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Am Tatort herrschte eine Art kontrolliertes Chaos. Die unmittelbare Umgebung war eine unscheinbare Wohnstraße in einer groteskerweise »Sunnyside« benannten Arbeitersiedlung in Queens. Das Haus war Teil einer langen Reihe von miteinander verbundenen Backsteinhäusern, gegenüber befand sich eine identische Häuserzeile, dazwischen lag eine asphaltierte Straße voller Schlaglöcher. An der Straße stand kein einziger Baum; die Vorgärten waren verwildert, die Rasenflächen vertrocknet, weil es lange nicht geregnet hatte. Der Verkehr auf dem nahegelegenen Queens Boulevard dröhnte herüber, der Geruch von Autoabgasen hing in der Luft.
Ein Polizist zeigte ihnen, wo sie parken sollten, und sie stiegen aus. Die Polizei hatte beiderseits der Straße Absperrgitter und Betonsperren aufgestellt, außerdem standen überall Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht herum. Garza zeigte seinen Ausweis und wurde durch eine Absperrung gewunken, die eine drängelnde Menge von Schaulustigen zurückhielt, viele von ihnen tranken Bier, ein paar trugen sogar Partyhütchen und führten sich auf wie auf einem Straßenfest.
New York City, dachte Gideon und schüttelte den Kopf.
Die Polizei hatte einen großen Bereich vor dem Haus, in dem Chalker die Geiseln genommen hatte, geräumt. Zwei mobile Einsatzkommandos waren in Stellung gegangen, das eine vorn, hinter einem gepanzerten Rettungsfahrzeug, das andere weiter hinten, hinter einer Reihe von Betonsperren. Gideon sah auf mehreren Häusern Scharfschützen, die von den Dächern spähten. In einiger Entfernung ertönte hin und wieder eine Stimme durch ein Megaphon, anscheinend ein Geiselnahmeexperte, der versuchte, beruhigend auf Chalker einzureden.
Als Garza sich nach vorn durchdrängte, hatte Gideon plötzlich eine Art Déjà-vu-Erlebnis, einen Anfall von Übelkeit. So war sein Vater getötet worden, genau so hatte es ausgesehen: Megaphone, mobile Einsatzkommandos, Scharfschützen und Absperrungen – kaltblütig erschossen, als er sich mit erhobenen Händen ergab … Nur mit Mühe konnte Gideon die Erinnerung verdrängen.
Garza und Gideon durchquerten eine weitere Sperre und gelangten zu einem FBI-Kommandoposten. Einer der Agenten löste sich aus der Gruppe und kam zu ihnen.
»Special Agent Stone Fordyce«, stellte Garza den Mann vor. »Stellvertretender Leiter des FBI-Teams vor Ort. Sie werden mit ihm zusammenarbeiten.«
Gideon musterte Fordyce mit instinktiver Feindseligkeit. Der Typ sah aus wie aus einer Fernsehserie: hochgewachsen, gutaussehend, arrogant, selbstsicher und geradezu lächerlich fit. Er trug einen blauen Anzug, ein gestärktes weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte, der Ausweis baumelte ihm um den Hals. Mit seinen schmalen blauen Augen blickte er auf Gideon herab, als betrachtete er eine niedere Lebensform.
»Sie sind also der Freund?«, fragte Fordyce und musterte Gideon eindringlich, vor allem dessen Kleidung – schwarze Jeans, schwarze Sneakers ohne Schnürsenkel, weißes Secondhand-Smokinghemd, dünner Schal.
»Ich bin nicht die unverheiratete Tante, wenn Sie das meinen«, erwiderte Gideon.
»Es geht um Folgendes«, fuhr Fordyce nach kurzer Pause fort. »Ihr Freund, dieser Chalker, ist paranoid. Hat Wahnvorstellungen, eine klassische psychotische Episode. Er gibt einen Haufen Verschwörungstheorien von sich: Die Regierung habe ihn entführt und zu Strahlungsexperimenten missbraucht und ihm Strahlen in den Kopf gejagt – das Übliche. Er glaubt, dass seine Vermieter an der Verschwörung beteiligt sind, und hat sie deshalb als Geiseln genommen, zusammen mit ihren zwei Kindern.«
»Was will er?«, fragte Gideon.
»Ist nicht ganz klar. Er ist mit – wie wir vermuten – einem 45er Colt bewaffnet. Er hat damit ein-, zweimal in die Luft geballert. Wir sind nicht sicher, ob er wirklich weiß, wie man mit dem Ding umgeht. Wissen Sie etwas über seine früheren Erfahrungen im Umgang mit Waffen?«
»Ich denke, er hat keine«, sagte Gideon.
»Erzählen Sie mal, was Sie über ihn wissen.«
»Einzelgänger. Hatte kaum Freunde, hatte sich eine gestörte Frau erster Güte aufgehalst, die ihn total ausgequetscht hat. War unzufrieden mit seinem Job, hat davon geredet, er wolle Schriftsteller werden. Schließlich ist er dann religiös geworden.«
»War er gut in seinem Beruf? Intelligent?«
»Er beherrschte seine Arbeit, war aber nicht brillant. Was seinen IQ betrifft, so ist der weitaus höher als der, sagen wir, eines durchschnittlichen FBI-Agenten.«
Es entstand eine Stille, während Fordyce die Antwort auf sich wirken ließ, aber nicht reagierte. »In der Kurzdarstellung heißt es, dass der Mann in Los Alamos Atomwaffen mitentwickelt hat. Stimmt das?«
»Mehr oder weniger.«
»Glauben Sie, dass er in dem Haus da Sprengsätze zusammengebastelt haben könnte?«
»Er hat vielleicht an Atomwaffen gearbeitet, aber wenn er einen Knallfrosch gehört hätte, wäre er ausgerastet. Und was die Sprengsätze angeht – das bezweifle ich stark.«
Fordyce schaute ihn an und fuhr fort: »Er glaubt, dass alle hier was mit dem Staat zu tun haben und Agenten sind.«
»Womit er vermutlich recht hat.«
»Wir hoffen, dass er jemandem aus seiner Vergangenheit vertraut. Ihnen.«
Gideon hörte im Hintergrund weitere über Megaphon gerufene Sätze, dann eine verzerrte, gekreischte Antwort, die allerdings zu weit entfernt war, um sie verstehen zu können. Er drehte sich zu den Geräuschen um. »Ist er das?«, fragte er ungläubig.
»Leider.«
»Warum das Megaphon?«
»Er will weder per Handy noch Festnetz mit uns reden, weil wir das nur dazu benutzen würden, ihm noch mehr Strahlen in den Kopf zu jagen. Deswegen verwenden wir nur das Megaphon. Er ruft seine Antworten aus der Tür.«
Gideon drehte sich wieder in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. »Ich schätze mal, ich bin so weit, wenn Sie es sind.«
»Ich gebe Ihnen vorher noch einen Crashkurs in Geiselnahme-Verhandlungen«, sagte Fordyce. »Das Ganze beruht auf der Idee, ein Gefühl der Normalität zu erzeugen, den Erregungspegel zu senken, den Geiselnehmer zu beschäftigen, die Verhandlung zu verlängern. An sein Mitgefühl zu appellieren. Okay? Unser Ziel Nummer eins besteht darin, ihn dazu zu bringen, dass er die Kinder freilässt. Versuchen Sie, irgendetwas auszugraben, was er haben möchte, und tauschen Sie die Kinder dagegen ein. Konnten Sie mir so weit folgen?« Offenbar bezweifelte er, dass Gideon zu rationalem Denken fähig war.
Gideon nickte und verzog keine Miene.
»Sie sind nicht befugt, irgendetwas zu garantieren. Sie dürfen keine Versprechungen machen. Haben Sie verstanden? Alles muss mit dem Einsatzleiter abgesprochen werden. Worum der Mann auch bittet, gehen Sie darauf ein, aber sagen Sie, Sie müssten das erst mit dem Leiter abklären. Das ist der entscheidende Teil der Verhandlung. Dadurch wird die ganze Sache verlangsamt. Und wenn er etwas will, und die Antwort lautet nein, sind Sie nicht schuld. Es geht darum, ihn zu ermatten, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.«
Gideon wunderte sich, dass er mit dem Vorgehen insgesamt einverstanden war.
Ein Polizist erschien mit einer kugelsicheren Weste. »Wir werden Sie ein bisschen einkleiden«, sagte Fordyce. »Aber egal, es dürfte kein Risiko bestehen. Wir stecken Sie hinter kugelsicheres Plexiglas.«
Sie halfen Gideon, sein Hemd auszuziehen und die kugelsichere Weste anzulegen, steckten ihm die Verlängerungen in die Hose, dann statteten sie ihn mit einem unsichtbaren Ohrhörer und einem Funkmikro aus. Während er sich das Hemd wieder anzog, hörte er im Hintergrund weitere Sätze aus einem Megaphon, unterbrochen von hysterischen, unverständlichen Antworten.
Fordyce warf einen Blick auf seine Armbanduhr und zuckte zusammen. »Irgendwelche neuen Entwicklungen?«, fragte er den Polizisten.
»Das Verhalten des Mannes wird schlimmer. Der Leiter glaubt, dass wir bald in die Endphase übergehen müssen.«
»Verdammt.« Fordyce schüttelte den Kopf und wandte sich wieder zu Gideon um. »Noch etwas: Sie werden nach einem Drehbuch vorgehen.«
»Einem Drehbuch?«
»Unsere Psychologen haben es geschrieben. Wir geben Ihnen jede Frage durch den Ohrhörer durch. Sie stellen die Frage, warten einen Moment, nachdem er geantwortet hat, und bekommen dann von uns die Antwort.«
»Das können Sie doch auch selber. Dazu brauchen Sie mich doch nicht.«
»Sie haben’s erfasst. Wir benutzen Sie nur als Sprachrohr.«
»Wieso dann der Vortrag über Geiselnahme-Verhandlungen?«
»Damit Sie verstehen, was vor sich geht und warum. Und wenn das Gespräch persönlich wird, könnte es sein, dass Sie ein wenig improvisieren müssen. Aber nehmen Sie den Mund nicht zu voll, und machen Sie keine Versprechungen. Sichern Sie sich sein Wohlwollen, erinnern Sie ihn an Ihre Freundschaft, versichern Sie ihm, dass alles gut wird, dass seine Sorgen ernst genommen werden. Bleiben Sie ruhig. Und streiten Sie um Himmels willen nicht mit ihm über seine Wahnvorstellungen.«
»Ergibt Sinn.«
Fordyce musterte ihn lange, wie prüfend; seine Feindseligkeit ließ ein wenig nach. »Wir machen so etwas schon ziemlich lange.« Kurze Pause. »Sind Sie bereit?«
Gideon nickte.
»Los geht’s.«