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Gideon starrte sie ungläubig an. Er musste sich da wohl verhört oder irgendetwas falsch verstanden haben. »Alida, was machen Sie da?«
Sie drehte sich zu ihm um, selbstsicher und gesammelt. »Ich habe auf meine Chance gewartet. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich könne es gar nicht erwarten, Sie auszuliefern. Wissen Sie noch?«
Einen Augenblick war Gideon so schockiert, dass er nicht mal wütend war.
»Fast hätte ich Ihnen Ihre ganze Geschichte abgenommen«, sagte sie. »Aber als ich die E-Mails hier gesehen habe …«
»Aber die hat mir doch jemand untergeschoben!«
»Ja, klar. Und all die FBI-Agenten, all die Hubschrauber, und dass alle auf Sie geschossen haben – ich nehme an, das ist auch alles ein Irrtum. Es ist einfach zu viel, um Ihnen das abzunehmen, Gideon. Ich bin nicht so leichtgläubig.«
Gideon hörte laute Schritte, die den Gang herunterkamen. Schnell zog er den Revolver und schoss damit einmal in die Luft. Dann packte er Chu am Arm, drehte ihn ihm auf den Rücken und hielt ihm die Waffe an den Kopf. »Raus«, brüllte er. »Auf den Gang.«
Mit einem furchtsamen Japser beeilte sich Chu, ihm zu gehorchen.
»Das ist ein Schreckschussrevolver!«, rief Alida und rannte hinter ihnen her.
»Glauben Sie mir, das Ding ist echt«, sagte Gideon. »Bringen Sie mich nicht dazu, ihn umzulegen.«
Gideon stieß Chu im Laufschritt vor sich her. Der Hochsicherheits-Checkpoint zu den inneren Labors befand sich weiter hinten auf dem Gang. Sie bogen um die Ecke und gelangten zu dem Kontrollpunkt. Er war mit zwei Metalldetektoren ausgestattet, und mehrere Wachleute waren dort postiert. Alle hatten ihre Waffe gezogen.
»Er ist ein toter Mann, wenn ihr mich aufhaltet!«, schrie Gideon und stieß Chu durch den Metalldetektor, der mit schrillem Alarm ausgelöst wurde.
»Das ist ein Filmrevolver, ihr Idioten!«, rief Alida.
»Wollt ihr, dass ich beweise, dass er echt ist? Wenn ihr mir folgt, schieße ich!« Gideon ging weiter und schubste Chu über den Gang zur Feuertreppe. Er stieß die Tür mit der Schulter auf und zog Chu mit sich die Treppe hinunter. Nur eine Person folgte ihnen: Alida.
»Miststück!«, sagte Gideon, als Alida ihm auf den Rücken sprang und versuchte, seinen Revolver zu packen. Er stieß sie zur Seite, aber sie ging erneut auf ihn los, boxte ihn und versuchte wieder, ihm die Waffe zu entreißen.
»Aufhören!«, schrie Chu.
Gideon riss sich los und stieß Chu durch die Tür unten an der Treppe und in den Partikelbeschleuniger-Kontrollraum. Dort standen zwei Angestellte vor dem großen Halbkreis der Bildschirme und Instrumente und starrten ihnen entsetzt entgegen.
Wieder hörte Gideon auf dem Gang draußen laute Schritte.
»Auf den Boden! Alle!« Er gab einen Schuss in Richtung Decke ab.
Die Angestellten warfen sich auf den Boden. Komisch, dachte Gideon grimmig, die Hersteller einiger der furchterregendsten Waffen auf der Welt waren in Wahrheit Schisshasen.
Sekunden später stürmten ein halbes Dutzend Security-Leute mit gezogenen Waffen in den Raum. Die Männer gehörten aber nicht zur Sicherheitsmannschaft von Los Alamos, sondern trugen NEST-Uniformen.
»Waffe fallen lassen!«, rief einer, während die anderen ihre Waffen auf Gideon richteten.
Gideon zog Chu herum, damit der ihm als Schutzschild diente, und drückte die Waffe an dessen Kopf. Chu gab ein ersticktes Krächzen von sich.
»Er hat einen Schreckschussrevolver, verdammt!«, rief Alida.
Der Leiter der Security-Truppe wirbelte herum und richtete seine Waffe auf Alida.
»Sie!«, schrie er. »Auf den Boden! Sofort!«
»Ich? Was zum –«
Mit einem Nicken gab der Sicherheitsbeamte zwei anderen ein Zeichen, die Alida umgehend zu Boden warfen. Sie begannen, sie unsanft zu durchsuchen.
»Ihr Schweine!«, kreischte sie und wand sich auf dem Boden.
»Ruhe!« Einer der Männer schlug ihr ins Gesicht.
Gideon fasste es nicht. Sie hielten Alida tatsächlich ebenfalls für eine Terroristin.
Der NEST-Anführer richtete seine Waffe wieder auf Gideon. »Lassen Sie die Waffe fallen, und lassen Sie Ihre Geisel los – oder wir eröffnen das Feuer.«
Gideon begriff, dass es denen – Chu oder nicht Chu – ernst war. Sie würden notfalls mitten durch Chu hindurchschießen, um ihn festnehmen zu können.
»Na gut«, sagte er.
Es war vorbei. Er senkte die Waffe von Chus Kopf, hielt sie nach vorn und ließ sie auf den Boden fallen. Chu rannte los und versteckte sich hinter den Security-Leuten. Langsam hob Gideon die Hände.
Die beiden Wachleute rissen Alida vom Boden hoch; sie hatten die Leibesvisitation beendet. Blut tropfte aus ihrer Nase und sprenkelte ihre weiße Bluse.
»Legt ihr Handschellen an«, sagte der NEST-Anführer. »Und Sie, Crew: mit dem Gesicht auf den Boden. Langsam.«
»Ihr Idioten!«, schrie Alida und versuchte, einem der NEST-Beamten einen Fußtritt zu versetzen. Einer von ihnen verpasste ihr einen Faustschlag in den Magen, so dass sie sich krümmte.
»Lasst sie in Ruhe, sie hat nichts mit der Sache zu tun!«, sagte Gideon.
»Auf den Boden!«, schrie der Mann Gideon an und richtete die Waffe auf ihn.
Gideon streckte die Arme aus und kniete sich hin – und da sah er eine Chance. Während er niederkniete, hielt er sich mit einer Hand am Leitstand für den Teilchenbeschleuniger fest und legte sie beiläufig auf einen kleinen, mit einer roten Plastikkappe bedeckten Schalter – der Schalter zur Abschaltung der Notstromversorgung. Er setzte das eine Knie auf den Boden, dann das andere. Gleichzeitig löste er unter seiner hohlen Hand die Abdeckung des Notfall-Schalters und packte ihn fest.
»Beeilung! Legen Sie sich auf den Boden! Flach auf den Boden! Flach!«, schrie der NEST-Anführer ungeduldig und fuchtelte mit seiner 45er.
Gideon verharrte. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Wenn ich diesen Schalter hier umlege, sind wir alle tot.«
Es entstand eine jähe Stille.
Gideon wandte sich zu den Angestellten um. »Sagen Sie’s denen.«
Einer der Angestellten warf Gideon einen kurzen Blick zu und sah, dass seine Hand den Schalter umfasste. Er wurde kreidebleich. »Mein Gott«, sagte er. »Das ist der Ausschalter für die Notstromversorgung. Wir laufen volle Kraft. Wenn er den betätigt … Jesses, tun Sie’s nicht!«
Niemand rührte sich.
Danke, mein Freund, dachte Gideon. Laut sagte er: »Sagen Sie denen, was passiert, wenn ich das tue.«
»Dadurch wird der Strom zum Magnetstrahlkorridor abgeschaltet. Der Strahl wird entbündelt, und wir alle fliegen in die Luft.«
»Ihr habt gehört, was er gesagt hat«, meinte Gideon ruhig. »Wenn ihr mich erschießt, stürze ich zu Boden, und der Schalter wird betätigt.«
Die Security-Beamten waren wie gelähmt. Sechs Pistolen blieben weiter auf ihn gerichtet.
»Ich bin verzweifelt«, sagte Gideon leise. »Und ich habe nichts zu verlieren. Ich zähle jetzt bis drei. Eins …«
Der Anführer blickte nach links und rechts. Er schwitzte enorm stark, denn er war zweifelsohne überzeugt davon, dass Gideon es tun würde.
»Zwei … ich meine es ernst, todernst.«
Der Anführer legte seine Waffe ab, die anderen folgten schnell seinem Beispiel.
»Gute Entscheidung. Und jetzt lassen Sie sie frei.«
Sie gaben Alida frei. Sie sackte auf die Knie, dann stand sie wieder auf, schwer atmend, und wischte sich das Blut von der Nase.
»Fürs Protokoll«, sagte Gideon. »Wir beide sind unschuldig. Ich bin Opfer eines Komplotts. Und ich werde den Verantwortlichen finden. Es tut mir also leid, Gentlemen, aber ich muss Sie jetzt verlassen. Alida? Ob Sie es nun wollen oder nicht, Sie bleiben besser bei mir. Bitte sammeln Sie die Waffen der Herren vom Boden auf, und geben Sie sie mir.«
Sie zögerte lange, denn sie war wütend. Ihre Blicke trafen sich. Gideon entdeckte in ihren Augen immer noch Zweifel, Zögern und Wut.
»Alida«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich Sie sonst überzeugen soll – außer dass ich an Ihre Intuition appelliere. Bitte, bitte, glauben Sie mir.«
Nach kurzem Zögern ging Alida durch den Raum, sammelte die Pistolen vom Boden auf und brachte sie Gideon. Bei allen bis auf eine ließ er die Magazine herausspringen und steckte sie sich in die Hosentasche. Dann entnahm er den Waffen die Patronen, die im Lauf waren, steckte auch die in die Tasche und ließ die leeren Pistolen zu Boden fallen. Den Revolver mit den Platzpatronen steckte er sich hinter den Gürtel. Während der ganzen Zeit hatte er eine Hand auf dem Abschalter behalten. Schließlich ließ er, die geladene Pistole in der anderen Hand, den Schalter los und ging, während er die Männer in Schach hielt, hinüber zur Tür und auf den Gang, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um.
Gerade rechtzeitig, denn draußen auf dem Gang waren laute Schritte zu hören.
Kurz darauf hörte er die Männer an der Tür, sie versuchten, in den Kontrollraum zu kommen. Geschrei, Donnern an der Tür. Noch ein Alarm ging los, lauter diesmal.
»Alle auf den Boden – bis auf Sie.« Gideon zeigte mit der Waffe auf den hysterischen Maschinenführer.
Der Mann hob die Hände. »Bitte, ich tue alles, was Sie wollen.«
»Das weiß ich. Schließen Sie die Tür zum Teilchenbeschleuniger-Tunnel auf.«
Der Mann lief hastig in den rückwärtigen Teil des Kontrollraums. Mit einem Magnetschlüssel schloss er eine kleine Tür in der Rückwand auf und öffnete die Tür. Ein schwacher grüner Lichtschein kam zum Vorschein. Hinter der Tür erstreckte sich ein gebogener, röhrenartiger Tunnel, der sich beinahe bis zum Fluchtpunkt erstreckte. Rechts befand sich eine Laufplanke, links ein komplizierter zylindrischer Apparat, der sich scheinbar bis ins Unendliche dehnte, bedeckt mit Drähten und Röhren, wie die Stufe irgendeiner monströsen Rakete. Der Apparat gab ein tiefes Summen von sich. Es handelte sich um einen kleinen Linearbeschleuniger, rund siebenhundert Meter lang, aber Gideon wusste, dass der Teilchenbeschleuniger-Tunnel mit viel älteren Tunneln verbunden war, die bis in die Zeit des Manhattan Project zurückdatierten. Wohin diese Tunnel führten, wusste er nicht – sie befanden sich hinter geschlossenen Türen.
Und doch stellten sie seine einzige Chance dar.
Gideon gab Alida zu verstehen, dass sie durch die Tür gehen sollte. Dann nahm er dem Angestellten den Magnetschlüssel ab, erleichterte den zweiten Angestellten um dessen Schlüssel und trat hinter Alida in den Tunnel.
Die Tür schlug hinter ihnen zu und wurde abgeschlossen.
Gideon wandte sich zu Alida um. »Ich muss es wissen: Stehen Sie auf meiner Seite, oder nicht? Denn wenn Sie nicht hundertprozentig von meiner Unschuld überzeugt sind, dann ist hier Schluss für Sie. Noch so einen Judas-Moment wie eben kann ich mir nicht leisten.«
Die Stille wurde unterbrochen von Getrommel an der Tür, Rufen und dem Schrillen eines dritten Alarms.
Sie erwiderte seinen Blick. »Meine Antwort lautet: Wir sollten lieber rennen wie die Teufel.«