32
Gideon sah erst die Pistole und dann Fordyce an. Als er sich umschaute, stellte er fest, dass die blau Uniformierten tatsächlich alle in Position gegangen waren. Mit gezogenen Waffen versperrten sie seine Fluchtwege.
»Mich?«, fragte Gideon ungläubig. »Was habe ich denn angestellt?«
»Drehen Sie sich einfach um, und legen Sie die Hände auf den Kopf.«
Gideon tat, wie ihm geheißen; der Zigarettenstummel brannte immer noch in seinem Mundwinkel. Fordyce begann, ihn abzutasten, nahm ihm die Brieftasche, das Taschenmesser und das Handy ab. »Sie sind mir vielleicht eine Nummer«, sagte Fordyce. »Ein Meister-Manipulator. Sie und Ihr Freund Chalker.«
»Wovon zum Teufel reden Sie da?«
»Sie haben es hingekriegt, so zu tun, als würden Sie den Typen unsympathisch finden, und dann stellt sich heraus, dass Sie einer seiner besten Freunde sind und dass Sie von Anfang an mit ihm unter einer Decke gesteckt haben.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich konnte den Mistkerl nicht aus–«
»Genau. Das ganze Zeug auf Ihrem Computer – das sind ja beschissene dschihadistische Liebesbriefe.«
Gideons Gehirnzellen arbeiteten wie verrückt. Die chaotischen Ermittlungen hatten sich in eine veritable Orgie der Inkompetenz verwandelt. Es war wirklich unglaublich.
»Sie haben mich echt eingewickelt«, sagte Fordyce. Seine Stimme nahm den bitteren Tonfall eines Betrogenen an. »Die Fahrt hinauf zu Ihrer Hütte. Das Essen, die Männergespräche. Und dann die rührselige Geschichte über Ihre tödliche Krankheit. Was für ein Scheiß. Die ganze Reise in den Westen war nichts anderes als eine absichtlich gelegte falsche Spur. Mir hätte das am ersten Tag auffallen müssen.«
Eine unbändige Wut stieg in Gideon auf. Er hatte nicht um diesen Auftrag gebeten. Er war ihm aufgezwungen worden. Schon jetzt hatte er eine kostbare Woche seines Lebens vergeudet. Und nun auch noch das. Vermutlich würde er den Rest seines allzu kurzen Lebens damit verbringen, sich mit diesem Blödsinn zu befassen, vielleicht sogar aus dem Inneren einer Gefängniszelle.
Die konnten ihn mal. Was hatte er zu verlieren?
Fordyce hatte ihn abgetastet. Er packte einen von Gideons erhobenen Armen am Handgelenk, riss ihn nach hinten und ließ die Handschelle einrasten. Er hob den Arm, um das andere Handgelenk zu packen.
»Warten Sie. Die Zigarette.« Gideon zog die glimmende Kippe aus dem Mund – und warf sie in den Flash-Pot direkt neben Fordyce.
Das Ding ging los wie eine Kanone, mit einer Druckwelle, die sie beide zu Boden warf, gefolgt von einer riesigen Wolke Theaterrauch.
Als Gideon sich mit klingelnden Ohren aufrappelte, merkte er, dass sein Hemdzipfel Feuer gefangen hatte. Der Qualm hüllte ihn und Fordyce ein und wirbelte in wüsten Wolken umher. Plötzlich erklangen laute Rufe und Schreie.
Gideon rannte los. Als er aus der Rauchwolke hervorbrach, sah er Alida. Sie saß wieder auf ihrem Paint Horse und schaute zu ihm herüber. Die Uniformierten rückten alle näher und richteten ihre Waffen auf ihn.
Wieder ertönte eine laute Detonation, gefolgt von einer Salve dröhnender Explosionen.
Gideon hatte nur eine Chance, eine winzige Chance. Er spurtete los und sprang auf den Rücken von Alidas Pferd.
»Reiten Sie los!«, schrie er und rammte die Hacken in die Flanken des Pferdes.
»Was zum Teufel …?« Sie zügelte das Pferd.
Aber Gideon brannte, und das Pferd, das durch den Lärm bereits kopfscheu geworden war, hatte nicht vor zu warten. Wiehernd vor Angst, machte es einen Satz nach vorn und galoppierte die Straße hinunter in Richtung Kirche.
Gideon erhaschte einen Blick auf Simon Blaine. Er stand wie angewurzelt im Türrahmen des Sheriff-Büros und schaute ihnen mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck nach. Dann riss Gideon sich das brennende Hemd vom Leib, wobei alle Knöpfe absprangen und er sich die Haut verbrannte, während Alida schrie »Runter von meinem Pferd!« und versuchte, das panische Tier in den Griff zu bekommen. Hinter ihnen hörte er noch ein Donnern, gefolgt von grellen Explosionen, dazwischen laute Rufe, die Uniformierten liefen hin und her, manche rannten zu ihren Wagen, andere folgten ihnen zu Fuß. Jetzt begann die ganze Stadt, in die Luft zu fliegen. Planlos flohen die Leute in alle Richtungen.
Alida schlug mit der Faust nach hinten und wollte Gideon wegstoßen, erwischte ihn dabei auf der Brust, so dass er fast vom Pferd gefallen wäre.
»Alida, warten Sie …«
»Runter von meinem Pferd!«
Zwei Crown Vics hatten die Verfolgung aufgenommen, rasten über die zerstörte Hauptstraße, scheuchten die Cowboys und Kameraleute auseinander und machten noch mehr Pferde wild. Ausgeschlossen, dass sie den Wagen entkommen könnten.
Sie galoppierten um die Ecke der Kirche und wären dabei fast mit dem riesigen Gassack zusammengestoßen. Gideon erkannte die Gelegenheit und ergriff sie – und warf sein brennendes Hemd auf den Gassack.
»Festhalten!«, rief er und klammerte sich an den Sattelrand.
Fast augenblicklich ertönte ein gewaltiges Wumms!, worauf eine Hitzewoge über ihnen zusammenschlug und ein gigantischer Feuerball die Kirche verschlang. Die Ränder des Feuers leckten kurz an ihnen, während sie weiterritten, und versengten Gideon knisternd die Haare. Das Pferd beschleunigte das Tempo in blinder Panik. Die Detonation zündete die übrigen pyrotechnischen Sprengkörper, und hinter ihnen brach die Hölle los: lautes Geballer, dröhnendes und jähes Geknalle, Explosionsblitze, aufsteigende Raketen. Ein Blick nach hinten vom galoppierenden Pferd bot den irrsinnigen Anblick, wie die gesamte Stadt in Flammen aufging, Feuerbälle sich in den Morgenhimmel erhoben, Gebäude zerfetzt wurden, Feuerwerkskörper explodierten und Raketen aufstiegen. Menschen und Pferde wurden zu Boden geworfen, die Erde bebte.
Alida zog einen ihrer Revolver, begann, ihn wie einen Schläger gegen Gideon zu schwingen, und traf ihn so an einer Kopfseite, dass er Sterne sah. Sie wollte gerade noch einmal ausholen, aber da packte Gideon sie am Handgelenk und drehte es derart heftig, dass die Waffe in hohem Bogen wegflog. Und dann, ehe sie ihn davon abhalten konnte, klickte er das baumelnde, offene Ende der Handschellen um Alidas Handgelenk, wodurch er sich an sie fesselte.
»Mistkerl!«, kreischte sie und riss an ihm.
»Wenn ich stürze, stürzen Sie auch. Und wir beide sind tot.« Er riss den anderen Revolver aus Alidas Holster und steckte ihn sich hinter den Gürtel.
»Drecksack!« Aber die Botschaft war angekommen. Sie hörte auf, Gideon vom Pferd abwerfen zu wollen.
»Reiten Sie runter zum Fluss«, sagte er.
»Ausgeschlossen. Ich wende jetzt das Pferd und liefere Sie den Bullen aus!«
»Bitte«, flehte er. »Ich muss fliehen. Ich habe nichts getan.«
»Sehe ich so aus, als ob mich das interessiert! Ich bringe Sie zurück, und ich hoffe, die sperren Sie ein und werfen den Schlüssel weg!«
Und da eilte das FBI Gideon zu Hilfe. Er hörte eine Salve von Schüssen, eine Kugel pfiff vorbei, andere ließen zu beiden Seiten Staub aufspritzen. Die verfluchten Idioten schossen auf Alida und ihn. Die würden sie beide eher umbringen, als dass sie ihn entkommen ließen.
»Teufel noch mal!«, schrie Alida.
»Reiten Sie weiter!«, rief er. »Die schießen auf uns! Sehen Sie denn nicht …?«
Weitere Schüsse.
»Heiliger Bimbam, die machen das ja wirklich!«
Wie von Zauberhand hatte Alida das Pferd im Griff. Es lief jetzt geschmeidig, konzentriert. Sie lenkte es in Richtung der Felskante oberhalb des Flusslaufs. Wieder zischten Kugeln vorbei. Das Pferd galoppierte auf die Kante zu und nahm Tempo auf, um in das trockene Flussbett zu springen.
Alida blickte nach hinten. »Halt dich fest, Alter.«