19

Simon Blaine wohnte in einem großen Haus rund 800 Meter von der Plaza entfernt, am Old Santa Fe Trail. Weil Fordyce mit ihrem Auto nach Albuquerque gefahren war, ging Gideon von der Plaza aus zu Fuß. Das Wetter war prachtvoll, ein warmer Sommertag im Hochgebirge, nicht zu heiß. Der Himmel war königsblau, nur über den fernen Sandia Mountains ballten sich ein paar Wolken zusammen. Gideon überlegte, ob Blaine sich wohl noch in Santa Fe aufhielt. Die Stadt war mittlerweile halbleer.

Noch acht Tage bis zum N-Day. Die Uhr tickte. Trotzdem war er froh darüber, in Santa Fe zu sein und nicht in New York, wo das absolute Chaos ausgebrochen war. Der größte Teil des Finanzdistrikts, die Wall Street, das World-Trade-Center-Gelände und der Teil von Midtown um das Empire State Building herum war verlassen worden – unvermeidlicherweise gefolgt von Plünderungen, Bränden und dem Einsatz der Nationalgarde. Seit gestern gab es einen großen Medienrummel mit hysterischen Angriffen auf den Präsidenten. Gewisse Medienpersönlichkeiten nutzten die Situation zu ihrem eigenen Vorteil aus und peitschten die öffentliche Meinung auf. Amerika bewältigte die Krise nicht sonderlich gut.

Gideon schüttelte diese Gedanken ab, als er vor Blaines Haus ankam. Es lag versteckt hinter einer hohen Mauer aus Kalksandstein, die sich entlang der Straße hinzog. Das Einzige, was hinter der Mauer zu sehen war, waren die Wipfel zahlreicher Zitterpappeln, die im Wind rauschten. Das Tor bestand aus solidem Schmiedeeisen und verwittertem altem Scheunenholz. Gideon fand nicht einmal eine Ritze, durch die er hätte spähen können. Er entdeckte die Gegensprechanlage, die in die Mauer neben dem Tor eingelassen war, klingelte und wartete.

Nichts.

Er klingelte erneut. Niemand zu Hause? Es gab nur eine Möglichkeit, das festzustellen.

Er schlenderte an der Mauer entlang bis zur Ecke des Grundstücks. Über Mauern zu klettern war er gewohnt, also sprang er hoch, packte die Mauerkrone und zog sich ohne größere Schwierigkeiten über die groben Lehmziegel. Im Nu landete er auf der anderen Seite in einem kleinen Zitterpappelwäldchen, das vom Haus aus nicht einsehbar war. Ein künstlicher Wasserfall plätscherte über Steine in einen kleinen Teich. Hinter einem Rasen, so grün wie ein Billardtisch, lag ein niedriges, ausgedehntes, aus getrockneten Lehmziegeln erbautes Haus mit zahlreichen Türen und Veranden und mindestens einem Dutzend Schornsteinen.

Durch die Fenster sah er eine Person umhergehen. Doch, es war jemand zu Hause. Es ärgerte ihn, dass man ihm nicht geöffnet hatte. Er befingerte den Ausweis, der ihm endlich ausgestellt worden war – und den Fordyce ihm, wie es schien, mit einem gewissen Widerstreben ausgehändigt hatte –, ging an der Mauer entlang zum Eingang zurück und drückte auf den Knopf, um das Tor zu öffnen, damit es so aussah, er wäre er auf diesem Weg hineingelangt. Als das Tor aufschwang, trat er auf die Auffahrt und marschierte zur Vordertür. Er klingelte.

Er musste lange warten. Er klingelte erneut, und dann, endlich, hörte er Schritte im Flur. Die Tür öffnete sich, und dahinter stand eine schlanke junge Frau, etwa Mitte zwanzig, mit einem langen, wehenden Haarschopf. Sie trug Jeans, eine enganliegende weiße Bluse, Cowboystiefel und eine finstere Miene zur Schau. Sie hatte dunkle Augen und hellblonde Haare – eine ungewöhnliche Mischung.

»Wer sind Sie denn?«, fragte sie, stemmte die Hände in die Hüften und warf die Haare nach hinten. »Und wie sind Sie hier reingekommen?«

Gideon hatte sich bereits überlegt, was die beste Vorgehensweise wäre; ihr freches Auftreten entschied die Frage. Lächelnd griff er in seine Tasche, holte unverschämt langsam den Ausweis hervor und ahmte Fordyce nach, indem er ihr den Ausweis dicht vors Gesicht hielt und damit in ihren persönlichen Raum eindrang. »Gideon Crew, Verbindungsmann des FBI.«

»Nehmen Sie das Ding weg.«

Lächelnd sagte Gideon: »Sie sollten einen Blick darauf werfen. Das ist Ihre letzte Gelegenheit.«

Sie antwortete mit einem kalten Lächeln und streckte die Hand aus, doch anstatt den Ausweis zu nehmen, schlug sie seine Hand weg wie eine lästige Fliege.

Einen Augenblick stand Gideon verblüfft da. Ihre Miene war trotzig, ihre Augen blitzten, in ihrem zarten Hals pochte eine Ader – das war eine Tigerin. Als er sein Handy zückte, tat es ihm fast leid, dass er einer solchen Frau so etwas antun musste. Er wählte die Nummer der Polizei und sprach mit einem Mann aus der Einsatzzentrale, den er und Fordyce zuvor bequatscht hatten – oder vielmehr »einen Kollegen, dessen Zusammenarbeit sie sich versichert hatten«, um Fordyce’ Jargon zu gebrauchen. »Hier ist Gideon Crew. Ich brauche Verstärkung. Old Santa Fe Trail neunundneunzig. Ich bin vor Ort und wurde von einer Bewohnerin des Hauses angegriffen.«

»Ich habe Sie nicht angegriffen, Sie Wichser!«

Was für ein Mundwerk. »Ihre Handlung, das Wegschlagen meiner Hand, erfüllt den Tatbestand eines tätlichen Angriffs.« Er grinste die Frau an. »Jetzt haben wir den Salat, und dabei weiß ich noch nicht mal Ihren Namen.«

Sie funkelte ihn mit ihren grimmigen braunen Augen an. Nachdem sie einander lange wütend angesehen hatten, senkte sie den Blick, und ihre Züge entspannten sich. So tough war sie dann doch nicht. »Sie sind wirklich vom FBI?« Ihr Blick glitt über seine Aufmachung – schwarze Jeans, lavendelblaues Hemd, Keds-Turnschuhe. »Sie sehen aber gar nicht so aus.«

»Ich arbeite mit dem FBI zusammen. Wir ermitteln im Fall des Terroristen in New York. Das ist nur ein kleiner Freundschaftsbesuch. Ich möchte Mr. Simon Blaine ein paar Fragen stellen.«

»Er ist nicht da.«

»Dann warte ich.«

In der Ferne konnte Gideon Sirenengeheul hören. Verdammt, die Polizei war schnell in dieser Stadt. Er sah, dass der Blick der Frau in Richtung des Sirenengeheuls wanderte.

»Sie hätten vorher anrufen sollen«, sagte sie. »Sie hatten kein Recht, hier einfach so einzudringen!«

»Mein Recht, das Grundstück zu betreten, erstreckt sich bis zur Haustür. Sie haben noch ungefähr fünf Sekunden Zeit, um sich zu entscheiden. Wollen Sie, dass das Ganze eskaliert und richtig unangenehm wird, oder wollen Sie hundertprozentig kooperieren? Wie gesagt, es ist nur ein freundschaftlicher Besuch, es muss nicht zu einer Anklage kommen.«

»Zu einer Anklage?« Das Sirenengeheul wurde lauter, die Polizeifahrzeuge näherten sich dem Tor. Der ängstliche Blick der jungen Frau verriet ihm, dass ihr Widerstand rasch bröckelte. »Schon gut, ich kooperiere. Aber das ist schlicht und ergreifend Erpressung. Ich werde Ihnen das nicht vergessen.«

Der erste Streifenwagen fuhr durch das offene Tor, gefolgt von weiteren. Gideon ging zum vordersten Auto. Er zeigte seinen Ausweis und beugte sich durchs offene Fenster. »Alles unter Kontrolle. Wir haben jetzt die uneingeschränkte Kooperation seitens der Hausbewohner, dank Ihrer schnellen Reaktion, Kollegen. Danke.«

Die Polizisten rückten nur ungern wieder ab – sie fanden es aufregend, in die Terror-Ermittlungen einbezogen zu sein, wenn auch nur am Rande, und zum Haus eines berühmten Schriftstellers wurden sie auch nicht oft gerufen. Aber Gideon überzeugte sie ganz cool davon, dass alles ein Missverständnis gewesen war. Als die Polizisten weg waren, ging er zurück, lächelte die Frau an und wies auf die Tür. »Wollen wir?«

Sie trat ins Haus, dann drehte sie sich um. »In diesem Haus werden die Schuhe ausgezogen. Machen Sie schon.«

Gideon schlüpfte aus seinen Keds-Turnschuhen. Sie hingegen machte keine Anstalten, ihre Cowboystiefel auszuziehen, unter denen er etwas erspähte, das ganz nach getrocknetem Pferdemist aussah. Sie stiefelte über den Perserteppich, der in der Eingangshalle lag, und betrat das Wohnzimmer. Es war ein spektakulärer Raum mit weißen Ledersofas, einem gewaltigen Kamin und einer Keramiksammlung in Vitrinen – prähistorische Mimbre-Töpferwaren, wie Gideon erkannte.

Die junge Frau nahm wortlos Platz.

Gideon nahm ein Notizbuch aus der Hosentasche und ließ sich auf dem Sessel ihr gegenüber nieder. Es war nicht zu übersehen, wie hübsch sie war – nein, eigentlich schön. Langsam hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er so großen Druck auf sie ausgeübt hatte. Trotzdem versuchte er, sich streng und unnachgiebig zu geben. »Ihr Name, bitte?«

»Alida Blaine«, sagte sie tonlos und monoton. »Soll ich besser den Anwalt der Familie anrufen?«

»Sie haben mir versprochen zu kooperieren«, entgegnete er streng. Nach langem Schweigen ließ sie sich schließlich erweichen. »Ich möchte Ihnen nur ein paar einfache Fragen stellen, Alida.«

Sie grinste. »Gehören Keds-Turnschuhe zur neuen FBI-Ausstattung?«

»Es handelt sich um einen zeitlich begrenzten Auftrag.«

»Zeitlich begrenzt? Und was machen Sie normalerweise? In einer Rockband spielen?«

Vielleicht hatte Fordyce doch recht gehabt, was seinen Kleidungsstil betraf. »Ich bin Physiker.«

Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. Ihre Art, das Gespräch immer wieder auf ihn zu lenken, gefiel Gideon gar nicht, deshalb schob er schnell eine Frage nach. »In welcher Beziehung stehen Sie zu Simon Blaine?«

»Ich bin seine Tochter.«

»Alter?«

»Siebenundzwanzig.«

»Wo ist Ihr Vater jetzt?«

»Auf dem Filmset.«

»Filmset?«

»Einer seiner Romane wird verfilmt. Sie drehen auf der Circle Y Movie Ranch südlich der Stadt.«

»Wann kommt er zurück?«

Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Er müsste gleich hier sein. Also, worum geht es denn nun?«

Gideon gab sich Mühe, sich zu entspannen und zu lächeln. Er fühlte sich allmählich schuldig. Er war einfach nicht dazu gemacht, als Ermittler zu arbeiten. »Wir versuchen, mehr über Reed Chalker herauszufinden, den Mann, der zu der Terrorzelle gehört.«

»Ach, darum geht es. Aber was um alles in der Welt hat das mit uns zu tun?« Er merkte, dass ihr Ärger sich allmählich in Neugier verwandelte. Sie verschränkte die Arme, zog dann die Schublade eines Beistelltischchens auf und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Sie zündete sich eine an und stieß den Rauch aus.

Gideon überlegte, ob er sich eine schnorren sollte, fand dann aber, dass das zu uncool wäre. Sie war wirklich eine Schönheit, und es fiel ihm nicht leicht, sich weiter ganz cool zu geben. Er zwang sich, zum anstehenden Thema zurückzukehren. »Wir glauben, dass Ihr Vater Reed Chalker kannte.«

»Das bezweifle ich. Ich kenne den Terminplan meines Vaters. Und den Namen dieses Mannes hatte ich noch nie gehört, bevor ich ihn in der Zeitung las.«

»Chalker besaß sämtliche Bücher Ihres Vaters, die ganze Sammlung. Alle signiert.«

»Und?«

»Es war die Art, wie Ihr Vater die Bücher signiert hat. Für Reed, mit herzlicher Zuneigung. Simon. Der Wortlaut ließ darauf schließen, dass die beiden sich kannten.«

Als sie das hörte, lehnte Alida sich zurück, lachte jäh auf und stieß den Rauch aus. »O Mann. Da seid ihr wirklich auf dem Holzweg! Er signiert alle seine Bücher so. Tausende. Zehntausende.«

»Mit seinem Vornamen?«

»Das spart Zeit. Deshalb schreibt er auch nur die Vornamen der Leser, die ein Buch signiert haben wollen. Wenn fünfhundert Leute Schlange stehen, jeder mit mehreren Büchern in der Hand, kann man nicht jedes Mal mit vollem Namen signieren. Dieser Chalker hat oben in Los Alamos gearbeitet? Das stand jedenfalls in der Zeitung.«

»Das stimmt.«

»Es dürfte also kein Problem für ihn gewesen sein, zu den Lesungen meines Vaters nach Santa Fe zu kommen.«

Ein Gefühl des Versagens beschlich Gideon. Fordyce hatte recht gehabt: Das Ganze war eine Sackgasse, und er machte sich zum Narren.

»Können Sie das beweisen?«, fragte er möglichst tapfer.

»Fragen Sie in der Buchhandlung nach. Mein Vater signiert dort jedes Jahr einmal, also wird man es dort bestätigen können. Er signiert alle seine Bücher mit Simon oder Simon B. und schreibt entweder Herzlichst oder Mit den allerbesten Wünschen. Für jeden Tom, Dick oder Harry in der Schlange. Mit Freundschaft hat das nichts zu tun.«

»Verstehe.«

»Das ist wirklich dämlich. So führen Sie also die Ermittlungen?« Die Feindseligkeit war verschwunden, ersetzt durch Belustigung und leise Verachtung. »Und das gegen Terroristen mit einer Atombombe? Das jagt mir eine Heidenangst ein, muss ich schon sagen.«

»Wir müssen jedem Hinweis nachgehen«, verteidigte sich Gideon. Er holte das Foto von Chalker hervor. »Würden Sie sich das mal ansehen und mir sagen, ob Sie ihn erkennen?«

Sie warf einen Blick auf das Foto, kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Ihre Miene veränderte sich. »Ich glaube es ja nicht. Doch, ich erkenne ihn. Er ist immer gekommen, wenn Vater hier in Santa Fe Bücher signiert hat, jedes Mal. Er war so eine Art Groupie, hat immer versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, auch wenn hinter ihm hundert Leute in der Schlange standen. Mein Vater ist darauf eingegangen, weil das zum Job gehört und weil er nie unhöflich zu einem Leser sein würde.« Sie gab ihm das Foto zurück. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass er nicht mit diesem Mann befreundet war.«

»Fällt Ihnen sonst noch etwas zu ihm ein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Worüber haben die beiden geredet?«

»Das weiß ich wirklich nicht mehr. Wahrscheinlich das Übliche. Warum fragen Sie nicht meinen Vater?«

Wie aufs Stichwort knallte die Tür, und ein Mann betrat das Wohnzimmer. Für einen berühmten Schriftsteller war Simon Blaine entwaffnend klein. Er hatte weißgelocktes Haar und ein lächelndes Koboldgesicht mit Stupsnase, glatt und faltenlos wie das eines Knaben, rötlichen Wangen und freundlichen, lebhaften Augen. Als er seine Tochter erblickte, ging ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht. Er trat zu ihr und umarmte sie, als sie aufstand – sie überragte ihn um mehrere Zentimeter –, und wandte sich dann an Gideon, der sich ebenfalls erhoben hatte. Er streckte die Hand aus. »Simon Blaine«, stellte er sich vor, als sei es denkbar, dass Gideon nicht wusste, wer er war. Der schlechtsitzende Anzug war zu groß für seine drahtige Figur und schlabberte ein wenig, als er Gideon begeistert die Hand schüttelte. »Wer ist dein neuer Freund, WT?« Seine Stimme passte überhaupt nicht zu seinem Aussehen, sie war tief und unwiderstehlich, obwohl er mit einem ganz leichten Liverpooler Akzent sprach, wodurch er sich ein wenig anhörte wie Ringo Starr als Bariton.

»Ich bin Gideon Crew.« Er schaute vom Vater zur Tochter und wieder zum Vater. »WT?«

»Das ist mein Spitzname für sie. Wundertochter.« Blaine sah Alida mit unverhohlener Zuneigung an.

»Crew ist kein Freund von mir«, sagte Alida hastig und drückte ihre Zigarette aus. »Er ermittelt für das FBI. Es geht um die Sache mit dem Atomterroristen in New York.«

Blaines Augen weiteten sich überrascht. Sie waren von einem tiefen Haselnussbraun und goldgefleckt, eine höchst ungewöhnliche Farbe. »Na, schau mal an. Das ist ja interessant!« Er nahm Gideons Ausweis, warf einen Blick darauf und gab ihn zurück. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich hätte da einige Fragen an Sie, falls es Ihnen nichts ausmacht.«

»Aber überhaupt nicht. Bitte setzen Sie sich doch.«

Alle setzten sich. Alida ergriff zuerst das Wort. »Daddy, der Terrorist mit der Atombombe, der in New York gestorben ist, Reed Chalker, hat deine Bücher gesammelt. Er ist immer gekommen, wenn du hier signiert hast. Erinnerst du dich an ihn?« Sie schüttelte wieder eine Zigarette aus der Packung, klopfte sie auf dem Tisch aus und zündete sie an.

Blaine runzelte die Stirn. »Könnte ich nicht behaupten.«

Gideon reichte ihm das Foto. Als Blaine es betrachtete, hatte er wieder etwas von einem Kobold mit seiner konzentriert vorgeschobenen Unterlippe und den weißen Löckchen, die zu beiden Seiten des Kopfes in Büscheln abstanden.

»Du erinnerst dich sicher, der Typ, der immer mit einer ganzen Tasche voller Bücher ankam. Er war bei jeder Signierstunde anwesend, stand immer ganz vorn in der Schlange.«

»Doch, doch, ich erinnere mich! Großer Gott, das also war Reed Chalker, der Terrorist aus Los Alamos?« Er gab das Foto zurück. »Das war also ein Leser von mir, wenn man sich das mal vorstellt …« Er wirkte nicht direkt unangenehm berührt.

»Worüber haben Sie sich mit Chalker unterhalten?«, fragte Gideon.

»Schwer zu sagen. Ich signiere jedes Jahr einmal in der Buchhandlung Collected Works in Santa Fe, und es kommen oft vier- oder fünfhundert Leute. Sie ziehen, offen gestanden, ziemlich schemenhaft an mir vorbei. Meistens reden sie darüber, wie sehr ihnen die Bücher gefallen, wer ihre Lieblingsfiguren sind – manchmal wollen sie auch, dass ich etwas lese, was sie geschrieben haben, oder möchten wissen, wie man am besten zum literarischen Schreiben kommt.«

»Häufig reden sie auch davon, welch eine Schande es ist, dass mein Vater noch nicht den Nobelpreis bekommen hat«, fügte Alida lebhaft hinzu. »Zufälligerweise ist das ganz meine Meinung.«

»Ach, Quatsch«, sagte Blaine mit einer wegwerfenden Geste. »National Book Award, Man-Booker-Preis – ich habe schon mehr Literaturpreise, als ich verdiene.«

»Hat Chalker Sie je gebeten, etwas von ihm zu lesen? Er wollte gern schreiben.«

»Ich habe da mal eine Frage an Sie«, sagte Alida und starrte Gideon eindringlich an. »Sie sind doch Physiker und arbeiten für das FBI?«

»Ja, aber das ist im Augenblick unerheblich …«

»Arbeiten Sie auch in Los Alamos?«

Ihr Scharfsinn verdutzte Gideon. Nicht dass es eine Rolle gespielt hätte; es war kein Geheimnis. »Einer der Gründe dafür, dass ich gebeten wurde, bei den Ermittlungen mitzumachen«, sagte er in gemessenem Tonfall, »ist, dass ich in Los Alamos in derselben Abteilung gearbeitet habe wie Chalker.«

»Wusste ich’s doch!« Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und lächelte triumphierend.

Gideon wandte sich wieder an Blaine und versuchte abermals, das Gespräch von sich abzulenken. »Wissen Sie noch, ob er Ihnen je etwas gezeigt hat, das er geschrieben hatte?«

Blaine dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Ich lese nie Texte von anderen, ich habe da eine ganz klare Linie. Wirklich, ich erinnere mich nur an einen eifrigen, etwas duckmäuserischen jungen Mann. Aber ich habe ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Zu meinen letzten Signierstunden ist er nicht mehr gekommen, oder, WT?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Hat er je erwähnt, dass er zum Islam übergetreten ist?«, fragte Gideon.

Blaine wirkte überrascht. »Nein, nie. Das ist etwas, was mir im Gedächtnis geblieben wäre. Nein, er muss über die üblichen Themen gesprochen haben. Ich erinnere mich eigentlich nur, dass er sehr hartnäckig war, was ein bisschen problematisch war, weil er die anderen aufgehalten hat.«

»Mein Vater ist einfach zu freundlich«, sagte Alida. »Er lässt sich immer stundenlang von den Leuten zutexten.« Alidas schlechte Laune hatte sich, so schien es, mit der Ankunft ihres Vaters verflüchtigt.

Blaine lachte. »Deshalb bringe ich ja Alida mit. Sie ist sozusagen der Knüttel, sie sorgt dafür, dass die Schlange sich weiterbewegt, sie stellt für mich fest, wie man die Namen der Leser schreibt. In Rechtschreibung bin ich so schlecht wie Shakespeare. Ehrlich, ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie anfangen sollte.«

»Ist Ihnen Chalker je außerhalb einer Signierstunde begegnet?«

»Nein, nie. Und er gehörte ganz bestimmt nicht zu jenen Menschen, die ich zu mir nach Hause eingeladen hätte.« Bei der letzten Bemerkung spürte Gideon einen gewissen britischen Snobismus, was eine ganz neue Seite an Mr. Simon Blaine enthüllte. Und doch: Gideon konnte ihm seine Ansicht kaum übelnehmen. Er selbst hatte es immer sorgsam vermieden, Chalker in seine Wohnung zu bitten. Er gehörte einfach zu den klammernden Typen, die man nicht in seinem Leben haben wollte.

»Und er hat nie mit Ihnen über das Schreiben gesprochen? Soweit mir bekannt ist, hat er möglicherweise an einer Autobiographie gearbeitet. Es könnte wichtig für die Ermittlungen sein, wenn wir die in die Finger bekämen.«

»Eine Autobiographie?«, fragte Blaine erstaunt. »Woher wissen Sie das?«

»Er hat an einer Schreibwerkstatt in Santa Cruz teilgenommen – autobiographisches Schreiben.«

»Autobiographisches Schreiben«, wiederholte Blaine und schüttelte den Kopf. »Nein, davon hat er nie etwas erwähnt.«

Gideon lehnte sich zurück und überlegte, was er sonst noch fragen könnte, aber ihm fiel nichts ein. Er holte seine Visitenkarten hervor und gab Blaine eine. Nach kurzem Zögern reichte er auch Alida eine Karte. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich bitte an. Mein Partner Special Agent Fordyce und ich fliegen übermorgen nach Santa Cruz, aber übers Handy können Sie mich jederzeit erreichen.«

Blaine nahm die Visitenkarte und ließ sie in seine Hemdtasche gleiten, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Ich begleite Sie hinaus.«

An der Tür fiel Gideon noch eine letzte Frage ein. »Was hat Chalker an Ihren Büchern eigentlich so gut gefallen? Irgendwelche bestimmte Figuren oder eher die Handlung?«

Blaine runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich wünschte, ich könnte mich erinnern … Doch, einmal hat er, glaube ich, bemerkt, die lebendigste Figur, die ich je geschaffen hätte, sei der Abt im Wanderer über dem Nebelmeer. Was mich erstaunt hat, denn ich halte diesen Abt für die böseste Gestalt, die ich je geschaffen habe.« Er hielt inne. »Aber für einen solchen Mann war das vielleicht ein und dasselbe.«

Gideon Crew 02 - Countdown - Jede Sekunde zählt
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