29

Er saß auf einem fliegenden Teppich und schwebte sacht durch baumwollweiße Wolken. Laue Lüftchen, zu leicht und sanft, um irgendwelche Geräusche von sich zu geben, liebkosten sein Gesicht und zerzausten ihm die Haare. Der Teppich war so weich, seine Bewegungen waren so beruhigend, dass es schien, als bewege er sich nicht – und doch, tief unten, konnte er die Landschaft dahinziehen sehen. Es war eine exotische Landschaft aus funkelnden Kuppeln und Türmen, weiten, saftig grünen Urwäldern, purpurnen Feldern, die ihre Dünste in den Himmel entsandten. Weit droben warf die ferne Sonne wohltuende Strahlen über die beschauliche Szenerie.

Und dann ging ein jähes, heftiges Rucken durch den Teppich.

Gideon öffnete verschlafen die Augen. Einen Moment lang, immer noch im Bann seines Traums, streckte er die Hand aus, um die Fransen des Teppichs zu packen. Stattdessen trafen seine Finger auf Metall, Knöpfe, die weiche Oberfläche eines Anzeigegeräts.

»Fassen Sie das nicht an!«, herrschte Fordyce ihn an.

Gideon setzte sich abrupt auf – aber nur, um vom Gurt zurückgehalten zu werden. Sofort fiel ihm ein, wo er war: in einem Kleinflugzeug auf dem Flug nach Santa Cruz. Er lächelte und erinnerte sich. »Turbulenzen?«

Keine Antwort. Sie flogen durch eine Schlechtwetterfront, oder etwa nicht? Plötzlich merkte Gideon, dass es sich bei dem, was er für Wolken gehalten hatte, in Wahrheit um dicken schwarzen Qualm handelte, der aus dem linken Motor quoll und den Blick nach draußen versperrte.

»Was ist passiert?«, rief er.

Fordyce war so beschäftigt, dass er zehn Sekunden lang nicht antwortete. »Der linke Motor ist ausgefallen«, erwiderte er knapp.

»Brennt er?« Die letzten Reste von Verschlafenheit verschwanden und wichen reiner Panik.

»Keine Flammen.« Fordyce kippte einen Schalter nach unten, hantierte mit Schaltern und Messanzeigen. »Ich stelle den Benzinzufluss zum Motor ab. Lasse die Elektrik an – keinerlei Hinweis, dass die Ursache elektrisch ist, kann mir nicht leisten, dass die Avionik und der Lenkkreisel ausfallen.«

Gideon wollte etwas antworten, stellte aber fest, dass er die Stimme verloren hatte.

»Keine Sorge«, sagte Fordyce, »wir haben ja noch den anderen Motor. Es geht nur darum, die Maschine mit asymmetrischem Schub zu stabilisieren.« Er betätigte das Höhenruder, dann warf er einen kurzen Blick auf die Instrumente. »Menschenaffen bringen Pussy zum Stöhnen«, murmelte er langsam, dann wiederholte er den Satz wie ein Mantra.

Gideon starrte geradeaus, kaum imstande zu atmen.

Fordyce nahm keine Notiz von ihm. »Die Einspritzpumpe ist blockiert«, sagte er. »Transponder auf Notfall-Squawk.« Dann drückte er einen Knopf an seinem Kopfhörer. »Mayday, Mayday, hier ist Cessna eins-vier-neun-sechs-neun auf Notkanal, ein Motor ausgefallen, fünfundzwanzig Meilen westlich von Inyokern.«

Kurz darauf ertönte in Gideons Kopfhörer ein Knistern. »Cessna eins-vier-neun-sechs-neun, hier ist das Los Angeles Center, bitte wiederholen Sie Ihren Notfall und Ihre Position.«

»Eins-vier-neun-sechs-neun«, sagte Fordyce, »ein Motor ausgefallen, fünfundzwanzig Meilen westlich von Inyokern.«

Kurze Pause. »Eins-vier-neun-sechs-neun, Los Angeles Center, nächster Flughafen auf Ihrem jetzigen Kurs ist Bakersfield, Landebahn sechzehn und vierunddreißig. Flugplatz liegt fünfunddreißig Meilen außerhalb, bei zehn Grad.«

»Eins-vier-neun-sechs-neun«, sagte Fordyce, »nehmen Kurs bei zehn Grad auf Bakersfield.«

»Kanal sieben-sieben-hundert, bitten um Identifikation«, erklang die Stimme aus dem Los Angeles Center.

Fordyce drückte einen Knopf am Instrumentenbrett.

»Hier ist das Los Angeles Center. Kontakt bei vierunddreißig Meilen Entfernung zu Bakersfield.«

Der dicke Qualm hatte sich ein wenig gelichtet; Gideon sah, dass der Himmel sich zugezogen hatte. Über dem Land lag Nebel, so dass es kaum zu erkennen war, nur hin und wieder ein Flecken Grün inmitten von Tupfern aus gazeartigem Grau.

Er warf einen Blick auf den Höhenmesser: Die Nadel glitt langsam nach unten. »Sinken wir?«, krächzte er.

»Das Gesetz der Schwerkraft. Sobald wir zur einmotorigen Dienstgipfelhöhe kommen, müsste alles okay sein. Wir sind nur rund dreißig Meilen von Bakersfield entfernt. Ich versuche noch mal, den linken Motor zu starten.« Er drehte einen Schalter, drehte noch einmal. »Scheiße. Tot.«

Gideon verspürte einen Schmerz in seinen Fingerspitzen und merkte, dass er den Sitz mit aller Kraft gepackt hielt. Er verlor langsam die Nerven, zwang sich dazu, sich zu entspannen. Cool. Fordyce hat alles im Griff. Fordyce war ein fähiger und erfahrener Pilot. Der Mann wusste, was zu tun war. Warum war er dann so panisch?

»Stabilisieren uns auf Höhe sechshundert Meter«, sagte Fordyce. »In fünf Minuten sind wir auf der Landebahn in Bakersfield. Jetzt haben Sie eine Geschichte, die Sie Ihren …«

Plötzlich hörten sie rechts von sich eine heftige Detonation, gefolgt von einem Rattern, das durch den gesamten Flugzeugrumpf lief. Gideon erschrak und hielt sich instinktiv den Arm vors Gesicht. »Was war das denn?«

Fordyce war kreidebleich. »Der rechte Motor ist explodiert.«

»Explodiert?« Ölig dunkle Rauchwolken traten aus dem anderen Motor. Er gab ein grässliches, halb hustendes, halb knirschendes Geräusch von sich, verstummte, und der Propeller hörte auf, sich zu drehen.

Gideon fehlten abermals die Worte. Das war das Ende, so viel stand fest.

»Wir können immer noch gleiten«, sagte Fordyce. »Ich lege eine Landung mit stehendem Propeller hin.«

Gideon leckte sich die Lippen. »Landung mit stehendem Propeller?«, wiederholte er. »Das klingt gar nicht gut.«

»Ist es auch nicht. Helfen Sie mir, einen Platz zum Landen auszusuchen.«

»Ihnen helfen …?«

»Schauen Sie aus dem Fenster, verdammt noch mal, und suchen Sie ein flaches, offenes Gelände!«

Ein höchst seltsames Gefühl des Unglaubens überkam Gideon. Das hier musste ein Film sein, das hier konnte einfach nicht passieren. Denn wenn das hier die Realität war, wäre er so versteinert, dass er sich nicht vom Fleck rühren könnte. Dennoch suchte er den Horizont nach einem Landeplatz ab. Der Bodennebel hatte sich ein wenig gelichtet, so dass er sehen konnte, dass vor ihnen ein kahler Hügelkamm lag. Hinter dem Kamm senkte sich das Gelände in ein enges, noch sehr nebliges Tal, das von steilen bewaldeten Hügeln umgeben war.

»Ich kann den Boden nicht sehen – Nebel. Wie viel Zeit haben wir?«

»Einen Moment.« Fordyce machte sich wieder an den Instrumenten zu schaffen, drückte das U-förmige Steuerhorn nach vorn und tippte die Daten für die Trimmklappen ein. Obwohl es sich um einen extremen Notfall handelte, klang seine Stimme ruhig.

»Vor uns ist immer noch eine dicke Suppe.« Gideon blinzelte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wie zum Teufel kann es passieren, dass beide Motoren ausfallen?«

Anstatt zu antworten, presste Fordyce grimmig die Lippen aufeinander.

Gideon spähte aus dem Cockpitfenster, bis ihm die Augen weh taten. Sie sanken in Richtung des Hügelkamms. Dahinter brach die Wolkendecke langsam auf. Und dann sah er es durch eine Lücke in den Wolken: ein winziges, aber deutlich erkennbares Band aus Asphalt, das durch das Tal verlief.

»Da vorn ist eine Straße!«, rief er aufgeregt.

Fordyce warf einen schnellen Blick auf seine Karte. »Highway hundertachtundsiebzig.« Er setzte wieder einen Funkspruch ab. »Mayday, Mayday, hier ist Cessna eins-vier-neun-sechs-neun auf Frequenz hundertzweiundzwanzig Komma fünf. Zweiter Motor ausgefallen, wiederhole, zweiter Motor ausgefallen. Versuche Notlandung auf Highway hundertachtundsiebzig Westsüdwest von Miracle Hot Springs.«

Schweigen im Headset.

»Warum antwortet niemand?«, fragte Gideon.

»Wir sind zu tief«, sagte Fordyce.

Sie waren jetzt 350 Meter über dem Boden, und der Hügelkamm kam rasch näher. Mehr noch: Es schien, als würden sie es nicht schaffen, darüber hinwegzufliegen.

»Festhalten«, sagte Fordyce. »Wir müssten so gerade eben drüber wegkommen.«

Unheimliche Stille, sie glitten über den kahlen Bergkamm, während der Wind an den stillstehenden Propellern vorbeipfiff und unter ihnen Nebelfetzen dahinzogen. Gideon merkte, dass er die Luft angehalten hatte, und atmete tief aus. »Wahnsinn«, murmelte er.

»Zwei Meilen, würde ich schätzen«, sagte Fordyce. »Flughöhe elfhundert Fuß. Stetig im Sinkflug.«

»Fahrgestell?«

»Noch nicht. Das würde den Luftwiderstand erhöhen – o verfluchter Mist!«

Sie hatten den Bergkamm überflogen und schwebten in das dahinter liegende Tal. Und jetzt kam durch den aufreißenden Nebel das Gelände in Sicht: ein weiterer niedriger, mit einem Wäldchen aus hoch aufragenden Mammutbäumen bedeckter Bergrücken. Hoch und majestätisch standen die Bäume zwischen ihnen und der Straße dahinter.

»Verdammter Mist«, flüsterte Fordyce wieder vor sich hin.

Gideon hatte noch nie erlebt, dass Fordyce die Nerven verlor – und das machte ihm mehr Angst als alles andere. Er sah auf seine Hände hinunter, spannte sie an, als wolle er noch einmal eine Bewegung seines Körpers spüren. Ein wenig überrascht merkte er, dass er keine Angst vorm Sterben hatte – dass das hier vielleicht besser war als das, was ihm in elf Monaten bevorstand. Vielleicht.

Fordyce’ Gesicht war totenblass, auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißtropfen gebildet. »Sequoia National Forest«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich steuere auf die Lücke dort zu. Festhalten.«

Die Cessna hielt auf einen unebenen Bergrücken zu, den riesige Bäume mit kleinen, spitzen Wipfeln bedeckten. Wieder betätigte Fordyce das Steuerhorn und dirigierte das Flugzeug in Richtung einer Flucht zwischen mehreren der Baumriesen. Im letzten möglichen Augenblick schwenkte das Flugzeug scharf nach rechts.

Gideon spürte, wie sich alles neigte und sich die Nase des Flugzeugs stark senkte. »Verflucht«, murmelte er. Ob das nun ein Schimpfwort, ein Gebet oder beides war, wusste er auch nicht. Ein Augenblick schierer Todesangst, während die riesenhaften, rötlichen Baumstämme nur ein, zwei Meter an ihnen vorbeisausten und die Turbulenzen die Maschine durchrüttelten – und dann war der Himmel auf einmal klar. Vor ihnen wand sich sanft das Band des Highways 178, auf dem ein paar Autos entlangfuhren.

»Hundertsiebzig Meter«, sagte Fordyce.

»Können wir’s schaffen?« Gideons Herz pochte. Jetzt, da sie die Bäume passiert und eine Überlebenschance hatten, verspürte er einen jähen Lebenswillen.

»Keine Ahnung. Wir haben bei dem Manöver viel Höhe verloren. Und ich muss immer noch eine letzte Kurve fliegen. Ich muss mit dem Verkehr landen, nicht entgegen, wenn wir eine Chance haben wollen, heil aus dieser Sache rauszukommen.«

Sie flogen eine langsame Kurve in Richtung Highway. Gideon sah, dass Fordyce das Fahrgestell ausfuhr.

»Noch mehr Bäume geradeaus«, sagte Gideon.

»Die sehe ich.«

Noch eine ruckartige Bewegung. Gideon hörte plötzlich das Flapp, Flapp! von Zweigen auf der Unterseite des Flugzeugs, und dann wendeten sie, um kaum zehn Meter über der Straße eine gerade Linie mit ihr zu bilden.

Unmittelbar vor ihnen fuhr ein Truck mit geringer Geschwindigkeit, er quälte sich eine Steigung hinauf. Sie sanken, anscheinend auf Kollisionskurs, auf ihn zu. Gideon schloss die Augen. Ein Rumpeln ertönte, als eines der Räder des Flugzeugs leicht auf der Fahrerkabine aufsetzte. Während der Truck hupte, wurde das Flugzeug in eine Neigung gedrückt; Fordyce brachte es in die Waagerechte, dann setzte er die Maschine auf der Straße auf, wobei er die Nase hochhielt, während der Truck hinter ihnen mit quietschenden Reifen versuchte, die Geschwindigkeit zu drosseln.

Sie setzten schlingernd auf dem Asphalt auf, hüpften leicht, dann setzten sie wieder holprig auf der Fahrbahn auf – und dann schlidderten sie die Straße entlang und kamen schließlich in der Mitte der Fahrbahn zum Halten. Gideon wandte sich um und sah, dass der Truck hinter ihnen mit kreischenden Reifen zum Stehen kam, wild hin und her schleudernd, Gummi platzte von den zerfetzten Reifen ab. Keine zehn Meter hinter ihnen kam der LKW zum Stehen. Vor ihnen, auf der Gegenfahrbahn, trat der Fahrer eines PKW ebenfalls mit voller Wucht auf die Bremse.

Und dann war alles still.

Einen Augenblick lang saß Fordyce da wie eine Statue, während das Metall rings um sie knisterte und zischte. Dann löste er die Hände vom Steuerhorn, schaltete den Hauptschalter aus, zog das Headset vom Kopf und klickte den Sicherheitsgurt auf.

»Nach Ihnen«, sagte er.

Gideon stieg aus dem Flugzeug, seine Beine fühlten sich wackelig und empfindungslos an.

Sie setzten sich, wie Roboter, auf den Standstreifen. Gideons Herz schlug so schnell, dass er kaum atmen konnte.

Der LKW-Fahrer und der Fahrer des entgegenkommenden PKW kamen herangelaufen. »Verdammt!«, rief der Trucker. »Was ist denn passiert? Seid ihr verletzt?«

Sie waren nicht verletzt. Weitere Fahrzeuge hielten an, Leute stiegen aus.

Gideon bemerkte es nicht einmal. »Wie oft geht ein Flugzeugmotor eigentlich einfach so aus?«, fragte er Fordyce.

»Nicht oft.«

»Und beide Motoren? Auf genau die gleiche Weise?«

»Niemals, Gideon. Niemals.«

Gideon Crew 02 - Countdown - Jede Sekunde zählt
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