NEUN

»Mach das nie wieder«, sagte Marla, als Shane vom Tor zurückkam. »Um Himmels willen, Shane! Du hättest gebissen werden können. Hast du den Verstand verloren?«

Shane fuhr los und rang nach Atem. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine Belehrung. »Ich hab sie umgebracht«, erklärte Shane. »Wir wissen, dass sie schauen, von wo wir kommen. Ich habe keine Ahnung, wie klug die sind, oder ob sie kommunizieren können, aber wenn das verfluchte Ding seinen Freunden sagen könnte, wo sich all das Fleisch versteckt hält, würde die Sache für die Leute hier nicht gut ausgehen.«

»Sie schaffen es nicht durch das Tor«, widersprach Marla. »Das hast du selbst gesagt.«

»Was nicht heißen soll, dass wir sie herausfordern sollten«, entgegnete Shane. »Außerdem, sobald wir hier draußen fertig sind, müssen wir auch in der Lage sein, wieder hineinzukommen. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber eine Horde, die vor dem Tor auf uns wartet, könnte dieses Vorhaben erschweren.«

Marla verfiel in Schweigen. Nicht deswegen, weil sie nichts zu sagen hatte – das hatte sie immer und sie tat es auch immer –, es war, weil sie wusste, dass er recht hatte. Sie hatte vergessen, dass sie wieder zurückkommen würden. Aus irgendeinem Grund fühlte es sich nach einer One-Way-Mission an.

Shane überprüfte die Tankanzeige. Sah gut aus; die Nadel befand sich irgendwo zwischen einer viertel und halben Füllung, was sie zumindest zu ihrem Ziel bringen sollte. Das Fassungsvermögen eines Snatch, so vermutete Shane, konnte eine Menge sein, und ein Viertel davon entsprach in etwa dem vollen Tank eines normalen Wagens.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Shane. »Sollten wir irgendwo tanken müssen, lasse ich es dich wissen.«

Der Jeep rollte vor, auf den Sonnenaufgang zu und Richtung Megan und Holly.

Hinter ihnen brach die Hölle los.


***

Victor Lord kam die Treppen zum Hauptlager hinab. Der Anblick des Zeltmeers und der Schlafsäcke erinnerte ihn jedes Mal an die Rettungsmission in China, nach dem Erdbeben der Stärke 8.2. Der einzig wahre Unterschied war die Bereitschaft zu gehorchen. Die Chinesen waren verzweifelt, verstanden nichts und waren ziemlich angepisst, weil ihre Häuser nun Ruinen waren. Das Letzte, was sie nun brauchten, waren Amerikaner, die ihnen vorschrieben, was sie zu tun und was sie zu lassen hatten, und das zeigten sie ihm, indem sie sich seinen Befehlen widersetzten und nur das taten, was sie für richtig hielten.

Hier war es nicht so.

Die Überlebenden brauchten ihn; er war stark, ein geborener Anführer. Sie wussten, auf welcher Seite das Gras grüner war. Und sie wussten auch, dass es besser war, sich nicht mit ihm anzulegen und es keineswegs zu riskieren, hier rausgeworfen zu werden.

Als die Leute mit Decken behangen aus ihren Zelten schlüpften – einige von ihnen stolperten in ihren Schlafsäcken herum, um etwas frische Luft zu bekommen –, trat der Captain so auf, wie es jeder gute Anführer tun würde. Eine Menge Leute waren in der Halle versammelt, und während der ganzen Zeit war es schwer zu sagen, ob einige in der Nacht gestorben waren. Man musste wirklich genau hinsehen, um die Bewegungen der Älteren mitzubekommen. Ganz und gar nicht wollte er eine Halle, in der es nach Tod miefte.

Obwohl der Leichnam von Max Martigan sofort entsorgt worden war. Seine Männer hatten den Körper aus dem Lagerraum geschafft und ihn später verbrannt. Wenn überhaupt, hatte diese Aktion ihnen kurz Wärme gespendet und solange man nicht gegen den Wind stand, war der Gestank auch kaum wahrzunehmen gewesen.

Victor stieg über eine schlafende Frau – eine ihm unbekannte, aber er war ja auch nicht da, um Freunde zu gewinnen – und zog den Reißverschluss eines Zeltes auf.

Er hockte sich hin und spähte hinein.

»Alle noch am Leben da drinnen?«, fragte er wie ein Hai, der eine Planktonansammlung angrinste.

Eine ältere Dame starrte ihn an, es wirkte wie eine Respektlosigkeit dem Anführer gegenüber. Es war Maggie Cox mit ihren silbernen Haaren und sie sagte spitzzüngig: »Captain, was zum Teufel! Sie hätten wohl den Schock ihres Lebens bekommen, wenn ich meine Titten hier hätte heraushängen lassen.«

Victor lächelte. »Lady, es friert. Wenn Sie Ihre Titten hätten heraushängen lassen, wäre ich äußerst überrascht darüber gewesen.«

»Machen Sie einfach weiter und verschwinden Sie«, fauchte Maggie, ihr Blick wanderte durch das Zelt, auf der Suche nach etwas, was sie auch fand – eine Zigarettenschachtel. Sie zündete sich eine davon an und blies den Rauch, der das Zelt innerhalb weniger Sekunden füllte, in Victors Richtung. »Ich bin mir sicher, dass es andere gibt, die Sie belästigen können.«

Victor hustete, als der Rauch ihn erreichte. »Wollte nur nachsehen, ob Sie die Nacht überstanden haben«, sagte er so, als ob sie jegliches Recht hätte, hier tot herumzuliegen.

»Das könnte Ihnen verdammt noch mal so passen, was?«, spuckte Maggie, dabei fuchtelte sie mit ihrer Zigarette in der Luft herum. »Tja, Captain, mir geht’s gut, ich bin nicht dabei zu sterben, für lange, lange Zeit nicht, also lassen Sie mich in Frieden und hauen Sie schon ab.«

Victor lächelte gekünstelt und unaufrichtig. In Wahrheit ließ es ihn völlig kalt, sollte die alte Hexe verrecken. Ihre Beiträge für dieses Lager waren nicht existent und sie zollte ihm und seinen Männern keinen – oder nur wenig – Respekt. Das Mindeste, das sie tun konnte, war, abzudanken und Platz für die Jungen und Starken zu machen.

Victor hätte beinahe etwas gesagt, was er mit Sicherheit bereut hätte, als eine panische Stimme in den Raum drang.

»Captain? Captain? Hat irgendwer den Captain gesehen?«

Victor schnitt der alten Frau eine Grimasse, nur um seinen Hass ihr gegenüber zu bestätigen – als wenn ihr das nicht sowieso schon bewusst war – und ging aus dem Zelt.

Als er aufstand, entdeckte er David Moon, Stewart Randall und Henry Colburn, die sich ihren Weg durch das Camp bahnten. Jeder von ihnen sah beunruhigt aus; und das war etwas, was Victor noch nie an seinen Männern aufgefallen war.

»Was ist los?«, rief Victor und machte sie dabei auf sich aufmerksam. Als sie ihn sahen, seufzten sie erleichtert. Aus allen Zelten kamen Überlebende und versuchten herauszufinden, was los war; offensichtlich war es nichts Gutes. Es in alle Gesichter jener tätowiert, die Tarnanzüge trugen.

David Moon blieb neben dem Captain stehen. Er wollte gerade etwas sagen, als ihm das Publikum auffiel. Victor auf der anderen Seite wirkte ungeduldig, er schien auf schlechte Nachrichten gefasst zu sein. Er gab wirklich einen Scheiß darauf, ob die Gruppe zuhörte. Wie übel konnte es schon sein?

»Auf ein Wort«, sagte Moon und deutete auf die Doppeltür am Ende der Halle.

Victor seufzte und machte sich auf den Weg; Blicke folgten ihm. Die Leute fingen an zu flüstern, vermutlich spekulierten sie darüber, was los war. Es gab Gerede über Ausfälle der Generatoren, darüber, dass Untote durchgedrungen waren und nun draußen Kontakt mit dem CDC und allen Männern hatten.

Als die Doppeltür hinter ihnen zuflog, machte sich die Gruppe an ihre morgendlichen Rituale, perplex und gleichgültig.

Was könnte wohl ihre aktuelle Situation verschlimmern?


***

»Sollten besser gute Neuigkeiten sein«, blaffte Victor, dabei schob er eine nicht brennende Zigarre in seinem Mundwinkel hin und her. Eines Tages würde er sie anzünden, aber jetzt noch nicht.

Die drei Soldaten sahen einander an, sie schienen abzuwägen, wer als Erster zu reden anfangen sollte. Es war David Moon.

»Es geht um Shane«, fing Moon an. »Er hat dieses Mal richtig auf die Kacke gehauen.«

Victor biss ziemlich fest auf die Zigarre, so stark, dass sein Kiefer schmerzte. »Und was hat dieser elende Hundesohn diesmal angerichtet?«

Moon seufzte. »Er ist weg, Sir. Er hat den Snatch mitgenommen und … naja, er ist damit abgehauen! Er hat meine Schrotflinte dabei, dieser Dreckskerl!«

Von diesen drei Informationen, die Victor gerade zu Ohren bekommen hatte, interessierte ihn nur eine.

»Der Snatch?«, wiederholte er. »Der einzige anständige Transporter, den wir haben?«

Moon nickte. Hinter ihm tauschten die beiden Soldaten nervöse Blicke aus.

»So scheint es«, antwortete Moon. »Wir glauben allerdings, dass er nicht alleine unterwegs ist. Die Ärztin ist nirgendwo zu finden, und dieser Bibelverrückte und sein Zellenkumpel sind auch weg. Sir, sie sind desertiert.«

Im Gang wurde es eiskalt. Die Soldaten zitterten sichtbar, ihre Zähne klapperten. Victor Lords Blut fing an zu brodeln.

»Auf diese Leute gebe ich einen Scheiß«, meinte Victor, dabei kaute er so auf der Zigarre herum, als ob sie ihm etwas angetan hätte. »So wie ich das sehe, sind es nun vier Mäuler weniger zu stopfen. Worüber ich mir Sorgen mache, ist der verdammte Jeep. Wir brauchen ihn … ich brauche ihn. Diesmal haben diese Schwänze verschissen und es wird keine Gnade geben.«

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Stewart Randall, der von einem Bein auf das andere hüpfte, ein Versuch, etwas Wärme zu erzeugen. »Sie sind vermutlich schon eine ganze Weile weg und da draußen wimmelt es nur so von den Dingern.«

Victor spuckte seine Zigarre aus und steckte sie ein. »Schafft den verfluchten Piloten her«, befahl er, die Zahnräder in seinem Kopf fingen an zu arbeiten. »Wir holen uns das Fahrzeug zurück. Auf dem einen oder anderen Weg, und diese Arschlöcher werden sich wünschen, niemals Captain Victor Lord begegnet zu sein.«