75
Gideon gab Gas und steuerte den Stryker über den langen Parkplatz, vorbei am brennenden Hubschrauber. Er fuhr mit achtzig Stundenkilometern, laut summten die Räder des Fahrzeugs auf der Servicestraße.
Jackman betrachtete die zerknitterte Karte. »Nehmen Sie Kurs hundertneunzig Grad. Hier, benutzen Sie das hier.« Er zeigte auf einen elektronischen Kompass am Armaturenbrett.
Gideon wendete auf 190 Grad Süd, und der Stryker fuhr über den Kantstein, bretterte über eine große Grünfläche und steuerte auf einem Saum von Bäumen zu.
»Was für Waffen haben wir?«, rief Gideon aus.
»Fünfzig-Millimeter-Maschinengewehr, automatischer Granatwerfer, Rauchgranaten.«
»Kann der Stryker durch die Bäume dort fahren?«
»Wir werden’s herausfinden«, sagte Jackman. »Legen Sie den Achtrad-Gang ein. Der Hebel da.«
Gideon zog den Hebel und steuerte mit Vollgas auf die Bäume zu, der Diesel röhrte. Bei Gott, es war ein starker Motor. Die Bäume standen weit auseinander, aber nicht weit genug. Er steuerte auf einen Bereich zu, in dem die Bäume jünger und dünner aussahen.
»Festhalten«, sagte er.
Das Fahrzeug prallte gegen einen Baum, dann noch einen, und dann rasten sie hindurch, wobei jeder Baum unten am Stamm abbrach. Das Fahrzeug bockte und ruckte, der Motor dröhnte, die Baumstämme flogen zur Seite, die Blätter raschelten. Eine Minute später befanden sie sich auf einer grasbewachsenen Lichtung.
Auf einem Display leuchtete ein rotes Lämpchen auf, eine flache elektronische Stimme ertönte. »Warnung, Geschwindigkeit ungeeignet für derzeitige Bodenbeschaffenheit. Passen Sie den Reifendruck an.«
Gideon spähte durch das Fahrer-Periskop. »Mist. Da vorn stehen ein paar richtig große Eichen.«
»Reduzieren Sie das Tempo, ich versuche mal, die mit dem Granatwerfer aus dem Weg zu räumen.« Jackman drückte eine Reihe von Schaltern, und der Waffensystem-Bildschirm leuchtete auf. »Los geht’s.«
Man hörte eine Reihe von zischenden Geräuschen und einen Augenblick später eine Explosion. Die Eichen verschwanden in einer Mauer aus Flammen, Sand, Blättern und Splittern. Noch bevor die Fläche vollständig freigeräumt war, gab Gideon erneut Vollgas, die Reifen drehten durch, und der Stryker holperte vorwärts, bretterte über eine Masse zerbrochener Baumstämme und pflügte zurück in den Wald, wobei er auf der anderen Seite kleinere Bäume fällte. Flapp, flapp, flapp.
Nach einem letzten Krachen brachen sie aus dem Wald hervor. Direkt vor ihnen, auf der anderen Straßenseite, befand sich ein Maschendrahtzaun, der ein Wohngebiet umgab. Ordentliche Reihen von Bungalows, Garagenzufahrten, Autos, gepflegte Rasenflächen, auf denen all die Requisiten des Vorstadtlebens herumlagen.
»Ach du Scheiße«, murmelte Gideon. Zumindest war kaum jemand da, die Familien waren größtenteils evakuiert worden. Er steuerte den Stryker auf den Weg des geringsten Widerstands. Sie prallten gegen den Maschendrahtzaun und zerfetzten ihn, bevor sie hindurchdonnerten. Der Stryker schleuderte durch einen Hintergarten, pulverisierte ein Klettergerüst und ein oberirdisches Schwimmbecken, so dass der Garten überschwemmt wurde.
»Jesses!«, rief Jackman.
Gideon gab weiter Vollgas, während das gewaltige Fahrzeug langsam an Geschwindigkeit gewann. Vor ihnen beschrieb die Straße eine scharfe Rechtskurve. »Ich kriege die Kurve nicht rechtzeitig«, schrie Gideon. »Festhalten!«
Direkt vor ihnen lag ein einstöckiger Bungalow: karierte Vorhänge vorm Wohnzimmer-Panoramafenster, gelbe Blumen, die einen herrlich gepflegten Rasen rahmten. Gideon erkannte, dass er das Haus nicht umfahren konnte, und steuerte auf die Garage zu. Sie trafen mit einem irrsinnigen Knall auf, der Motor des Stryker kreischte, während sie einen Pick-up zur Seite warfen, dann aus der hinteren Wand der Garage herausdonnerten, Holzbalken und Tapeten und Staubwolken hinter sich herziehend.
»Warnung«, erklang die elektronische Stimme. »Geschwindigkeit ungeeignet für derzeitige Bodenverhältnisse.«
Als Gideon durch das Periskop blickte, konnte er sehen, dass zahlreiche Menschen aus den Häusern liefen, riefen und auf ihn deuteten und die Spur der Verwüstung, die er hinterlassen hatte.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht zurückfahren wollen?«, fragte Jackman mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich glaube, Sie haben da was ausgelassen.«
Gideon fuhr weiter geradeaus und preschte durch einen weiteren Maschendrahtzaun auf der anderen Seite des Wohngebiets. Hinter einem leeren Parkplatz ragte eine Gruppe von Wellblechhütten auf, zwischen denen nur sehr schmale Gassen hindurchführten. Gideon hielt auf die am breitesten aussehende Gasse zu, aber sie war nicht ganz breit genug. Der Stryker bahnte sich einen Weg hindurch, wobei er die Mauern auf jeder Seite zerriss, als wären sie aus Stanniol, und stieß die nicht sehr stabilen Hütten von ihren billigen Fundamenten.
Sie bretterten weiter auf eine offene Fläche, sausten über zwei Baseballfelder, preschten durch eine Backsteinmauer und kamen – ganz abrupt – auf dem Golfkurs der Militärbasis zum Halten. Während er sich an den Bedienelementen zu schaffen machte, erinnerte sich Gideon vage, dass er, als er auf das Gelände der Militärbasis gefahren war, als Erstes einen Golfplatz gesehen hatte: Sie befanden sich fast am Eingang.
Er fuhr über einen Abschlagsbereich und bahnte sich den Weg den Fairway hinunter, die wenigen Golfer, die auf dem Platz waren, ließen ihre Schläger fallen und stoben auseinander wie Rebhühner. Er überquerte ein schmales Wasserhindernis, kam im Schlamm auf der anderen Seite hoch und wühlte sich durch ein zweites Grün, wobei er riesige Placken Rasen aufwirbelte – und dann, als sie oben auf einer Anhöhe ankamen, konnte Gideon vierhundert Meter entfernt eine Gruppe von Gebäuden erkennen und einen Zaun, der das Haupttor markierte.
Und entlang der Servicestraße, die parallel zum Golfplatz verlief, raste der Hummer mit Blaine und Dart im rechten Winkel zu ihnen.
»Da sind sie!«, rief Gideon aus. »Beschießen Sie die Straße vor ihnen. Aber um Gottes willen, Sie dürfen sie nicht treffen, sonst setzen Sie das Virus frei!«
Jackman machte sich fieberhaft am Fernlenk-Waffensystem zu schaffen. »Halten Sie an, damit ich zielen kann!«
Gideon brachte den Stryker zum Stehen und bohrte dadurch zwei grabenartige Furchen in den Fairway. Jackman spähte durch das Periskop des Kommandanten, stellte ein paar Anzeigen ein, spähte noch mal. Der Stryker schaukelte leicht, als die Granaten gezündet wurden, dann gingen vor dem Hummer Detonationsblitze hoch, die Straße flog in die Luft, und Asphaltstücke wurde himmelwärts geschleudert. Der Hummer kam rutschend zum Stehen, fuhr ein Stück rückwärts, drehte und begann, über den Golfrasen zu fahren.
»Noch mal!«, rief Gideon.
Wieder eine erderschütternde Folge von Explosionen. Aber es war sinnlos – der Golfplatz war zu breit, dem Hummer boten sich fast unzählige Wege zum Ausgang der Militärbasis.
Gideon legte den Vorwärtsgang ein und fuhr los, der Stryker pflügte durch die Grasnarbe.
Vor sich sah Gideon mehrere panische Soldaten, die am Torgebäude hin und her liefen. »Können Sie im Torgebäude anrufen?«, schrie er über das Dröhnen des Motors.
»Kein Telefon.«
Gideon dachte schnell nach. »Die Rauchgranaten! Feuern Sie die Rauchgranaten ab!«
Sie pflügten durch einen Sandbunker, erklommen eine weitere Anhöhe, und Jackman gab Feuer. Die Granaten flogen im Bogen durch die Luft, prallten vor dem Hummer auf den Boden und explodierten in riesigen Wolken aus schneeweißem Rauch. Der Wind kam ihnen zugute, er wehte den Rauch über den Hummer, der sofort darin verschwand.
Gideon steuerte auf die riesige Nebelbank zu. »Gibt’s hier Infrarot in dem Schätzchen?«
»Schalten Sie den digitalen Bildschirm ein, stellen Sie ihn auf Thermo«, sagte Jackman vom Sitz des Schützen aus.
Gideon blickte auf die Instrumententafel. Jackman beugte sich vor, betätigte einen Schalter, und eines der zahlreichen kleinen Displays ging flackernd an. »Das ist der Drivers Video Screen, auf thermal gestellt«, sagte er.
»Hübsch«, meinte Gideon, während er tiefer in die Nebelbank hineinfuhr. »Und da sind sie ja!«
Der Hummer befand sich immer noch abseits der Straße, aber viel näher an ihnen dran. Er bewegte sich blindlings, geriet vom Fairway ins Rough und steuerte auf einen Waldrand zu.
Gideon spähte auf das geisterhafte Bild auf dem Schirm. »Scheiße. Die bauen gleich einen Unfall.«
»Lassen Sie mich mal.« Jackman warf sich zurück in den Sitz des Schützen. Kurz darauf knatterte das 50-Millimeter-Maschinengewehr. Es feuerte zu kurz, so dass hinter dem Hummer Rasenstücke aufwirbelten.
»Vorsichtig, um Himmels willen.« Gideon schaute zu, wie Jackman das automatische Feuer auf das Heck des Hummers richtete und die Reifen zerfetzte. Der Wagen rutschte zur Seite und kam dann abrupt zum Stehen.
Auf dem Display sah Gideon, wie die Türen aufgestoßen wurden. Die drei Soldaten sprangen heraus, gingen in die Hocke und schossen blindlings durch den Rauch. Dann erschienen zwei weitere Gestalten – Blaine und Dart –, und beide begannen, mit Höchstgeschwindigkeit auf das Tor zuzulaufen.
»Ich verfolge sie«, sagte Gideon. »Geben Sie mir Ihre Waffe.«
Gideon stieß die Einstiegsluke des Stryker auf und sprang heraus, plötzlich von Rauch umschlossen. Er hörte, dass die Soldaten blindlings und töricht irgendwohin schossen. Er setzte sich ungefähr in ihre Richtung in Bewegung, wohin, wie er gesehen hatte, auch Blaine gelaufen war. Er rannte den Fairway entlang und tauchte rasch aus dem Nebel auf. Die Soldaten hatten ebenfalls ihren Weg hinaus gefunden, drehten sich zu Gideon um und eröffneten das Feuer. Er warf sich auf den Boden, und da ertönte knatternd das 50-Millimeter-Maschinengewehr aus dem Nebel. Die drei Soldaten vor ihm riss es förmlich auseinander.
Er sprang wieder auf und lief weiter. Blaine hatte hundert Meter Vorsprung, er näherte sich dem letzten Grün, aber er war alt und wurde schnell langsamer. Dart, jünger und besser in Form, war davongezogen und hatte den Schriftsteller hinter sich gelassen.
Während Gideon näher kam, drehte sich Blaine um, zog laut keuchend seinen Peacemaker und feuerte. Der Schuss ließ unmittelbar vor Gideon Grasstücke aufwirbeln. Er rannte weiter. Blaine gab einen zweiten Schuss ab, der ebenfalls danebenging, gleichzeitig warf sich Gideon auf den älteren Mann und packte ihn an den Knien. Sie stürzten schwer, und Gideon entwand Blaine den Revolver, warf ihn zur Seite und nagelte den anderen unter sich fest. Dann zog er Jackmans Pistole hervor.
»Sie verdammter Idiot!«, rief Blaine keuchend und mit Spucke in den Mundwinkeln.
Während er Blaine die Waffe an den Hals drückte, schob Gideon wortlos die Hand in dessen Manteltasche, tastete darin herum und fand den Puck mit den Pockenviren. Er zog ihn hervor, steckte ihn in die Tasche und stand auf.
»Sie gottverdammter Idiot«, sagte Blaine matt, immer noch am Boden liegend.
Auf einmal erklangen Schüsse. Gideon warf sich auf den Boden. Dart, fünfzig Meter entfernt, hatte sich im Laufen umgewandt und schoss.
Es gab keine Deckung. Gideon machte sich klein, zielte sorgfältig und erwiderte das Feuer. Sein zweiter Schuss schickte den Mann zu Boden.
Und dann hörte er Hubschrauber. Als er mit Blicken dem Geräusch folgte, erkannte er zwei Black Hawks, die sich schnell aus östlicher Richtung näherten. Sie drosselten die Geschwindigkeit, drehten dann ab und setzten zu einer Gefechtslandung an.
Weitere Unterstützung für Blaine und Dart.
Gideon drehte sich um und sah Blaine. Er stand unsicher, den Peacemaker wieder in der Hand. Gideon war speiübel. Und er war so nahe dran gewesen – so nahe. Seine Gedanken rasten, er versuchte, sich eine Fluchtmöglichkeit auszudenken, eine Möglichkeit, die Pockenviren zu schützen. Könnte er sie verstecken, sie vergraben, mit ihnen weglaufen? Wo war der Stryker? Gideon blickte sich verzweifelt um, aber das Fahrzeug war noch immer von wabernden Nebelschwaden eingehüllt.
»Ich sagte, geben Sie mir die Pockenviren. Und lassen Sie die Waffe fallen.« Blaine zitterten die Hände.
Gideon war wie gelähmt, unfähig zu handeln. Während sie einander anstarrten, landeten die Hubschrauber auf dem Fairway, die Türen flogen auf, und Soldaten, die Waffen im Anschlag, strömten daraus hervor, schwärmten in klassischer Manier aus und rückten gegen sie vor. Gideon blickte auf die herankommenden Soldaten, dann wieder zurück auf Blaine. Seltsamerweise liefen Blaine dicke Tränen über die Wangen.
»Ich werde Ihnen keinesfalls die Pockenviren geben«, sagte Gideon, hob die eigene Waffe und richtete sie auf Blaine. Sie standen dort, die Waffen aufeinander gerichtet, während die Soldaten näher rückten. Gideon ahnte, dass Blaine nicht auf ihn schießen würde – jeder Schuss konnte die Pockenviren entfesseln. Was bedeutete, dass er Blaine nur abknallen musste.
Und dennoch – noch während er den Finger an den Abzug legte – wurde ihm klar, dass er dazu nicht in der Lage war. Ganz egal, was auf dem Spiel stand, selbst um den Preis des eigenen Lebens, er brachte es nicht über sich, Alidas Vater zu erschießen. Vor allem nicht, weil es jetzt zwecklos war.
»Lassen Sie die Waffen fallen!«, kam der Ruf aus der Gruppe der Soldaten. »Legen Sie die Waffen weg! Sofort! Legen Sie sich auf den Boden!«
Gideon wappnete sich. Es war alles vorbei.
Kurz hintereinander fielen mehrere Schüsse. Gideon zuckte zusammen und nahm den Aufprall vorweg – und trotzdem traf ihn die Salve nicht. Stattdessen fiel Blaine völlig abrupt mit dem Gesicht nach unten aufs Gras, wo er reglos liegen blieb, den Peacemaker nach wie vor umklammernd.
»Lassen Sie die Waffe fallen!«, ertönte der gebrüllte Befehl.
Gideon streckte die Arme aus und ließ die Pistole aus der Hand gleiten, während die Soldaten sich vorsichtig näherten und ihre Waffen weiterhin auf ihn richteten. Einer begann, ihn zu durchsuchen; er fand den Puck mit den Pockenviren und zog ihn vorsichtig aus Gideons Tasche.
Ein Leutnant aus dem Hubschrauber-Team kam mit langen Schritten herbei. »Gideon Crew?«
Gideon nickte.
Der Offizier wandte sich den Soldaten zu. »Er ist in Ordnung. Er ist Fordyce’ Partner.« Dann drehte er sich zu Gideon. »Wo ist Agent Fordyce? Im Stryker?«
»Sie haben ihn erschossen«, sagte Gideon benommen. Ihm wurde langsam klar, dass Fordyce, aufgrund seiner FBI-Mentalität, sich stets doppelt abzusichern, nicht nur Dart, sondern auch andere benachrichtigt hatte. Das hier waren keine weiteren Verschwörer, das war die Kavallerie, die ein bisschen zu spät zur Rettung herbeigeeilt war.
Zu seinem großen Schreck hörte Gideon Blaine husten, dann sah er, wie der alte Mann sich auf Hände und Knie aufrichtete. Ächzend und keuchend begann er, auf ihn zuzukriechen. »Die … Pockenviren …«, hauchte er. Plötzlich schwallte Blut aus seinem Mund, so dass er nicht mehr sprechen konnte, aber er kroch trotzdem weiter.
Einer der Soldaten hob das Gewehr.
»Nein«, sagte Gideon. »Tun Sie’s nicht.«
Blaine gelang es, sich etwas höher zu wuchten, und er versuchte dabei kraftlos, den Peacemaker anzuheben, während sie ihn anstarrten.
»Ihr Idioten«, gurgelte er noch, dann kippte er nach vorn und blieb reglos liegen.
Angewidert wandte Gideon den Blick ab.