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Gideon schreckte aus dem Schlaf hoch. Die Sonne schien hell in die Höhlenöffnung. Alida war fort. Irgendetwas hatte ihn geweckt.
Und dann hörte er draußen Stimmen.
Er setzte sich auf, sofort hellwach. Er konnte das Murmeln einer Männerstimme hören und das Knirschen von Schritten, die sich den Geröllhang hinauf dem Überhang näherten. Hatte Alida ihn wieder verraten – nach allem? Das konnte nicht sein … oder doch? Er zog seine Hose an, ergriff einen dicken Ast, der neben dem erloschenen Lagerfeuer lag, und stand leise und angespannt auf, zum Kampf bereit.
Das Knirschen kam näher, und da erschien die Silhouette eines Mannes in der Höhlenöffnung. Sonst war im blendenden Sonnenlicht nichts zu erkennen. Gideon setzte zum Sprung an.
»Gideon?«, ertönte die Stimme des Mannes. Eine Stimme, die er wiedererkannte. »Keine Sorge, wir sind es nur, Alida und Simon Blaine.«
»Gideon?« Alidas Stimme. »Alles in Ordnung?«
Gideons Panik wich, er senkte den Ast.
Blaine betrat vorsichtig die Höhle. »Ich bin gekommen, um zu helfen«, sagte er mit seinem Liverpooler Akzent. »Ist das in Ordnung für Sie?«
Alida betrat hinter ihrem Vater die Höhle.
Gideon warf den Ast beiseite und setzte sich zurück. »Wie spät ist es?«
»Ungefähr zwölf.«
»Wie seid ihr hergekommen?«, fragte Gideon.
Alida antwortete: »Ich bin zum Cochiti Lake gewandert und habe einen Typen in einem Wohnwagen dazu überredet, dass ich sein Telefon benutzen darf. Dann habe ich meinen Dad angerufen.«
Blaine stand vor ihm, lächelnd und koboldartig, in gebügelter Jeans und Arbeitshemd und einer albern aussehenden Cowboy-Lederweste, der weiße Bart getrimmt, die blauen Augen stechend. Alida stand neben ihm.
Gideon rieb sich das Gesicht. Er hatte so lange geschlafen, dass es ihm schwerfiel, seine Gedanken zu ordnen. Lebhafte Erinnerungen an die vorige Nacht bestürmten ihn.
»Dad will uns helfen«, sagte sie. »Genauso wie ich versprochen habe.«
»Stimmt«, fügte Blaine hinzu. »Meine Tochter sagt mir, dass Sie einem Komplott zum Opfer gefallen und kein Terrorist sind. Und was sie sagt, genügt mir.«
»Vielen Dank«, antwortete Gideon, der eine ungeheure Erleichterung verspürte. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihr Filmset zerlegt habe.«
»Dafür gibt’s ja Versicherungen. Außerdem hatten wir schon ein paar Szenen im Kasten. Also, das ist der Plan: Ich habe meinen Jeep auf einer unbefestigten Straße ungefähr sechs Kilometer von hier geparkt. Der Canyon und der Fluss wimmeln von FBI und Polizei und Gott weiß wem sonst noch. Aber es ist ein unzugängliches, großes Gebiet, und wenn wir in den kleinen Seitencanyons bleiben, können wir ihnen aus dem Weg gehen. Sie sind hauptsächlich unten am See und suchen nach euren Leichen.«
Gideon musterte Blaine. Sorge und Angst standen ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ich bringe euch beide hoch zur Ranch. Sie ist abgelegen. Die sind überzeugt, dass Sie ein Terrorist sind, Gideon, und glauben, dass meine Tochter mit Ihnen unter einer Decke steckt. Angesichts der Atmosphäre der Angst und des Schreckens, die da draußen herrscht – das ganze Land ist davon gepackt –, bezweifle ich, dass Sie eine Festnahme überleben würden. Sie machen sich ja keine Vorstellung von der Panik, die in der Gesellschaft herrscht, der irrationalen Panik, und es wird nur noch schlimmer. Wir müssen also schnell handeln. Wir müssen selbst herausfinden, wer Ihnen die Sache angehängt hat, und warum. Nur so können wir Sie – und meine Tochter – retten.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Sekte da oben in der Paiute Creek Ranch …«
»Vielleicht. Alida sagt, Sie würden mich ebenfalls verdächtigen.« Blaine sah ihn seltsam an
Gideon errötete. »Es scheint nicht wahrscheinlich zu sein. Aber jemand, mit dem Fordyce und ich uns unterhalten haben, war so alarmiert, dass er versucht hat, uns umzubringen … und mich zum Opfer seines Komplotts gemacht hat.«
Blaine nickte. »Sie müssen mir vertrauen. Und ich muss Ihnen vertrauen. Das ist das Entscheidende.«
Gideon blickte Blaine an. Er wusste wirklich nicht, was er sagen sollte.
Plötzlich lächelte Blaine und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie sind ein unverbesserlicher Skeptiker. Gut. Sollen also meine Handlungen für sich sprechen. Aber jetzt sollten wir losfahren.«
Es war ein großer Jeep Unlimited; sie legten sich auf die Rückbank, unter Decken, während Blaine auf den entlegenen Waldwegen fuhr, die an den Ausläufern entlang zu seiner Ranch führten.
Der Umweg dauerte mehrere Stunden, doch schließlich erreichten sie am Spätnachmittag die Ranch. Blaine fuhr in die Scheune, Alida und Gideon stiegen aus. Sie standen da in der wohlriechenden, nach Heu duftenden Düsternis.
»Ich muss telefonieren«, sagte Gideon. »Ich muss meine Auftraggeber anrufen.«
»Auftraggeber?«, fragte Blaine.
Gideon ging gar nicht darauf ein. Stattdessen marschierte er hinter Blaine und Alida aus der Scheune hinunter zum eigentlichen Ranchhaus, ein rustikales, zweigeschossiges Gebäude aus dem 19. Jahrhundert mit einer geräumigen Vorderveranda und einer ganzen Reihe von Mansardenfenstern.
Blaine führte Gideon zu einem Tisch in der Diele, auf dem lediglich zwei Gegenstände standen: ein Telefon und ein gerahmtes Foto von Blaine selbst, signiert mit: Für meine Wundertochter, mit all meiner Liebe. Gideon nahm den Hörer in die Hand und wählte Eli Glinns Telefonnummer, die, die er nur im dringendsten Notfall anrufen sollte.
Manuel Garza war am Apparat.
Gideon räusperte sich, versuchte, sich zu fassen und ruhig zu sprechen. »Ich bin’s, Crew. Ich muss mit Glinn sprechen.«
»Diese Leitung darf nur im Notfall benutzt werden.«
Gideon ließ einen Augenblick verstreichen, dann antwortete er ganz ruhig: »Sie glauben nicht, dass es sich um einen Notfall handelt?«
»Sie haben sich selbst in Schwierigkeiten gebracht, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das einen Notfall nennen würde.«
Wieder schwieg Gideon einen Moment. »Holen Sie ihn bitte an den Apparat, ja?«
»Moment.«
Er steckte in der Warteschleife. Eine lange Minute verstrich. Und dann war Garza wieder am Apparat. »Tut mir leid. Ich habe mit Mr. Glinn gesprochen. Er hat zu tun und kann im Moment leider nicht mit Ihnen sprechen.«
Gideon atmete tief durch. »Sie haben tatsächlich mit ihm gesprochen?«
»Genau, wie ich sagte. Er hat darauf bestanden, dass Sie jetzt auf sich allein gestellt sind.«
»Das ist eine Unverschämtheit! Ihr habt mich für diesen Auftrag eingestellt, und jetzt lasst ihr mich einfach im Regen stehen? Ihr wisst, dass ich kein gottverdammter Terrorist bin!«
»Er kann nichts für Sie tun.« Gideon hörte aus Garzas Tonfall eine gewisse unterdrückte Zufriedenheit heraus.
»Dann richten Sie ihm bitte aus: Ich höre auf. Ich gehe. Und wenn ich dieses Chaos hinter mich gebracht habe, dann knöpfe ich ihn mir vor. Sie kennen doch diese hübsche Narbe auf seinem Gesicht? Ich werde ihm auch die andere Gesichtshälfte verzieren. Und das ist nur der Anfang. Richten Sie ihm das aus.«
»Wird gemacht.«
Gideon legte auf. Garza hatte das genossen, dieser Scheißer.
Alida schaute ihn mit sorgenvoller Miene an.
Gideon versuchte, die Sache mit einem Achselzucken abzutun. »Ist nicht größer als irgendeines meiner anderen Probleme.« Er wandte sich zu Blaine um. »Ich möchte mir gern Ihren Jeep ausleihen, wenn ich darf. Es gibt da jemanden, dem ich oben auf der Paiute Creek Ranch einen Besuch abstatten muss.«
Blaine breitete die Arme aus. »Gern. Aber passen Sie bloß auf, dass die Behörden Sie nicht schnappen. Kann ich Ihnen mit irgendetwas anderem helfen?«
Gideon hielt inne. »Haben Sie Waffen im Haus?«
Ein breites Lächeln. »Ich besitze eine recht hübsche Sammlung. Möchten Sie sich die einmal ansehen?«