62
Zwölf Stunden später fuhren sie durch Tennessee. Fordyce fläzte sich auf dem Beifahrersitz, den Kopf über den Laptop gebeugt. Seit zwölf Stunden brütete er nun schon über den Dateien, hatte Tausende davon durchsucht, aber keinen Treffer gelandet. Nichts als Entwürfe für Bücher, endlose Kapitel-Neufassungen, Korrespondenz, Gliederungen, Filmtreatments, Notizen und dergleichen. Allem Anschein nach war der Inhalt des Rechners ganz und gar dem Schreiben gewidmet und nichts anderem.
Gideon sah kurz zu ihm hin. »Schon was gefunden?«, fragte er ungefähr zum dreißigsten Mal.
Fordyce schüttelte den Kopf.
»Was ist mit den E-Mails?«
»Nichts von Interesse. Kein Briefwechsel mit Chalker, Novak oder irgendjemandem oben in Los Alamos.« Es wurde immer wahrscheinlicher, dachte Fordyce, dass es in Blaines Büro noch einen zweiten Computer gab, den Gideon nicht hatte mitgehen lassen. Aber er sagte nichts.
Im Hintergrund hörte Gideon National Public Radio, das wie üblich eine Mischung aus Nachrichten und Spekulationen über den drohenden Atomangriff auf Washington brachte. Den Ermittlungsbehörden war es gelungen, das Datum des mutmaßlichen N-Day – heute – geheim zu halten, doch die massiven Truppenbewegungen, die Evakuierungsmaßnahmen in Washington und die vielen anderen Vorbereitungen in größeren Städten im ganzen Land fanden mehr und mehr Aufmerksamkeit in den Medien. Das Land befand sich im Zustand einer intensiven und eskalierenden Angst. Die Menschen ahnten, dass die Krise sich zuspitzte.
Angst und Empörung beherrschten den Äther. Eine Vielzahl von selbsternannten Experten, TV-Sprechern und Politikern gaben einer nach dem anderen ihre widersprüchlichen Ansichten zum Besten, griffen die festgefahrenen Ermittlungen an und setzten ihre eigenen Auffassungen dagegen. Die Terroristen hatten ihren Angriff auf eine andere Großstadt verschoben. Die Terroristen hielten sich versteckt, warteten auf den richtigen Augenblick. Die Terroristen waren alle den Strahlentod gestorben. Die Terroristen waren Kommunisten, Rechtsradikale, Linksradikale, Fundamentalisten, Anarchisten, was auch immer.
So ging es weiter und weiter. Fordyce konnte nicht anders, als mit einer Art angewiderter Faszination zuzuhören, und wollte Gideon bitten, das Radio auszuschalten, war aber dazu nicht in der Lage.
Er sah auf die Straße vor ihnen. Sie näherten sich dem Stadtrand von Knoxville. Er streckte sich nochmals, warf wieder einen Blick auf den Laptop. Es war schier unglaublich, wie viele Dateien so ein Schriftsteller generierte. Er hatte die Dateien ungefähr zu zwei Dritteln durchgesehen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als einfach damit weiterzumachen.
Als er die nächste Datei öffnete, die OPERATION LEICHNAM überschrieben war, zuckte er zusammen, als er plötzlich Sirenengeheul hörte und Blaulicht im Rückspiegel sah. Er blickte auf den Tachometer und sah, dass sie noch immer 79 Meilen pro Stunde fuhren – in einer Zone, in der die Höchstgeschwindigkeit gerade eben auf 60 reduziert worden war.
»Verdammter Mist«, murmelte er.
»Ich habe keinen Führerschein dabei«, sagte Gideon. »Jetzt ist’s aus.«
Fordyce legte das Notebook beiseite. Der Streifenpolizist ließ seine Sirene noch einmal aufjaulen. Gideon betätigte den Blinker, drosselte das Tempo, steuerte langsam auf den Standstreifen und kam zum Halten.
»Improvisieren Sie«, sagte Fordyce und ging in Gedanken rasch alle Optionen durch. »Sagen Sie ihm, dass man Ihnen die Brieftasche gestohlen habe und dass Sie Simon Blaine heißen.«
Der Streifenpolizist stieg aus dem Wagen und zog sich die Hose hoch. Ein Polizeibeamter des Bundesstaates, groß und kräftig, mit rasiertem Schädel, Blumenkohlohren, Sonnenbrille und abschätzig heruntergezogenen Mundwinkeln. Er kam herüber und klopfte ans Fenster. Gideon ließ es herunter.
Der Streifenpolizist beugte sich vor. »Führerschein und Fahrzeugschein?«
»Guten Tag, Officer«, sagte Gideon höflich. Er griff zum Handschuhfach, kramte darin herum und holte den Fahrzeugschein hervor, den er dem Polizisten gab. »Officer, mir ist auf einem Rastplatz irgendwo in Arkansas die Brieftasche gestohlen worden. Sobald ich wieder zurück in New Mexico bin, besorge ich mir einen Ersatz-Führerschein.«
Stille, während der der Beamte sich den Fahrzeugschein ansah. »Sind Sie Simon Blaine?«
»Ja, Sir.«
Fordyce hoffte bloß, dass der Typ nicht viel las.
»Sie sagen, Sie haben keinen Führerschein dabei?«
»Ich habe einen Führerschein, Officer, aber er ist mir gestohlen worden.« Er musste sich schleunigst etwas einfallen lassen. Er hob die Stimme, damit sie selbstsicher klang. »Mein Vater war auch bei der Polizei, genauso wie Sie, er wurde im Dienst erschossen …«
»Bitte steigen Sie aus dem Wagen, Sir«, sagte der Polizist ganz emotionslos.
Gideon tat so, als wolle er der Aufforderung nachkommen, machte sich am Türgriff zu schaffen und redete gleichzeitig weiter. »Routinemäßige Verkehrskontrolle, zwei Typen, die, wie sich herausstellte, gerade eben eine Bank ausgeraubt …« Er hantierte weiter. »Diese verdammte Tür …«
»Aussteigen. Sofort.« Der Polizist legte die Hand auf seine Waffe, als Vorsichtsmaßnahme.
Das Ganze lief, wie Fordyce klarwurde, in die falsche Richtung. Er zog seinen Dienstausweis hervor, beugte sich über Gideon und zeigte dem Polizisten den Ausweis. »Officer?«, sagte er. »Special Agent Fordyce, FBI.«
Erschrocken nahm der Polizist den Dienstausweis entgegen und betrachtete ihn durch seine Sonnenbrille. Er gab ihn Fordyce zurück, wobei er deutlich zu verstehen gab, dass er keinesfalls beeindruckt war. Dann wandte er sich wieder Gideon zu. »Ich habe Sie aufgefordert, aus dem Wagen zu steigen.«
Fordyce reagierte verärgert. Er öffnete die Tür und stieg aus.
»Sie bleiben im Wagen, Sir«, sagte der Polizist.
»Entschuldigen Sie«, erwiderte Fordyce schroff. Er ging um den Wagen herum und näherte sich dem Polizisten, wobei er auf dessen Dienstausweis starrte. »Officer Mackie, richtig? Wie gesagt, ich arbeite als Special Agent für das Washingtoner Büro.« Er bot dem Polizisten nicht die Hand. »Mein Partner hier arbeitet als technischer Berater mit uns zusammen. Wir führen verdeckte Ermittlungen durch. Wir unterstehen beide NEST und arbeiten an dem Terrorismusfall. Ich habe Ihnen meinen Namen genannt und Ihnen meinen Ausweis gezeigt, und Sie können auch meine Zugehörigkeit zum FBI überprüfen. Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie keinerlei Ausweispapiere von diesem Herrn sehen werden und dass Sie das einfach akzeptieren müssen. Haben wir uns verstanden?«
Er machte eine Pause. Mackie sagte nichts.
»Ich habe gesagt: Haben wir uns verstanden, Officer Mackie?«
Der Polizist zeigte sich unbeeindruckt. »Ich werde Ihre Zugehörigkeit zum FBI überprüfen, danke. Darf ich Ihren Ausweis noch einmal sehen, Sir?«
Das war nicht hinnehmbar. Das Letzte, was Fordyce wollte, war, dass Millard erfuhr, dass er fast zwei Drittel des Landes in Simon Blaines Jeep zurückgelegt hatte. Aber …
Wenn der Polizist nochmals seinen Ausweis benötigte, dann hieß das, dass er sich seinen Namen nicht notiert hatte. Fordyce trat noch einen Schritt auf den Polizisten zu und senkte die Stimme. »Schluss jetzt mit dem Theater. Wir müssen nach Washington, und wir haben es sehr eilig. Deshalb haben wir die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten. Weil wir verdeckte Ermittlungen durchführen, können wir keine Sirene aufs Fahrzeugdach stellen oder mit einer Eskorte fahren. Verlangen Sie meinen Ausweis, überprüfen Sie ihn – kein Problem. Nur zu. Aber für den Fall, dass Sie die Nachrichten nicht gehört haben, wir haben hier in den USA eine Krise, und mein Partner und ich können nicht so lange warten, bis Sie uns überprüft haben.« Er hielt inne und sah dem Polizisten ins Gesicht, um festzustellen, ob er dessen unnachgiebige Abwehrhaltung durchbrochen hatte.
Der Bundesstaatspolizist blieb mehr oder weniger unbeeindruckt. Eine harte Nuss. Nun ja, dann sollte es also sein. Fordyce hob die Stimme und schrie beinahe: »Und ich könnte hinzufügen, Officer, dass Sie, wenn Ihre Aktivitäten unsere Deckung auffliegen lassen, ganz, aber auch ganz tief in der Scheiße stecken werden. Wir befinden uns auf einer alles entscheidenden Mission, und Sie haben uns schon zu viel von unserer Zeit gestohlen.«
Und jetzt endlich sah Fordyce, dass das trotzige, aufsässige Gesicht vor Angst und Wut errötete. »Ich mache nur meine Arbeit, Sir, Sie haben kein Recht, so mit mir zu reden.«
Fordyce entspannte sich abrupt, atmete aus, legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Ich weiß. Tut mir leid. Wir machen alle nur unsere Arbeit – in einer schwierigen Situation. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so scharf angegangen bin. Wir stehen unter großem Stress, wie Sie sich sicher vorstellen können. Aber wir müssen wirklich weiter. Machen Sie nur, geben Sie meinen Namen und meine Ausweisnummer durch, überprüfen Sie beides, aber bitte halten Sie uns nicht auf.«
Der Mann straffte sich. »Ja, Sir. Verstehe. Wir sind hier fertig, denke ich. Ich werde Ihr Nummernschild per Funk nach vorn durchgeben und alle Streifen informieren, dass Sie in einer offiziellen Strafverfolgungssache unterwegs sind, damit Sie die Geschwindigkeitsbegrenzung zumindest bis zur Bundesstaatsgrenze überschreiten können.«
Fordyce drückte ihm kurz die Schulter. »Ich danke Ihnen. Sehr.« Er stieg wieder auf den Beifahrersitz; Gideon fuhr los. Nach einem Moment sagte Fordyce: »Vater ein Bundesstaatspolizist, der im Dienst erschossen wurde? Verdammt lahme Nummer. Zum Glück bin ich da gewesen, um die Kastanien aus dem Feuer zu holen.«
»Sie hatten einen Dienstausweis, ich nicht«, antwortete Gideon. Dann fügte er widerwillig hinzu: »Trotzdem, gut gemacht.«
»Da haben Sie verdammt recht.« Fordyce runzelte die Stirn. »Wenn’s uns denn nützt. Wir sind jetzt – wie lange noch? – sieben Stunden vor D. C. und haben noch immer keine Ahnung, was Blaine vorhat. Der Laptop hier ist so rein wie jungfräulicher Schnee.«
»Es muss etwas drauf sein. Man kann nicht eine solche Riesenverschwörung planen, ohne dass es auf irgendeine Weise auf die eigene Arbeit durchschlägt.«
»Und wenn wir uns irren? Und wenn er nun doch unschuldig ist?«
Gideon verstummte. Dann schüttelte er den Kopf. »Aus persönlichen Gründen wünscht ein riesengroßer Teil von mir, dass er es wäre. Aber er steckt hinter der Sache. Es muss so sein. Nichts anderes ergibt Sinn.«
Fordyce beschlich ein mattes Gefühl der Vergeblichkeit, und er widmete sich wieder der OPERATION LEICHNAM. Ihm schwante, was er finden würde, das Gleiche nämlich wie in all den anderen unzähligen Dateien: die Arbeit eines engagierten und produktiven Schriftstellers.
Bei OPERATION LEICHNAM handelte es sich um eine zehnseitige Inhaltsangabe für einen Roman, den Blaine offenbar nie geschrieben hatte – zumindest nicht unter dem Titel. Fordyce rieb sich die Augen und begann, die Zusammenfassung zu überfliegen, dann hielt er inne. Als er auf den Bildschirm sah, blieb ihm fast das Herz stehen. Er blinzelte einmal, zweimal. Dann ging er zurück zum Anfang und fing wieder von vorn an, langsamer diesmal.
Als er am Ende angekommen war, blickte er zu Gideon. »O mein Gott«, sagte er leise. »Sie werden das nicht glauben.«