47

Gideon Crew kroch auf die Sandbank. Er war taub vor Kälte, zerschrammt und blutend, und hatte Schmerzen am ganzen Körper nach dem Ritt durch die Stromschnellen und dem langen Kampf, ans Ufer zu gelangen.

Er setzte sich auf und schlang, hustend und zitternd und um Atem ringend, die Arme um die Knie. Seinen Schreckschussrevolver und die echte Pistole hatte er irgendwo in den Stromschnellen verloren. Flussaufwärts war das leise Rauschen der Stromschnellen zu hören, und er erkannte auch die undeutliche Linie des Weißwassers, dort, wo sich der Canyon verbreiterte. Er saß auf einer niedrigen Sandbank, die sich Hunderte Meter entlang einer inneren Biegung des Flusses zog. Vor ihm strömte der Fluss träge dahin, der Mond schien auf die sich bewegende Oberfläche.

Sowohl stromauf als auch stromab waren die Lichter der Helikopter zu sehen, der nach unten gerichtete Lichtschein der Suchscheinwerfer in der Dunkelheit. Er musste aus dem Offenen wegkommen und Deckung finden.

Es gelang ihm, auf wackligen Beinen aufzustehen. Wo war Alida? Hatte sie überlebt? Das hier war zu schrecklich – es war nie Teil des Plans gewesen. Er hatte eine unschuldige Frau in seine Probleme mit hineingezogen, so wie Orchid damals in New York. Und jetzt konnte es sein, dass Alida seinetwegen tot war.

»Alida!«, schrie er lauthals, kreischte es fast.

Er ließ den Blick über die Sandbank gleiten, die im Mondlicht glänzte. Da sah er eine dunkle Gestalt, die teilweise aus dem Wasser ragte und deren eine Hand gekrümmt über den Kopf ragte, starr und unbeweglich.

»O nein!«, rief er und strauchelte vorwärts. Doch im Näherkommen erkannte er, dass es sich nur um ein knorriges, missgestaltetes Stück Treibholz handelte.

Er ließ sich darauf nieder und rang nach Luft, unendlich erleichtert.

Der Hubschrauber, der am nächsten war, flog den Fluss hinunter auf ihn zu, und da wurde Gideon bewusst, dass er verräterische Fußspuren im Sand hinterließ. Leise fluchend hob er einen Ast auf und ging den Weg zurück, um die Fußabdrücke zu verwischen. Durch die körperliche Anstrengung wurde ihm etwas wärmer. Er überquerte die Sandbank, immer noch wischend, watete durch einen Seitenkanal, gelangte zur anderen Seite und lief in ein Dickicht aus Salzzedern, gerade als der Hubschrauber über ihm dröhnte und sein blendendes Suchlicht hin und her schwenkte.

Selbst nachdem es vorübergezogen war, blieb Gideon im Dunkel liegen und dachte nach. Er konnte diesen Abschnitt des Flusses erst dann verlassen, wenn er Alida gefunden hatte. Vermutlich dort, wo die reißenden Fluten in eine breite, träge Strömung übergingen, dort hätte sie sich – wenn sie noch am Leben war – wahrscheinlich ans Ufer gerettet.

Als über ihm erneut ein Helikopter dröhnte und die Luft durch die Blätter des Gehölzes, in dem er sich versteckte, fuhr, legte er zum Schutz vor dem Flugsand die Hände vors Gesicht.

Er kroch aus dem Gebüsch und spähte wieder den Fluss hinauf und hinunter, konnte aber nichts erkennen. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Prallhang; wenn Alida irgendwo war, dann musste sie sich auf dieser Seite des Flusses befinden. Er kroch durch das dichte Gebüsch, wobei er sich bemühte, keine Geräusche zu machen.

Plötzlich hörte er hinter sich ein Knacken, gleichzeitig legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Mit einem Aufschrei drehte er sich um.

»Sei still!«, ertönte die geflüsterte Antwort.

»Alida! O mein Gott, ich dachte …«

»Psst!« Sie ergriff Gideons Hand und zog ihn tiefer in die Büsche, weil ein weiterer Helikopter auf sie zuflog. Sie legten sich flach auf den Boden, während der Luftschraubenstrahl das Gebüsch schüttelte.

»Wir müssen vom Fluss wegkommen«, flüsterte sie, zog Gideon auf die Füße und rannte durch das Gebüsch einen trockenen Flusslauf hinauf. Gideon fand es ein wenig beunruhigend, dass sie in besserer körperlicher Verfassung war als er. Er schnappte nach Luft, während sie ein mit Felsen übersätes Gerinne überquerten, das zunehmend schmaler und steiler wurde.

»Dort«, sagte sie und zeigte nach oben.

Er hob den Kopf. Im fahlen Mondschein sah er die gezackten Überreste eines alten Lavastroms und an dessen Basis die dunkle Öffnung einer Höhle.

Sie kraxelten einen Geröllhang hinauf, Alida zog Gideon mit sich, wenn er strauchelte, und nach wenigen Minuten waren sie in der Höhle. Es war keine echte Höhle – mehr ein breiter Überhang –, doch sie schützte sie von oben und unten. Und der Boden war weich, aus festgestampftem Sand.

Alida streckte sich aus. »Gott, fühlt sich das gut an.« Es folgte ein kurzes Schweigen, ehe sie fortfuhr: »Dahinten ist etwas wirklich Verrücktes passiert. Ich habe einen Baumstamm am Ufer gesehen und hätte schwören können, dass es deine Leiche war. Das hat mich … na ja, richtig schockiert.«

Gideon stöhnte. »Ich habe ihn auch gesehen und habe gedacht, du wärst das.«

Alida stieß ein leises Lachen aus, das allmählich verklang. Im Dunkeln streckte sie den Arm aus, fasste seine Hand und drückte sie. »Ich möchte dir etwas sagen, Gideon. Als ich den Baumstamm gesehen habe, ist mir als Erstes in den Sinn gekommen, dass ich jetzt nie mehr die Gelegenheit erhalte, es zu sagen. Also sage ich es dir jetzt. Ich glaube dir. Ich weiß, dass du kein Terrorist bist. Ich möchte dir helfen, herauszufinden, wer es getan hat – und warum.«

Einen Moment lang war Gideon sprachlos. Er versuchte, eine besserwisserische Antwort zu finden, aber es fiel ihm keine ein. Nach allem, was passiert war – nachdem man ihm einen Terroranschlag in die Schuhe geschoben hatte, er von seinem Partner angegriffen worden war, man auf ihn geschossen und durch die Berge gejagt und durch Tunnel verfolgt, ihn in einen Fluss gedrängt hatte, in dem er fast ertrunken wäre –, verspürte er eine Art Ergriffenheit, weil Alida ihm Vertrauen schenkte. »Woher der Sinneswandel?«, stieß er hervor.

»Ich kenne dich jetzt«, fuhr sie fort. »Du bist aufrichtig. Du hast ein gütiges Herz. Es ist einfach ausgeschlossen, dass du ein Terrorist sein kannst.«

Wieder drückte sie ihm die Hand; und plötzlich, nach dem ganzen Stress, den Zweifeln, der Erschöpfung, der inneren Einsamkeit, stellte es irgendetwas mit Gideon an, ein mitfühlendes Wort zu hören. Es schnürte ihm die Kehle zu. Und ganz gegen seinen Willen merkte er, dass ihm Tränen in die Augen sprangen und seine Wangen hinabliefen. Und dann weinte er wie ein Baby.

Gideon Crew 02 - Countdown - Jede Sekunde zählt
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