18
San Ildefonso lag am Rio Grande in einem langgestreckten Pappelwäldchen am Fuße der Jemez Mountains, dort, wo die Straße nach Los Alamos abzweigte, das oben in den Bergen lag. Gideon war oft im Pueblo gewesen, um sich die Indianertänze anzusehen, insbesondere den berühmten Büffeltanz – es war eine beliebte Freizeitbeschäftigung für die Mitarbeiter des Labors. Aber heute lag das Pueblo so gut wie verlassen da, als sie dort hindurchfuhren, über die unbefestigte Plaza und an den alten Häusern aus getrockneten Lehmziegeln vorbei.
Ein überladener Pick-up-Truck rumpelte an ihnen vorbei und überzog ihr Auto mit einer Staubschicht.
Sogar die Indianer gehen weg, dachte Gideon.
An Rande der Plaza sahen sie eine Gruppe indianischer Männer, in mexikanische Decken gehüllt, im Schatten einer Adobeziegelmauer auf Holzschemeln sitzen, eine Reihe Holztrommeln vor sich. Sie zumindest schienen nicht in Panik verfallen zu sein, sondern tranken ihren Morgenkaffee.
»Augenblick mal«, sagte Fordyce. »Ich möchte mit denen reden.« Er drosselte das Tempo und hielt unter einer alten Amerikanischen Pappel.
»Wozu?«
»Vielleicht, um nach dem Weg zu fragen.«
»Aber ich weiß, wo die Schule ist …«
Fordyce stellte den Motor ab und stieg aus. Verärgert ging Gideon hinter ihm her.
»Hallo«, begrüßte Fordyce die Männer.
Die hatten ihr Näherkommen mit stoischen Mienen verfolgt. Es schien Gideon offensichtlich, dass sie im Begriff waren, mit ihren Trommeln zu proben, möglicherweise für einen Tanz, und über die Störung nicht sonderlich erbaut waren.
»Finden heute irgendwelche Tänze statt?«, fragte Fordyce.
Nach längeren Schweigen antwortete einer: »Die Tänze wurden abgesagt.«
»Vergessen Sie nicht, das in Ihrem Notizbuch festzuhalten«, murmelte Gideon.
Fordyce zeigte seinen FBI-Ausweis. »Stone Fordyce, FBI. Bitte entschuldigen Sie die Störung.«
Daraufhin herrschte Totenstille. Gideon fragte sich, was zum Teufel Fordyce damit bezweckte.
Er steckte den Ausweis weg und lächelte die Männer mit entwaffnender Freundlichkeit an. »Vielleicht haben Sie gelesen, was in New York City passiert ist?«
»Wer hat das nicht?«, lautete die lakonische Antwort.
»Wir ermitteln in dem Fall.«
Das löste eine Reaktion aus. »Ach ja?«, sagte einer der Männer. »Was ist passiert? Gibt es schon Hinweise auf die Terroristen?«
Fordyce hob die Hände. »Bedaure, Leute, dazu darf ich nichts sagen. Aber ich hatte gehofft, ich könnte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Wir helfen gern«, sagte ein Mann, offensichtlich der Anführer. Er war klein und stämmig, mit einem kantigen, ernsten Gesicht. Er hatte ein Stirnband eng um den Kopf geschlungen. Alle hatten sich erhoben.
»Der Mann, der in New York gestorben ist, weil er einer tödlichen radioaktiven Strahlung ausgesetzt war, Reed Chalker, hat San Ildefonso seine Büchersammlung gespendet. Wussten Sie das?«
Ihre erstaunten Mienen zeigten, dass ihnen das neu war.
»Soviel ich weiß, war er ein Fan Ihrer Tänze.«
»Viele Leute aus Los Alamos kommen her, um sich die Tänze anzusehen«, sagte der Anführer. »Und viele unserer Leute arbeiten da oben.«
»Stimmt das? Ihre Leute arbeiten da oben?«
»Los Alamos ist der größte Arbeitgeber des Pueblos.«
»Interessant. Hat vielleicht jemand Chalker gekannt?«
Allgemeines Achselzucken. »Möglich. Wir könnten uns mal umhören.«
Fordyce zückte seine Visitenkarten und verteilte sie an alle. »Großartige Idee. Hören Sie sich um. Wenn irgendjemand hier Chalker kannte, und sei es nur flüchtig, melden Sie sich. Okay? Es muss einen Grund dafür gegeben haben, dass er seine Büchersammlung der Schule hier gespendet hat, und diesen Grund würde ich gern erfahren. Damit könnten Sie wirklich etwas zu den Ermittlungen beitragen, und das meine ich ganz ernst. Wir sind gerade unterwegs zu der Schule – müssen wir dort lang?«
»Einfach geradeaus, dann links, dann sehen Sie sie schon. Aber es könnte sein, dass dort niemand ist. Die Schule ist geschlossen. Viele unserer Leute gehen von hier weg.«
»Verstehe.« Fordyce schüttelte allen herzlich die Hand. Als sie gingen, war die Gruppe in eine lebhafte Diskussion vertieft.
»Das war gut«, sagte Gideon, gegen seinen Willen beeindruckt.
Fordyce grinste. »Es ist wie beim Angeln.«
»Sagen Sie nicht, dass Sie auch noch Angler sind.«
»Ich bin leidenschaftlicher Angler – wenn ich dazu komme.«
»Fliegenfischen?«
»Würmer.«
»Das ist doch kein Angeln«, höhnte Gideon. »Einen Augenblick dachte ich doch tatsächlich, wir hätten noch etwas gemeinsam.«
Hinter den Bäumen sah er den Rio Grande aufblitzen, der über sein steiniges Bett strömte, und fühlte sich an einen Fluss zurückversetzt, weit entfernt und vor langer Zeit: Er war mit seinem Vater beim Fliegenfischen, während einer von dessen guten Phasen, und sein Vater erklärte, dass es beim Fliegenfischen, wie im Leben, darauf ankomme, wie lange man die Fliege auf dem Wasser halten könne. »Glück«, pflegte er zu sagen, »ist, wenn Vorbereitung und eine Gelegenheit zusammentreffen. Die Fliege ist die Gelegenheit, der Wurf ist die Vorbereitung. Und der Fisch? Das ist das Glück.«
Rasch schob Gideon die Erinnerung beiseite, wie er es immer tat, wenn Gedanken an seinen Vater in ihm aufstiegen. Es war beunruhigend, dass die Leute sogar hier, in diesem abgelegenen Indianerpueblo, weggingen. Aber schließlich lag der Ort im Schatten von Los Alamos.
Die Schule stand am Rio Grande inmitten der alten Pappelwäldchen, flankiert von staubigen Baseball- und Tennisplätzen. Es war vormittags und ein Werktag, aber wie die Männer bereits angedeutet hatten, war die Schule fast leer. Eine unheimliche Stille lag über dem Schulgelände.
Sie meldeten sich im Schulbüro, und nachdem sie sich ins Besucherbuch eingetragen hatten, brachte man sie in eine kleine Schulbibliothek mit Blick auf das Fußballfeld.
Die Schulbibliothekarin, eine beleibte Dame mit langen schwarzen Zöpfen und dicken Brillengläsern, war noch da. Sie war beim Büchersortieren. Als Fordyce ihr seinen Ausweis zeigte und sie Chalkers Büchersammlung erwähnten, war ihr Interesse geweckt. Gideon fand es erstaunlich, wie gern auch sie bereit war, ihnen zu helfen.
»O ja.« Sie erschauderte. »Den kannte ich, ja. Ich kann kaum glauben, dass er zum Terroristen geworden ist. Ich kann es einfach nicht fassen. Haben die wirklich eine Bombe?« Sie riss die Augen auf.
»Über die Details darf ich nicht sprechen«, sagte Fordyce freundlich. »Tut mir leid.«
»Und wenn man bedenkt, dass er uns seine Bücher gespendet hat. Ich muss Ihnen sagen, wir hier sind alle äußerst besorgt. Wussten Sie, dass die Sommerferien vorzeitig begonnen haben? Deshalb ist hier alles so verlassen. Ich selbst fahre auch weg, schon morgen.«
»Können Sie sich an Chalker erinnern?«, unterbrach Fordyce sie geduldig.
»Aber ja. Es war vor etwa zwei Jahren.« Die Erinnerung machte sie ganz atemlos. »Er hat angerufen und gefragt, ob wir Bücher gebrauchen könnten, und ich habe geantwortet: immer, liebend gern. Er hat sie dann noch am selben Nachmittag vorbeigebracht. Es waren an die zweihundert Stück, vielleicht sogar dreihundert. Er war wirklich ein netter Mann, sehr nett sogar. Ich kann es wirklich kaum glauben …«
»Hat er erwähnt, warum er seine Bücher weggeben wollte?«, fragte Fordyce.
»Daran kann ich mich nicht erinnern, tut mir leid.«
»Aber warum hat er sie dem Pueblo gespendet? Warum nicht der öffentlichen Bibliothek von Los Alamos oder sonst irgendwem? Hatte er Freunde hier?«
»Davon hat er nichts erwähnt.«
»Und wo sind die Bücher jetzt?«
Sie machte eine weit ausholende Geste. »Einsortiert. Wir haben sie zu den anderen gestellt.«
Gideon schaute sich um. In der Bibliothek standen mehrere tausend Bücher. Das würde mühsamer werden, als er erwartet hatte.
»Können Sie sich an irgendwelche Titel erinnern?«, fragte Fordyce, der sich Notizen machte.
Sie zuckte mit den Achseln. »Es waren alles gebundene Bücher, hauptsächlich Krimis und Thriller. Es waren etliche signierte Erstausgaben darunter. Offenbar war er ein Sammler. Aber für uns hat das keine Rolle gespielt – für uns ist ein Buch dazu da, gelesen zu werden. Wir haben sie einfach zu den anderen gestellt.«
Während Fordyce das Gespräch fortsetzte, ging Gideon los und begann, die Thriller-Abteilung durchzusehen, zog wahllos Bücher heraus und blätterte sie durch. Er wollte es Fordyce gegenüber nicht zugeben, aber er fürchtete, seine Idee könnte sich als Zeitverschwendung erweisen. Falls er nicht durch schieres Glück auf eines von Chalkers Büchern stieß, in dem ein wichtiges Blatt Papier steckte oder in dem Chalker am Rand irgendetwas Aufschlussreiches notiert hatte. Aber das schien unwahrscheinlich, und Büchernarren kritzelten ihre Bücher normalerweise nicht voll, besonders nicht signierte Ausgaben.
Gideon spazierte an den Regalen entlang, beginnend bei Z, in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge, und zog gelegentlich ein Buch heraus. Vincent Zandri, Stuart Woods, James Rollins … Wahllos blätterte er die Bücher durch, auf der Suche nach Notizen oder einem Blatt Papier, oder – er lächelte bei sich – groben Bauplänen einer Atombombe, aber er fand nichts. Im Hintergrund hörte er, wie Fordyce die Bibliothekarin mit sanfter, aber beharrlicher Gründlichkeit ausfragte. Gideon konnte nicht anders, er war beeindruckt von der Kompetenz des Mannes. Fordyce zeichnete sich durch eine seltsame Mischung aus methodischer Entschlossenheit, einem Vorgehen strikt nach Vorschrift und Ungeduld mit Regeln und Bürokratie aus.
Anne Rice, Tom Piccirilli … Mit steigender Gereiztheit blätterte Gideon Buch für Buch durch.
Plötzlich hielt er inne. Er war auf ein signiertes Buch gestoßen: The Shimmer von David Morrell. Beste Grüße hatte der Autor hingekritzelt und darunter seinen Namen gesetzt.
Nicht gerade aufschlussreich. Gideon blätterte das Buch durch, fand aber sonst nichts. Er stellte es zurück. Etwas später stieß er erneut auf ein signiertes Buch, diesmal von Tess Gerritsen: Leichenraub. Wieder eine unpersönliche Widmung: Für Reed, beste Wünsche. Und noch eins, Größenwahn, signiert von Lee Child: Für Reed. Zumindest hatte Chalker einen guten Geschmack gehabt.
Im Hintergrund leierte die Stimme von Fordyce, der der Bibliothekarin auch noch die letzte kleine Information entlockte.
Gideon arbeitete sich bis zum Buchstaben B vor. Das Kloster im Eichenwald von Simon Blaine war persönlicher signiert: Für Reed, mit den allerbesten Wünschen. Und der Autor hatte mit Simon unterschrieben.
Gideon zögerte, bevor er das Buch zurück ins Regal stellte. Signierte Simon Blaine alle seine Bücher nur mit seinem Vornamen? Daneben stand ein weiteres Buch des Autors, Das Eismeer. Für Reed, herzlichst, Simon B.
Fordyce erschien an seiner Seite. »Sackgasse«, murmelte er.
»Vielleicht nicht.« Gideon zeigte ihm die beiden Bücher.
Fordyce nahm sie und blätterte sie durch. »Ich verstehe nicht.«
»Herzlichst? Und nur mit dem Vornamen signiert? Hört sich an, als hätte Blaine ihn gekannt.«
Gideon dachte kurz nach und wandte sich dann an die Bibliothekarin. »Ich würde Sie gern etwas fragen.«
»Ja?« Sie kam herbeigeeilt, erfreut über die Gelegenheit, sich weiter über das Thema zu verbreiten.
»Offenbar haben Sie eine ganze Menge Bücher von Simon Blaine.«
»Wir haben alle seine Bücher. Und wenn ich’s mir recht überlege, stammen die meisten von Mr. Chalker.«
»Ah«, sagte Fordyce. »Aber das haben Sie eben gar nicht erwähnt.«
Sie lächelte verlegen. »Es ist mir gerade eben erst eingefallen.«
»Kannte Chalker den Autor?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Möglich. Schließlich wohnt Blaine in Santa Fe.«
Bingo!, dachte Gideon. Er warf Fordyce einen triumphierenden Blick zu. »Da haben Sie’s. Die beiden kannten sich.«
Fordyce runzelte die Stirn. »Ein Mann wie Blaine, ein Bestsellerautor – Buchpreisträger, heißt es hier –, wird wohl kaum Wert auf die Freundschaft eines Computerfreaks aus Los Alamos legen.«
»Diese Bemerkung nehme ich übel.« Gideon legte seine beste Groucho-Marx-Imitation hin.
Fordyce verdrehte die Augen. »Sehen Sie das Datum hier? Das Buch wurde zwei Jahre vor Chalkers Erweckungserlebnis veröffentlicht. Und der Umstand, dass er Blaines Bücher genauso weggegeben hat wie alle anderen, deutet nicht gerade auf eine tiefe Freundschaft hin. Offen gestanden, kann ich da keine Spur erkennen.« Er hielt inne. »Ich frage mich allmählich, ob dieser ganze Trip nach Westen uns nicht bloß wertvolle Zeit gekostet hat.«
Gideon tat so, als hätte er seine letzte Bemerkung überhört. »Einen Besuch bei Blaine wäre es doch wert. Für alle Fälle.«
Fordyce schüttelte den Kopf. »Zeitverschwendung.«
»Man weiß ja nie.«
Fordyce legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es stimmt schon – in diesem Geschäft ist es mitunter die verrückteste Idee, die sich auszahlt. Ich wollte sie keineswegs kurzerhand abtun. Aber Sie werden die Sache allein durchziehen müssen, ich habe heute noch eine Besprechung in Albuquerque, vergessen Sie das nicht.«
»Ach ja, stimmt. Soll ich mitkommen?«
»Lieber nicht. Ich habe vor, auf den Putz zu hauen. Ich will in Chalkers Haus, in die Moschee, ins Labor, ich will mit seinen Kollegen reden – die dürfen uns nicht länger von den Ermittlungen ausschließen. Nur dann werden wir etwas bewirken.«
Gideon grinste. »Dann machen Sie mal.«