24
Nachdem sie das Gewirr unbefestigter Straßen hinter sich gelassen hatten und in der Nähe von Jemez Springs auf den Highway 4 abgebogen waren, entspannte sich Gideon schließlich. Zu seiner Erleichterung wurden sie von der Paiute Creek Ranch weder offen noch verdeckt verfolgt. Als sie durch die Stadt fuhren, auf deren Straßen es von Touristen aus Santa Fe nur so wimmelte, drosselte er das Tempo des Kombis.
Während der wilden Fahrt aus den Bergen war Connie Rust – sie saß mit Fordyce auf dem Rücksitz – verstummt. Jetzt fragte sie schluchzend, immer und immer wieder: »Was passiert bloß mit mir?«
»Nichts Schlimmes«, erwiderte Fordyce beruhigend. »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Sie haben sicherlich schon mitbekommen, womit Ihr Ex-Mann zu tun hatte.«
Was wieder einen Schluchzanfall auslöste.
»Wir möchten Ihnen lediglich einige Fragen stellen, mehr nicht.« Gideon hörte zu, wie Fordyce ihr – unendlich geduldig, so als spräche er mit einem Kind – erklärte, dass sie eine Vorladung habe, die verlangte, dass sie alle ihre Fragen wahrheitsgemäß beantworte, dass sie aber nichts zu befürchten habe und dass sie nicht eingesperrt werde, sondern vielmehr eine sehr wichtige Person sei, auf deren Hilfe sie angewiesen seien. Er sprach weiter in leisem, besänftigendem Tonfall und überging dabei Rusts selbstmitleidige Gefühlsausbrüche, bis sie sich endlich zu beruhigen schien.
Ein letztes Schniefen. »Also, was wollen Sie denn wissen?«
»Mein Kollege«, sagte Fordyce, »Gideon Crew hat früher mal mit Ihrem Ex-Mann oben in Los Alamos zusammengearbeitet. Er wird die Fragen stellen.«
Gideon nahm das erstaunt zur Kenntnis.
»Aber erst einmal«, fuhr Fordyce fort, »nehmen wir einen Fahrerwechsel vor, damit er sich mit Ihnen unterhalten kann, ohne abgelenkt zu werden.« Er wandte sich an Gideon. »Habe ich recht, Partner?«
Gideon fuhr rechts ran.
Außerhalb des Wagens nahm Fordyce ihn beiseite. »Sie kannten doch Chalker«, sagte er leise. »Sie wissen also, was Sie fragen müssen.«
»Aber Sie sind der Befragungsexperte«, gab Gideon im Flüsterton zurück.
»Sie ist jetzt bereit zu reden.«
Gideon setzte sich auf den Rücksitz neben Rust. Sie schniefte noch immer und betupfte sich die Nase mit einem Taschentuch, sonst aber war sie ruhig. Sie schien sich sogar ein bisschen über die Aufmerksamkeit zu freuen. Gideon wusste nicht, was er tun sollte. Befragungen waren nicht sein Fall.
Fordyce startete den Wagen, lenkte ihn zurück auf die Straße und fuhr langsam weiter.
»Hm.« Gideon überlegte, wie er das Gespräch beginnen sollte. »Wie Agent Fordyce gesagt hat, ich war oben in Los Alamos ein Arbeitskollege Ihres Mannes.«
Sie nickte, ohne zu antworten.
»Wir waren befreundet. Ich glaube, Sie und ich sind uns schon einmal begegnet.« Er fand es besser, sie nicht daran zu erinnern, dass es sich um die Geburtstagsfeier handelte, auf der sie sich betrunken hatte.
Sie schaute ihn wieder an, und er erschrak, als er sah, wie verwirrt und orientierungslos ihr Blick wirkte. »Tut mir leid, ich kann mich nicht an Sie erinnern.«
Was fragen? Gideon zerbrach sich den Kopf. »Hat Reed während Ihrer Ehe je Interesse am Islam gezeigt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und hinsichtlich seiner Arbeit? Hat er jemals negative Ansichten über das zum Ausdruck gebracht, woran er in Los Alamos gearbeitet hat, den Bomben und dergleichen?«
»Er war sehr engagiert in seiner Arbeit. Stolz darauf. Es war ekelhaft.« Sie schneuzte sich. Über Chalker zu reden verschaffte ihr offenbar einen klaren Kopf, jedenfalls ein wenig.
»Warum ekelhaft?«
»Er war ein Werkzeug des militärisch-industriellen Komplexes und hat es nie begriffen.«
»Hat er jemals irgendwelche kritischen Äußerungen über die Vereinigten Staaten gemacht? Sympathie für terroristische Vereinigungen zum Ausdruck gebracht?«
»Nein. Er war ein Mitläufer. Sie hätten ihn nach dem elften September erleben sollen. ›Werft die Bombe auf die Mistkerle.‹ Er hatte ja keine Ahnung, dass Bush und Cheney die ganze Sache organisiert hatten.«
Gideon traute sich nicht, diese Auffassung zu kommentieren. »Ist es Ihnen damals nicht merkwürdig vorgekommen, dass er zum Islam konvertiert ist?«
»Überhaupt nicht. Als wir verheiratet waren, hat er mich immer ins Zen-Meditationszentrum mitgeschleift, zu den Kirchentreffen dieser pseudoindianischen Ureinwohner, zu Erhard Seminar Trainings, Veranstaltungen von Scientology, der Moon-Sekte – was auch immer, er hat alles ausprobiert.«
»Er war also so eine Art Sinnsucher?«
»So kann man das auch nennen. Er war eine Nervensäge.«
»Warum haben Sie sich scheiden lassen?«
Sie schniefte. »Ich habe Ihnen gerade den Grund genannt. Er war eine Nervensäge.«
»Sind Sie nach Ihrer Scheidung in Kontakt mit ihm geblieben?«
»Er hat’s versucht. Ich hatte ihn satt. Als er auf die Ranch kam, hat er mich schließlich verlassen. Willis hat ihm die Leviten gelesen.«
»Die Leviten gelesen?«
»Ja. Willis hat ihm gesagt, er würde ihn windelweich prügeln, wenn er sich wieder mit mir in Verbindung setzte. Also hat er’s nicht getan. Er war ein Feigling.«
Plötzlich sagte Fordyce vom Fahrersitz: »Haben Sie und Willis ein Verhältnis?«
»Hatten wir. Dann hat er sich zum Zölibat verpflichtet.«
Ja, klar, dachte Gideon und erinnerte sich an die junge Frau, die er in einem Bett neben Lockharts Büro liegen gesehen hatte.
»Also, was ist die Idee hinter der Ranch, ihr Zweck?«, fragte Fordyce.
»Wir haben uns von diesem Schein-Land abgetrennt. Wir haben uns davon abgekoppelt, sind autark. Wir bauen alle unsere Lebensmittel selbst an, kümmern uns umeinander. Wir sind die Vorboten eines neuen Zeitalters.«
»Und warum ist das alles notwendig?«
»Ihr alle seid doch Gefangene eurer Regierung. Ihr habt ja keine Ahnung. Eure Politiker leiden an der Krankheit der Macht. Das System ist völlig korrupt, aber ihr kapiert das nicht.«
»Was meinen Sie mit ›Krankheit der Macht‹?«, fragte Fordyce.
»Alle Machtstrukturen werden am Ende ihrem Wesen nach von Psychopathen übernommen. Fast alle Regierungen in der Welt sind von begabten Psychopathen übernommen worden, die über große Kenntnisse der menschlichen Psychologie verfügen und die ganz normalen Leute zu ihrem Vorteil ausbeuten. Diese pathologischen Perversen sind unfähig, Mitgefühl zu empfinden, sie haben kein Gewissen. Sie haben ein unstillbares Verlangen nach Macht, und sie regieren die Welt.«
Das waren Sprechblasen, abgedroschene Sprüche, allerdings waren sie nicht gänzlich von der Hand zu weisen, zumindest für Gideon. Er hatte gelegentlich ähnlich gedacht.
»Was also haben Sie vor, dagegen zu tun?«, fragte Fordyce.
»Wir werden das alles wegfegen und ganz von vorn anfangen.«
»Wie wollen Sie es denn wegfegen?«, fragte Gideon.
Plötzlich verstummte sie und presste die Lippen aufeinander.
Nach einem Augenblick fragte Fordyce: »Was machen Sie da eigentlich auf der Ranch?«
»Ich war ursprünglich Mitglied im technischen Team, aber jetzt arbeite ich im Garten.«
»Technisches Team?«
»Genau.« Sie hob selbstbewusst den Kopf. »Wir sind keine Maschinenstürmer. Wir schätzen die Technik. Die Revolution wird durch neue Technologien herbeigeführt werden.«
»Was für Technologien meinen Sie?«
»Internet, das Netz, Massenkommunikation. Sie haben doch unsere Satellitenschüsseln gesehen. Wir sind extrem gut vernetzt.«
»Wird es während der Revolution zu Gewalt kommen?«, fragte Gideon freundlich.
»Die Psychopathen werden nicht freiwillig die Macht abgeben«, antwortete sie grimmig.
Sie näherten sich dem Stadtrand von Santa Fe, fuhren am Gefängnis vorbei, das Grasland ging in vorstädtische Siedlungen über. »Gab es auf der Ranch Interesse an der Arbeit Ihres Ex-Mannes?«, fragte Fordyce. »Ich meine, er hat Atomwaffen entwickelt. Könnte doch ein gutes Mittel sein, um die Psychopathen wegzufegen.«
Wieder Schweigen. Dann: »Das ist nicht der Grund, warum ich eingeladen wurde.«
»Warum wurden Sie denn eingeladen?«, fragte Fordyce.
»Weil … Willis mich geliebt hat.«
Nach dieser kleinlauten Antwort sagte sie gar nichts mehr. Ganz gleich, wie sehr sie sie fragten und drängten, sie schwieg. Sie lieferten die grimmige Zeugin im Kommandozentrum von NEST in Santa Fe ab, ohne dass sie auch nur ein weiteres Wort gesagt hätte.
»Sollen sich die doch mit ihr beschäftigen«, sagte Fordyce, als sie in Richtung Norden losfuhren. »Wir verschwinden und besuchen mal den Imam.«