34

Nach einem langen, beschwerlichen Aufstieg den Berghang hinauf gelangten sie am späten Nachmittag oben auf den letzten Berggrat und blickten plötzlich auf eine unberührte Landschaft aus Bergen und Tälern, die weder von Straßen noch irgendwelchen Hinweisen auf menschliches Leben durchbrochen wurde. Sie machten Rast. Von Zeit zu Zeit hatte Gideon die Rotorengeräusche von Hubschraubern gehört, von denen einige ziemlich tief über sie hinweggeflogen waren. Doch der Wald war so dicht, dass sie sich in der Vegetation verstecken konnten.

Es handelte sich um ein riesiges Gebiet namens Bearhead, der entlegenste Teil der Jemez Mountains. Gideon hatte zwar in den unteren Bereichen des Bärenkopfes geangelt, war aber noch nie tief in das Gebiet vorgedrungen. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Berge in ein tiefes Violett.

»Wenn jemand da reingeht, könnte er für immer verschwinden«, sagte Alida und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die dunstige Ferne.

»Stimmt«, sagte Gideon. Er ließ die Satteltaschen fallen und räusperte sich. »Entschuldigen Sie, aber ich fürchte, ich muss pinkeln.«

Sie schaute ihn an und hob in abschätziger Belustigung die Brauen. »Nur zu.«

»Vielleicht sollten Sie sich umdrehen.«

»Warum? Ich habe Sie nicht darum gebeten, uns zusammenzubinden. Machen Sie schon, mal sehen, was Sie vorzuweisen haben.«

»Das ist doch lächerlich.« Er öffnete den Hosenschlitz und urinierte, wobei er sich, so gut es ging, von ihr wegdrehte.

»Du meine Güte, Sie sind ja ganz rot geworden.«

Sie stiegen eine Reihe steiler Hänge hinunter, wobei sie die Deckung einer Schlucht ausnutzten, bis sie sich auf einmal in dichtem Unterholz unter hohen Fichten und Tannen befanden. Sie bahnten sich ihren Weg, obwohl sie kaum sehen konnten, wohin sie gingen, stiegen steile Hänge hoch und runter. Es war eine schwere Tour, aber sie bot ihnen gute Deckung.

»Also, was ist dein Plan, Abdul?«, fragte Alida schließlich.

»Ich finde das gar nicht komisch.«

»So wie ich das sehe, flüchten Sie vor den vereinten Strafverfolgungsbehörden der gesamten USA, die Sonne geht gerade unter, Sie haben kein Hemd, und wir befinden uns am Arsch der Welt – ohne Lebensmittel und ohne Wasser. Und Sie haben keinen Plan. Na toll.«

»Im Bärenkopf gibt es angeblich ein paar alte Minen. Wir tauchen unter.«

»Okay, wir übernachten in einer Mine. Und dann?«

»Ich überlege.« Was hätte mein alter Kumpel Sergeant Dajkovic wohl in so einer Lage getan?, fragte sich Gideon im Stillen. Vermutlich sich hinlegen und hundert Liegestütze machen.

Sie wanderten in den Bärenkopf, folgten dabei Elchpfaden, die auftauchten und wieder verschwanden, bis sie schließlich zum Rand einer kleinen Wiese neben einem trockenen Flussbett gelangten. Dahinter, auf halber Höhe des Hangs, sahen sie die dunklen Öffnungen mehrerer Minen, samt alten Grubenschachtgebäuden und Abraumhalden.

»Hier übernachten wir«, verkündete Gideon.

»Ich habe einen Mordsdurst.«

Gideon zuckte mit den Achseln.

Er sammelte von der Wiese mehrere Handvoll trockenes Gras und band alles zu einem festen Bündel zusammen. Sie stiegen zu dem nächstgelegenen Stollen hinauf. An der Öffnung lieh er sich Alidas Feuerzeug, entzündete das Bündel, und dann bewegten sie sich vorsichtig in den Gang hinein, während das Licht des Feuers über die holzverstärkten Wände und die Decke flackerte. Es war ein alter Hartgestein-Stollen, der geradewegs in den Hang hineinführte. Gideon hoffte, Hinweise auf Wasser zu finden, doch es war in der Mine ebenso trocken wie in dem Bachbett draußen.

Den hintersten Teil der Mine bildete ein Bett aus weichem Sand. Alida setzte sich, zog eine Zigarette hervor und steckte sie sich an dem brennenden Grasbündel an. Sie inhalierte tief und stieß eine lange Rauchfahne aus. »Was für ein Tag. Dank Ihnen.«

»Hm, darf ich …?«

»Unglaublich. Sie entführen mich, nehmen mich als Geisel, sorgen dafür, dass auf mich geschossen wird, und jetzt schnorren Sie auch noch Zigaretten von mir.«

»Ich habe nie behauptet, ohne Fehler zu sein.«

Sie hielt ihm eine Zigarette hin. »Geben Sie mir mal die Satteltaschen.«

Er reichte sie ihr, und sie löste die Verschlüsse, kramte darin herum und holte zwei Granola-Riegel heraus. Sie warf ihm einen hin und öffnete den anderen. Gideon nahm einen Bissen, wobei die Krümel seinen trockenen Mund verstopften.

»Morgen suchen wir als Erstes Wasser«, sagte er, würgte und steckte den Rest des Riegels in seine Tasche.

Sie saßen eine Weile schweigend im Dunkeln da und rauchten.

»Das hier ist deprimierend«, sagte Alida. »Wir brauchen ein Feuer.«

Sie standen auf, gingen nach draußen und füllten sich die Arme, so gut es ging, mit trockenen Stücken Eiche. Die Sonne war untergegangen, die Luft war inzwischen kühl, Sterne sprenkelten den Himmel. Von Zeit zu Zeit waren die fernen Rotorengeräusche von Hubschraubern zu hören, doch im Laufe der Nacht verklangen sie, und alles wurde still. Gideon machte ein kleines Feuer, wobei das trockene Holz kaum Rauch erzeugte.

Alida zerrte an Gideons von den Handschellen wundgescheuertem Handgelenk. »Legen Sie sich hin. Ich will jetzt schlafen.«

Er legte sich neben sie, auf den Rücken, so wie sie. Zehn Minuten sprach keiner ein Wort. Dann sagte Alida: »Scheiße. Ich bin zu aufgeregt, um schlafen zu können. In einem Moment drehe ich einen Film, und im nächsten bin ich an einen Terroristen gekettet, hinter dem das ganze verfluchte Land her ist.«

»Sie halten mich doch wohl nicht wirklich für einen Terroristen? Hoffe ich.«

Langes Schweigen. »Sie sehen nicht aus wie einer, das muss ich zugeben.«

»Sie haben verdammt recht, und ich sehe nicht nur nicht wie einer aus. Es hat da ein absurdes Missverständnis gegeben.«

»Woher wissen Sie eigentlich, dass es sich um einen Irrtum handelt?«, fragte sie.

Gideon hielt inne. Fordyce’ Worte gingen ihm wieder durch den Kopf. Sie haben es fein hingekriegt, so zu tun, als würde Ihnen der Typ unsympathisch sein – und dann stellt sich heraus, dass Sie einer seiner besten Kumpel sind und dass Sie von Anfang an mit ihm unter einer Decke gesteckt haben. Und dann die verrückteste Anschuldigung von allen: Dieses ganze Zeug auf Ihrem Rechner – das sind ja beschissene dschihadistische Liebesbriefe.

»Dschihadistische Liebesbriefe«, sagte er laut.

»Wie bitte?«

»Das hat der FBI-Agent gesagt, der versucht hat, mich festzunehmen. Dass ich auf meinem Rechner, Zitat Anfang, dschihadistische Liebesbriefe, Zitat Ende, habe.«

Wieder langes Schweigen.

»Wissen Sie«, fuhr Gideon fort, »Sie haben da eine sehr gute Frage gestellt. Natürlich war das kein Irrtum. Mir ist eine Falle gestellt worden.«

»Ach ja?«, kam die Antwort in einem Tonfall voller Skepsis. »Warum sollte jemand so was machen?«

»Weil unsere Ermittlung die Person oder die Gruppe hinter der ganze Sache gefährdet.« Er überlegte einen Augenblick. »Nein, nicht gefährdet – wir müssen einen direkten Treffer gelandet haben. Müssen irgendwem eine Heidenangst eingejagt haben. Das Flugzeug zu manipulieren, mir eine Falle zu stellen, das sind riskante, verzweifelte Maßnahmen.« Er machte eine Pause und dachte nach. »Die Frage ist: Welchen meiner Rechner haben die infiziert. Ich weiß, dass es nicht mein persönlicher Rechner in der Hütte sein kann. Die gesamte Festplatte ist mit einem RSA-2048-bit-Schlüssel kodiert. Also müssen sie meinen Rechner oben in Los Alamos infiziert haben.«

»Aber ist das denn nicht ein geheimes System?«

»Das ist es ja gerade. Der Rechner ist Teil eines äußerst geheimen, isolierten Netzes. Aber aus Sicherheitsgründen ist der Inhalt jedes Rechners in seiner Gesamtheit nur den Netzwerk-Sicherheitsoffizieren und bestimmten anderen Mitarbeitern zugänglich. Das Netzwerk speichert automatisch alles und jeden in dem System und zeichnet jeden Tastenanschlag auf. Wenn also jemand an meinem Computer oben im Labor herumgefummelt hat, dann müsste es sich um einen Insider handeln – und es müsste aufgezeichnet sein.«

Im letzten Lichtschein des Feuers sah er, dass Alida ihn musterte. »Also, was wollen Sie dagegen unternehmen?«

»Mit Bill Novak sprechen. Dem Netzwerk-Sicherheitsoffizier. Er ist der Typ, der Zugang zu allen Dateien hat.«

»Dann werden Sie also ein nettes Gespräch führen. Und er wird einem gesuchten Terroristen alles erzählen, was der wissen muss.«

»Wenn Sie ihm Ihren Revolver an den Kopf halten, wird er’s tun.«

Sie stieß ein harsches Lachen aus. »Sie Idiot, das ist eine Attrappe, die ist mit Platzpatronen geladen. Andernfalls hätte ich Sie aus dem Sattel gepustet.«

Er zog den Revolver hinter seinem Gürtel hervor, inspizierte ihn und runzelte die Stirn. Er war tatsächlich mit Platzpatronen geladen. »Ich werde mir was ausdenken.« Er hielt inne. »Wie auch immer, wir gehen nach Los Alamos.«

»Aber das liegt hinter dieser Bärenkopf-Wüste, über dreißig Kilometer entfernt.«

»Sie wollten einen Plan, jetzt haben Sie ihn. Und Los Alamos ist der letzte Ort, an dem die nach mir suchen werden.«

Gideon Crew 02 - Countdown - Jede Sekunde zählt
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