und auch ängstlicher Ausdruck zeichnete sich im Gesicht der alten Frau ab; ein Ausdruck von Unsicherheit.
»Sollte ich in einer halben Stunde nicht wieder zurück sein«, sagte Maggie, die gerade wieder auf die Füße kam, ihr Rücken knackte dabei hörbar, »dann wirst du erkennen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.« Sie lächelte. Kelly erwiderte ihr Lächeln, obwohl sie sich Sorgen um die alte Dame machte.
»Hier drüben«, sagte Maggie, die mit ihrer arthritischen Hand durch die Luft wirbelte. »Hab ich etwas gewonnen?«
Ein paar Leute lachten, obwohl die ernsten Mienen der Soldaten nicht den geringsten Anlass dazugaben.
Er winkte sie heran, ohne etwas zu sagen. Sie machte sich in aller Ruhe auf dem Weg durch den Raum und durch die Türen hinaus. Als sie ging, zog sie sich ihren lila Schal fester um ihren Hals.
»Werden sie ihr wehtun?«, fragte Kelly. Die Frage kam so unerwartet, dass Susie fast an ihrem Speichel erstickte.
»Natürlich nicht«, antwortete Susie, dabei streichelte sie das Gesicht ihrer Tochter mit dem Handrücken. »Die Dame braucht vermutlich nur etwas Medizin, oder etwas anderes.«
Ihr war bewusst, dass das eine Lüge war, aber sie wusste absolut nicht, was sie sonst hätte sagen sollen.
Kelly schüttelte den Kopf und starrte auf das Leintuch, auf dem sie saß. »Ich habe wirklich ein schlechtes Gefühl, Mommy«, sagte sie. »Ich denke, ich werde mal eine Weile schlafen.«
Susie zwang ein Lächeln hervor. »Ich denke, dass das eine gute Idee ist«, sagte sie. »Ich werde dich wecken, sobald das Essen fertig ist.«
Kelly schlief in weniger als vier Minuten ein; ihre Mutter streichelte ihre Haare und grübelte darüber, was in der Welt schiefgegangen war.