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Das Wartezimmer des Neurologen war in hellem Holz getäfelt, makellos sauber: Ständer mit den aktuellen Tageszeitungen, eine Kiste mit politisch korrektem Holzspielzeug, Exemplare von Highlights und Architectural Digest und bequeme Ledersofas und Sessel, die sich im richtigen Winkel stehend ergänzten. Durch eine Reihe Fenster mit durchscheinenden Vorhängen fiel ein angenehm diffuses natürliches Licht in die Räume. Ein großer Perserteppich, der den Raum beherrschte, vervollständigte das Bild einer prosperierenden und erfolgreichen Arztpraxis.
Trotz der zu hoch eingestellten Klimaanlage spürte Gideon eine gewisse Klebrigkeit an den Handflächen, als er nervös die Tür hinter sich schloss. Er ging zum Empfangstresen und nannte seinen Namen.
»Haben Sie einen Termin?«, fragte die Arzthelferin.
»Nein«, sagte Gideon.
Die Frau sah auf den Computerbildschirm und sagte: »Es tut mir leid, aber Dr. Metcalfe hat heute keine freien Termine mehr.«
Gideon blieb stehen. »Aber ich muss ihn sehen. Bitte.«
Zum ersten Mal wandte sich die Frau um und schaute ihn an. »Worum geht es?«
»Ich möchte die Ergebnisse erfahren … einer Kernspintomographie, die ich kürzlich habe machen lassen. Ich habe versucht anzurufen, aber sie wollten mir die Ergebnisse nicht übers Telefon durchgeben.«
»Das ist richtig«, sagte sie. »Wir geben die Ergebnisse nie am Telefon durch – ob positiv oder negativ. Das heißt nicht notwendigerweise, dass es ein Problem gibt.« Sie schaute den Computerbildschirm durch. »Wie ich sehe, haben Sie einen Termin verstreichen lassen … Sie könnten morgen früh kommen, wie wär’s damit?«
»Bitte helfen Sie mir, dass ich den Arzt jetzt sehen kann.«
Sie schenkte ihm ein durchaus verständnisvolles Lächeln. »Mal sehen, was ich machen kann.« Sie stand auf und verschwand in einem Gewirr von Praxisräumen. Einen Augenblick später kam sie heraus. »Durch die Tür, einmal rechts und dann links. Untersuchungszimmer zwei.«
Gideon folgte der Anweisung und betrat das Zimmer. Eine Krankenschwester mit Klemmbrett und einem fröhlichen »Guten Morgen« auf den Lippen erschien, ließ ihn auf dem Untersuchungstisch Platz nehmen, nahm seinen Blutdruck und seinen Puls. Gerade als sie damit fertig war, erschien eine große Gestalt im Türrahmen. Die Krankenschwester eilte los, reichte der Gestalt das Klemmbrett und verschwand.
Der Arzt trat ein, ein ernstes Lächeln auf dem gütigen Gesicht, der Halbkranz aus gelocktem Haar wurde von hinten von der hellen Morgensonne beschienen, die durchs Fenster strömte. Dadurch sah er aus wie ein großer, vergnügter Engel.
»Guten Morgen, Mr. Crew.« Er ergriff Gideons Hand und schüttelte sie fest und freundlich. »Nehmen Sie doch Platz.«
Gideon, der aufgestanden war, als der Arzt eintrat, setzte sich wieder. Der Arzt blieb stehen.
»Ich habe hier die Ergebnisse der Schädel-Kernspin, die wir vor einer Woche gemacht haben.«
Am Tonfall des Neurologen erkannte Gideon sofort, was er sagen würde. Er fühlte sich in den Fängen einer Flucht-oder-Kampf-Reaktion, sein Herz pochte, der Blutdruck stieg an, die Muskeln verkrampften. Er versuchte mit aller Kraft, sich zu beruhigen.
Dr. Metcalfe hielt inne, dann setzte er sich auf eine Ecke des Tisches. »Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen ein Wachstum der Blutgefäße im Gehirn, das wir als AVM oder arteriovenöse Malformation bezeichnen …«
Gideon erhob sich abrupt. »Das war’s. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Vielen Dank.« Er ging zur Tür, wurde aber vom Arzt aufgehalten, der ihm die Hand auf die Schulter legte, um ihn zu besänftigen.
»Ich nehme also an, dass Sie sich bei mir eine zweite Meinung einholen wollten und bereits Bescheid wussten?«
»Ja«, sagte Gideon. Er wollte nichts anderes, als zur Tür hinauszugehen.
»Also gut. Ich glaube jedoch, dass Sie davon profitieren würden, wenn Sie sich anhören, was ich zu sagen habe – wenn Sie denn bereit sind, mir zuzuhören.«
Gideon blieb stehen. Mit Mühe bekämpfte er den Impuls, davonzulaufen. »Dann sagen Sie es einfach. Reden Sie es nicht schön. Und ersparen Sie mir Mitleidsbekundungen.«
»In Ordnung. Ihre AVM betrifft die große Vena Galini und ist sowohl angeboren als auch inoperabel. Dieser Typus von Missbildung neigt mit der Zeit dazu, zu wachsen, und es gibt Hinweise, dass Ihre wächst. Eine anormale, direkte Verbindung zwischen der Hochdruck-Arterie und der Niedrigdruck-Vene führt in der Regel zu einer fortschreitenden Erweiterung der Vene und zur Vergrößerung der AVM. Darüber hinaus gehört zur AVM eine venöse Anomalie, die offenbar den Blutfluss einschränkt und zu einer weiteren Vergrößerung der Vene führt.« Er hielt inne. »Benutze ich zu viele Fachbegriffe?«
»Nein«, sagte Gideon. In gewisser Weise nahm ihm das fachliche Vokabular ein wenig von seiner Angst. Dennoch drehte sich ihm der Magen um bei der Vorstellung, dass dies in seinem Kopf stattfand.
»Die Prognose ist nicht gut. Ich würde schätzen, dass Sie noch sechs Monate bis zwei Jahre zu leben haben – wobei die Sterblichkeitsrate wahrscheinlich irgendwo um ein Jahr herum oder etwas darunter liegt. Andererseits finden sich in den Annalen der Medizingeschichte immer wieder Wunder. Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, was die Zukunft bringt.«
»Aber die Überlebensrate nach, sagen wir, fünf Jahren … ist wie hoch?«
»Verschwindend gering. Aber nicht null.« Der Arzt zögerte. »Es gibt Möglichkeiten, wie wir mehr herausfinden können.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr wissen möchte.«
»Verständlich. Aber es gibt ein Verfahren namens Zerebralangiographie, das uns sehr viel mehr über Ihre Situation sagen würde. Wir schieben in der Leistengegend in die Oberschenkelarterie einen Katheter und fädeln ihn bis zur Halsschlagader hinauf. Dort geben wir ein Kontrastmittel frei. Während sich dieses durch das Gehirn ausbreitet, machen wir eine Reihe von Radiographien, was uns erlaubt, die AVM zu kartographieren. Dadurch können wir genauer sagen, wie viel Zeit Sie haben … und vielleicht genauer erkennen, wie wir Ihren Zustand verbessern können.«
»Verbessern? Wie?«
»Durch eine Operation. Wir können das AVM nicht herausnehmen, aber es gibt andere chirurgische Optionen. Man kann um die Ränder herumarbeiten, sozusagen.«
»Was ließe sich dadurch erreichen?«
»Möglicherweise eine Lebensverlängerung.«
»Um wie lange?«
»Das hängt davon ab, wie schnell sich die Vene weitet. Einige Monate, vielleicht ein Jahr.«
Das führte zu einem langen Schweigen.
»Dieses Verfahren«, sagte Gideon schließlich. »Gibt es Risiken?«
»Bedeutende Risiken. Vor allem neurologische. Bei Operationen wie diesen besteht eine zehn- bis fünfzehnprozentige Sterblichkeitsrate, und eine zusätzliche vierzigprozentige Möglichkeit, das Gehirn zu schädigen.«
Gideon schaute dem Arzt in die Augen. »Würden Sie an meiner Stelle diese Risiken eingehen?«
»Nein«, sagte der Arzt, ohne zu zögern. »Ich würde nicht leben wollen, wenn mein Gehirn geschädigt wäre. Ich bin kein Spieler, und eine Fünfzig-fünfzig-Chance ist für mich nicht attraktiv.« Der Neurologe erwiderte Gideons Blick, seine großen braunen Augen waren voller Mitgefühl. Gideon erkannte, dass er in Gegenwart eines weisen Menschen war, einer der wenigen, denen er in seinem kurzen und relativ unglücklichen Leben begegnet war.
»Ich glaube nicht, dass die Angiographie notwendig sein wird«, sagte Gideon.
»Verstehe.«
»Gibt es sonst noch etwas, was ich in der Zwischenzeit tun muss, irgendetwas, was ich in meinem Leben ändern sollte?«
»Nein. Sie können ein normales, aktives Leben führen. Das Ende wird, wenn es kommt, vermutlich jäh kommen.« Der Arzt machte eine Pause. »Das Folgende ist nicht wirklich ein ärztlicher Ratschlag, aber ich an Ihrer Stelle würde Dinge tun, die mir wirklich etwas bedeuten. Wenn dazugehört, anderen zu helfen, umso besser.«
»Vielen Dank.«
Der Arzt drückte kurz Gideons Schulter und senkte die Stimme. »Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und uns anderen besteht darin, dass das Leben, während es für jeden kurz ist, für Sie einfach nur ein wenig kürzer ist.«