7

Alle, bei denen die Geigerzähler ausschlugen, wurden wie Vieh in den Van getrieben. Die Schaulustigen hatten sich aus dem Staub gemacht, nur ihre Partyhütchen und Bierdosen lagen noch überall herum. Gruppen von Leuten in Schutzanzügen gingen von Tür zu Tür, holten die Leute aus ihren Häusern, manchmal mit Gewalt, und schufen dadurch ein chaotisches, aber auch mitleiderregendes Bild: weinende ältere Leute, die mit ihren Gehwagen umherschlurften, hysterische Mütter und schreiende Kinder. Aus Lautsprechern ertönte die Anweisung, man solle Ruhe bewahren und kooperieren, wobei allen versichert wurde, es sei zu ihrem eigenen Schutz. Kein Wort über Strahlung.

Gideon und die anderen saßen dichtgedrängt auf parallelen Sitzbänken. Die Türen knallten zu, und der Van fuhr an. Fordyce, ihm gegenüber, schwieg weiter grimmig, aber die meisten anderen Leute, die in dem Van eingepfercht waren, schienen Angst zu haben. Unter ihnen war ein Mann, den Fordyce als den Psychologen Hammersmith vorstellte und dessen Hemd blutverschmiert war, sowie ein Angehöriger des mobilen Einsatzkommandos, der Chalker auf kurze Entfernung erschossen hatte und nun ebenfalls mit seinem Blut dekoriert war. Radioaktivem Blut.

»Wir sind am Arsch«, sagte der Typ vom Einsatzkommando, ein großer, muskulöser Mann mit kräftigen Unterarmen und einer unpassend hohen Stimme. »Wir werden sterben. Die können nichts dagegen machen. Nicht, wenn wir verstrahlt sind.«

Gideon schwieg. Entsetzlich, wie wenig die Leute über Strahlung wussten.

Der Mann stöhnte. »Gott, mein Kopf hämmert. Es fängt schon an.«

»Hey, halten Sie den Mund«, sagte Fordyce.

»Fick dich, Mann«, brauste der andere auf. »Für diesen Scheiß habe ich nicht angeheuert.«

Fordyce schwieg, sein Kinn straffte sich.

»Hast du mich verstanden?« Der Mann hob die Stimme. »Für diesen Scheiß habe ich nicht angeheuert!«

Gideon warf dem Angehörigen des Einsatzkommandos einen kurzen Blick zu und sagte leise und deutlich: »Das Blut an Ihnen ist radioaktiv. Sie sollten sich lieber ausziehen. Und Sie auch.« Er warf Hammersmith einen kurzen Blick zu. »Jeder, der auf einem Kleidungsstück Blut des Geiselnehmers hat, sollte es ausziehen.«

Der Satz löste im Van hektische Aktivität aus, und die Panik verstärkte sich – eine lächerliche Szene. Alle zogen sich plötzlich aus und versuchten, Blut aus ihrem Haar und von ihrer Haut zu entfernen. Alle, bis auf den Typen vom Einsatzkommando. »Was spielt das noch für eine Rolle?«, sagte er. »Wir sind am Arsch. Fäule, Krebs, was ihr wollt. Wir sind sowieso schon so gut wie tot.«

»Niemand wird sterben«, sagte Gideon. »Alles hängt davon ab, wie stark Chalker kontaminiert war und mit welcher Art von Radioaktivität wir es hier zu tun haben.«

Der Typ vom Einsatzkommando hob den massigen Kopf und starrte ihn aus roten Augen an. »Was macht Sie eigentlich zu so einem spitzenmäßigen Atomwissenschaftler?«

»Dass ich zufällig ein spitzenmäßiger Atomwissenschaftler bin.«

»Schön für dich, du Pimpf. Dann weißt du ja auch, dass wir alle tot sind und du ein Scheißlügner bist.«

Gideon entschloss sich, den Mann zu ignorieren.

»Du lügnerischer Furz.«

Furz? Wieder betrachtete Gideon den Mann genervt. War er vielleicht auch durch die Strahlungsdosis verrückt geworden? Aber nein, das hier war schlicht blinde Panik.

»Ich rede mit dir, Bürschchen. Und lüg mich ja nicht an.«

Gideon strich sich mit den Fingern die Haare aus dem Gesicht und blickte wieder zu Boden. Er war müde, der Blödmann ging ihm auf die Nerven, alles ging ihm auf die Nerven, sogar das Leben selbst. Er hatte nicht mehr die Kraft, mit einer geistig minderbemittelten Person zu streiten.

Plötzlich stand der Kerl auf, packte Gideon am Hemd und hob ihn vom Sitz. »Ich habe dir eine Frage gestellt. Schau nicht weg.«

Gideon sah ihn an: das rote Gesicht, die Adern, die am Hals hervortraten, die Schweißperlen auf der Stirn, die bebenden Lippen. Der Mann sah dermaßen einfältig aus, dass er nicht umhinkonnte, zu lachen.

»Findest du das komisch?« Der Mann machte eine Faust, als wolle er gleich zuschlagen.

Fordyce’ Hieb in die Magengrube des Polizisten kam so schnell wie der Angriff einer Klapperschlange. Der Mann gab ein Uff! von sich und sackte auf die Knie. Eine Sekunde später hielt Fordyce ihn im Schwitzkasten. Er beugte sich vor und sagte ihm etwas ins Ohr, so leise, dass Gideon es nicht verstand. Dann ließ er den Mann los, der aufs Gesicht fiel, stöhnte und nach Luft schnappte. Schließlich richtete er sich mühsam wieder auf.

»Setzen Sie sich hin, und seien Sie still«, sagte Fordyce.

Der Mann nahm wortlos Platz. Kurz darauf begann er zu weinen.

Gideon zog sein Hemd glatt. »Danke, dass Sie mir das abgenommen haben.«

Fordyce schwieg.

»Na, jetzt wissen wir wenigstens Bescheid«, meinte Gideon nach einem Moment.

»Was?«

»Dass Chalker nicht völlig verrückt war. Er litt an einer Strahlungsvergiftung – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Gammastrahlen. Eine massive Dosis von Gammastrahlen bringt im Kopf alles durcheinander.«

Hammersmith hob den Kopf. »Woher wissen Sie das?«

»Jeder, der in Los Alamos mit Radionukliden arbeitet, muss sich mit den Kritikalitäts-Unfällen auskennen, die sich dort während der Anfangszeit ereignet haben. Cecil Kelly, Harry Daghlian, Louis Slotin, der Dämon-Kern.«

»Der Dämon-Kern?«, fragte Fordyce.

»Der Kern einer Plutoniumbombe, der zweimal falsch gehandhabt wurde. Er wurde jedes Mal kritisch, tötete die Wissenschaftler, die mit ihm hantierten, und verstrahlte einen Haufen andere. Er wurde schließlich neunzehnhundertsechsundvierzig beim Kernwaffentest ›Able‹ eingesetzt. Unter anderem erfuhr man anhand des Dämon-Kerns, dass eine hohe Dosis Gammastrahlung eine Person verrückt macht. Die Symptome sind dieselben wie die, die Sie eben bei Chalker erlebt haben – Geistesverwirrung, Raserei, Kopfschmerzen, Erbrechen und ein unerträglicher Schmerz im Bauch.«

»Das wirft ein völlig neues Licht auf die Sache«, sagte Hammersmith.

»Die wahre Frage«, sagte Gideon, »ist die Form, die diese Verrücktheit angenommen hat. Warum hat Chalker behauptet, dass man ihm Strahlen in den Kopf gejagt hat? Wurden Experimente an ihm durchgeführt?«

»Ich fürchte, dabei handelt es sich um das klassische Symptom einer Schizophrenie«, sagte Hammersmith.

»Ja, aber Chalker litt nicht an Schizophrenie. Und warum hat er gesagt, dass seine Vermieter Regierungsagenten sind?«

Fordyce hob den Kopf und blickte Gideon an. »Sie glauben doch wohl nicht, dass dieses arme Schwein von Vermieter tatsächlich ein Regierungsagent war, oder?«

»Nein. Aber ich frage mich, warum Chalker immer wieder von Experimenten gesprochen hat, warum er abgestritten hat, dass er in dem Apartment wohnte. Das ergibt keinen Sinn.«

Fordyce schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, für mich ergibt das alles allmählich doch einen Sinn. Sehr viel Sinn.«

»Wie das?«, fragte Gideon.

»Denken Sie doch mal nach. Der Mann arbeitet in Los Alamos. Er hat den höchsten Sicherheitsstatus. Entwickelt Atombomben. Konvertiert zum Islam. Verschwindet zwei Monate lang. Und als Nächstes taucht er verstrahlt in New York City auf.«

»Also?«

»Also hat sich der Dreckskerl einem Dschihad angeschlossen! Mit seiner Hilfe haben diese Leute einen Nuklearkern in die Finger bekommen. Den haben sie falsch behandelt, genauso wie den Dämon-Kern, von dem Sie gesprochen haben, und Chalker hat sich dabei den Arsch verstrahlt.«

»Chalker war kein Radikaler«, sagte Gideon. »Sondern eher ein stiller Typ. Er hat seinen Glauben für sich behalten.«

Fordyce lachte verbittert. »Es sind immer die Stillen.«

Im Van war es ruhig geworden. Jetzt hörten alle wie gebannt zu. Gideon beschlich ein Gefühl des Entsetzens. Was Fordyce gesagt hatte, klang irgendwie plausibel. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass der Mann vermutlich recht hatte. Chalker hatte wirklich die entsprechende Persönlichkeit. Er war genau die Art unsichere, verwirrte Person, die ihre Berufung in einem Dschihad findet. Und es gab keine andere Möglichkeit, die starke Dosis Gammastrahlen zu erklären, der er ausgesetzt gewesen sein musste, um so radioaktiv geworden zu sein.

»Wir sollten den Tatsachen ins Auge blicken«, sagte Fordyce, während der Van das Tempo drosselte. »Der ultimative Alptraum ist wahr geworden. Islamistische Terroristen haben sich eine Atombombe besorgt.«

Gideon Crew 02 - Countdown - Jede Sekunde zählt
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