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Gideon packte verzweifelt den Hinterzwiesel des Sattels, während das Pferd von der Felskante absprang und eine steile, weiche Böschung hinabrutschte, wobei es den Abhang in kaum mehr als einem kontrollierten Sturz bewältigte. Als das Pferd unten war, strauchelte es und rutschte im Sand aus und schleuderte dabei beide Reiter nach vorn, so dass alle drei fast gestürzt wären. Doch wegen Alidas Reitkunst fing sich das Pferd, und sie brachte es zum Stehen. Es war schweißüberzogen und zitterte am ganzen Leib.
»Wir müssen weiter«, sagte Gideon.
Alida ignorierte ihn, tätschelte Sierra den Hals und beugte sich vor, um ihm beruhigende Worte zuzuflüstern. Im Hintergrund konnte Gideon herankommende Autos hören, sie rasten und hüpften über die Prärie oberhalb des Canyons, wo sie nicht zu sehen waren.
Sie richtete sich auf. »Ich werde Sie ausliefern.«
»Die werden uns beide erschießen.«
»Nicht, wenn die mich mit einer weißen Flagge sehen.« Sie packte ihre Bluse und riss sie mit einer derart heftigen Bewegung auf, dass die Knöpfe absprangen.
»Meine Güte!«, sagte Gideon.
»Sie können mich mal.« Sie hielt die Bluse in die Höhe und winkte, als wäre sie eine weiße Kapitulationsflagge. Gideon wollte die Bluse packen, aber Alida stand in den Steigbügeln auf und hielt sie so, dass sie außerhalb seiner Reichweite lag.
Gideon blickte über die Schulter. Er hörte, wie die Crown Vics sich mit ihren röhrenden großen V-8-Motoren dem Canyon näherten. Rufe, zuklappende Türen waren zu hören, und dann erschien über der Felskante rund dreihundert Meter von ihnen entfernt ein Kopf.
»Wir kapitulieren!«, rief Alida und wedelte mit der Bluse. »Nicht schießen!«
Ein Schuss fiel und ließ Sand vor ihnen aufspritzen.
»Himmelherrgott!« Sie winkte fieberhaft mit der Bluse. »Seid ihr blind. Wir ergeben uns!«
»Die kapieren das nicht«, sagte Gideon. »Wir sollten lieber von hier verschwinden.«
Das Pferd begann zu tänzeln. Rings um sie herum ließen die Kugeln Sand aufspritzen. Gott sei Dank, dachte Gideon, schießen die mit Handfeuerwaffen. »Reiten Sie los, verdammt noch mal!«
»Scheiße«, murmelte Alida und gab dem Pferd die Sporen. Und dann legte Sierra los. Entlang der südlichen Kante erschienen allmählich weitere Köpfe. Alida und Gideon galoppierten durch das trockene Flussbett, während von oben weiterhin Schüsse abgegeben wurden.
»Warten Sie mal.« Geschickt schlug Alida mit dem Pferd Haken, während sie davongaloppierten, damit sie ein schwierigeres Ziel abgaben. Schüsse zischten vorbei. Gideon beugte den Rücken und rechnete jeden Augenblick damit, zu spüren, wie eine Kugel ihr Ziel fand.
Und dennoch waren sie – beinahe wie durch ein Wunder – binnen Minuten den Schützen entkommen und immer noch unverletzt. Alida bremste das Pferd zu einem kurzen Galopp, zog ihr Hemd wieder an, und sie ritten weiter durch das trockene Flussbett, das sich zwischen zwei steilen Hügeln zu einer schmalen Schlucht verengte, die – wie Gideon bemerkte – jedes Vorrücken der FBI-Autos blockieren würde.
Alida zügelte das Pferd zu einem Trab.
»Wir müssen das Tempo halten«, sagte Gideon.
»Ich bringe doch Ihretwegen nicht mein Pferd um.«
»Die schießen, um uns zu töten, das ist Ihnen doch sicherlich klar, oder?«
»Natürlich ist mir das klar! Was haben Sie bloß angestellt?«
»Die scheinen mich für einen der Terroristen zu halten, für einen mit der Bombe.«
»Und? Sind Sie es?«
»Spinnen Sie? Die Ermittlung ist von Anfang an ein einziger Pfusch gewesen.«
»Die scheinen aber verdammt überzeugt zu sein.«
»Sie haben selbst gesagt, dass die dämlich sind.«
»Ich habe gesagt, dass Sie dämlich sind.«
»Das haben Sie nie gesagt.«
»Stimmt, aber ich habe es gedacht. Und Sie beweisen es immer wieder.«
Das Flussbett, das die Ausläufer der Jemez Mountains hinaufführte, wurde steiler und war übersät mit schwarzen Felsblöcken. Das Pferd suchte sich sorgfältig seinen Weg in dem schwierigen Gelände.
»Schauen Sie, ich bin kein Terrorist«, sagte Gideon.
»Ich bin ja so beruhigt.«
Sie ritten schweigend eine halbe Stunde lang, während das Flussbett in die Berge hinaufführte, das Terrain wurde noch rauher, und die kleinen Pinien und Wacholder wichen hohen Ponderosakiefern. Als das Flussbett sich in Nebenflüsse aufteilte, ritten sie in einen nach dem anderen, bis sie sich in einem Gewirr kleiner Schluchten befanden, deren Hänge mit großen Bäumen bestanden waren.
»Okay, ich sage Ihnen jetzt, was wir machen«, sagte Alida. »Sie nehmen mir die Handschellen ab, ich reite zurück, und Sie gehen zu Fuß weiter.«
»Das geht nicht. Wir sind aneinandergefesselt, schon vergessen?«
»Sie können die Kette doch aufbrechen. Schlagen Sie sie mit einem Stein entzwei.«
Nach kurzem Überlegen sagte Gideon: »Im Augenblick kann ich Sie einfach nicht gehen lassen. Ich benötige Ihre Hilfe.«
»Sie meinen, Sie brauchen eine Geisel.«
»Ich muss meine Unschuld beweisen.«
»Ich kann den Augenblick, wenn ich Sie übergebe, gar nicht erwarten.«
Wütend und schweigend ritten sie weiter. Die Sonne stand inzwischen fast direkt über ihnen.
»Wir müssen Wasser finden«, sagte Alida in selbstbewusstem Tonfall. »Für mein Pferd.«
Nach zwölf gelangten sie auf einen hohen, bewaldeten Bergkamm, von dem sie einen Blick in das Tal hinter sich hatten.
»Moment«, sagte Gideon. »Ich möchte sehen, was da unten passiert.«
Alida brachte das Pferd zum Stehen, und Gideon wandte sich um. Durch den dichten Schirm aus Bäumen konnte er in die grasbewachsene Ebene unter ihnen sehen. Noch immer stieg eine riesige Rauchwolke aus den Ruinen der Filmkulisse, ringsum standen Feuerwehrfahrzeuge, die Wasserfontänen prasselten im hohen Bogen auf die Ruinen. Sein Blick folgte dem Lauf des Jasper Wash, und dort, am Beginn der steilen Hügel, sah er Reihen geparkter Fahrzeuge, Menschen, die sich sammelten, sowie etwas, das aussah wie eine Suchmannschaft, die das Flussbett hinaufstieg und ausschwärmte. Das leise Kläffen von Suchhunden drang zu ihm. Pferde wurden aus einem großen Transporter geladen, Reiter saßen auf und bildeten eine Art Trupp.
»Da kommt eine Fahndung in Gang«, sagte Alida. »Und hören Sie mal – Hubschrauber.«
Und tatsächlich, Gideon hörte einen dröhnenden Lärm, während sich gleichzeitig drei kleine schwarze Punkte am fernen blauen Himmel abzeichneten.
»Mann, Sie stecken ja ganz schön in der Scheiße.«
»Alida, ich weiß nicht, wie ich Sie dazu bringen kann, dass Sie mir glauben, aber ich bin absolut unschuldig. Das hier ist ein grotesker Irrtum.«
Sie sah ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. »Die Leute dort unten sind offenbar anderer Meinung.«
Sie ritten hinunter vom Bergkamm, überquerten eine weitere schmale Schlucht und ritten dann steil durch Gruppen von Douglasfichten, wobei riesige Felsbrocken und umgestürzte Bäume ihr Vorankommen behinderten. Sie querten Hänge und versuchten dabei, um Felsen und liegende Bäume herumzureiten.
»Wir müssen das Pferd zurücklassen.«
»Ausgeschlossen.«
»Es hinterlässt eine zu deutliche Fährte, die Hunde werden der Geruchsspur folgen. Wenn wir es freilassen, lenkt es die Suchtrupps von uns ab. Außerdem wird das Gelände zu rauh für ein Pferd.«
»Vergessen Sie’s.«
»Wenn wir Sierra gehen lassen, findet er schneller Wasser. In diesem Teil der Jemez gibt es kein Wasser. Vor allem nicht im Juni.«
Alida schwieg.
»Er ist erschöpft. Er trägt zwei Reiter. Er kann nicht so weitermachen. Schauen Sie ihn sich an.«
Wieder gab sie ihm keine Antwort. Das Pferd war tatsächlich erschöpft, pitschnass und ganz schaumig an den Sattelrändern und am Kummet.
»Wenn die uns einholen, kann es durchaus sein, dass sie erst Sierra erschießen und die Fragen später stellen. Sie haben doch gesehen, was da unten passiert ist. Die Jungs sind derart scharf darauf, mich zu töten, dass ihnen ein kleiner Kollateralschaden egal ist.«
Sie ritten jetzt einen kleinen Flusslauf hinauf, der in einem riesigen, gezackten Berghang mündete, der rings um sie herum steil aufragte. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie mussten dort in gerader Linie hinauf.
Alida brachte das Pferd zum Stehen. »Absitzen«, sagte sie.
Sie saßen – aneinandergekettet und ungelenk – ab. Sie löste die Satteltaschen und warf sie Gideon hin. »Die tragen Sie.« Sie nahm Sierra das Zaumzeug samt Zügel ab, band beides am Sattelhorn fest und gab dem Pferd einen Klaps aufs Hinterteil.
»Lauf«, sagte sie. »Hau ab von hier. Such dir selber was zu saufen.«
Das verwirrte Pferd schaute sie mit aufgerichteten Ohren an.
»Du hast mich richtig verstanden. Los!« Wieder versetzte sie ihm einen Klaps, und es trabte los, blieb noch einmal stehen und blickte verwundert zurück. Alida nahm einen Stock vom Boden und wedelte damit. »Hüa! Los!«
Das Pferd wandte sich um und schritt im Passgang davon, den Canyon hinunter.
Alida spuckte aus und drehte sich zu Gideon um. »Jetzt hasse ich Sie wirklich.«