30
Anderthalb Tage später parkte Gideon den Kombi – die Windschutzscheibe war ersetzt worden – auf der Wiese neben seiner Holz- und Adobeziegel-Hütte, stellte den Motor ab und stieg aus. Er blickte sich um, atmete tief ein und ließ einen Augenblick lang die frühabendliche Szenerie auf sich wirken: das weite Piedra-Lumbre-Becken, die Jemez Mountains ringsum, bestanden mit Gelbkiefern. Die Luft, der Ausblick, sie waren wie Balsam. Es war das erste Mal, dass er seit der Angelegenheit auf Hart Island zur Hütte zurückgekehrt war, und es fühlte sich gut an. Hier oben schien die düstere Stimmung, die ihn stets umgab, nachzulassen. Hier oben konnte er beinahe alles vergessen: die fieberhaften Ermittlungen, seine ärztliche Diagnose. Und auch die anderen, tiefer reichenden Dinge: seine verpfuschte Kindheit; das kolossale, einsame Schlamassel, das er aus seinem Leben gemacht hatte.
Nach einem langen Moment hob er die Einkaufstüten vom Beifahrersitz und ging in die Küchennische. Der Geruch nach Holzrauch, altem Leder und indianischen Teppichen hüllte ihn ein. Jetzt, da das Land in Aufruhr war, Städte evakuiert wurden und die Stimmen der Spinner und Verschwörungstheoretiker die Talkshows und das Radio beherrschten, war dies zumindest ein Ort, der gleich blieb. Gideon pfiff die Melodie von Straight, No Chaser und fing damit an, die Einkaufstüten auszupacken und die Sachen auf dem Küchentresen abzulegen. Er gönnte sich einen Augenblick, um in der Hütte herumzugehen, öffnete die Fensterläden und schob die Fenster hoch, überprüfte die Solaranlage und schaltete die Brunnenpumpe ein. Dann ging er in die Küche zurück, betrachtete, immer noch pfeifend, die verschiedenen Lebensmittel und begann, Töpfe, Messer und andere Haushaltsgegenstände aus diversen Schubladen hervorzuholen.
Gott, es fühlt sich gut an, wieder zurück zu sein.
Eine Stunde später öffnete er den Backofen, überprüfte, wie weit seine gedünsteten Artischocken à la provençale waren, als er hörte, wie ein Fahrzeug ankam. Er blickte aus dem Küchenfenster und sah Stone Fordyce hinterm Steuer eines schäbigen FBI-Crown-Vic. Als Reaktion darauf gab er ein Stück Butter in einen Rechaud und begann, sie auf dem Herd zu erhitzen.
Fordyce betrat die Hütte und sah sich um. »Das nenne ich rustikalen Charme.« Er warf einen Blick hinüber in die Küchennische. »Was ist das, Computerkrempel?«
»Ja.«
»Ganz schön viele Geräte, wenn man das alles mit Solarstrom speist.«
»Ich habe ziemlich große Batteriespeicherkapazitäten.«
Fordyce ging ins Wohnzimmer, warf sein Jackett auf einen Stuhl. »Das ist vielleicht eine Straße hierherauf. Ich hätte mir fast den Auspufftopf aufgerissen.«
»Schreckt Besucher ab.« Gideon wies mit einem Nicken zum Küchentisch. »Ich habe eine Flasche Brunello aufgemacht – bedienen Sie sich.« Er hatte überlegt, ob der Wein an dem FBI-Mann verschwendet wäre, aber beschlossen, es trotzdem zu versuchen.
»Den kann ich weiß Gott brauchen.« Fordyce schenkte sich ein großzügiges Quantum ein und trank einen Schluck. »Irgendetwas riecht gut hier.«
»Gut? Das wird das beste Mahl, das Sie je gegessen haben.«
»Tatsächlich?«
»Ich hab’s satt, Flughafen- und Hotelessen zu mir zu nehmen. Normalerweise esse ich nur eine Mahlzeit pro Tag, von mir selbst zubereitet.«
Fordyce trank noch einen Schluck Wein und machte es sich auf dem Ledersofa bequem. »Also, was haben Sie herausgefunden?«
Sie waren von der Unfallstelle nach Santa Fe zurückgekehrt, statt zum Writing Center weiterzufahren. Es war ihnen wichtiger erschienen, herauszubekommen, wer das Flugzeug manipuliert hatte – wenn es denn manipuliert worden war. Um Zeit zu sparen, hatten sie die investigativen Pflichten am heutigen Tag unter sich aufgeteilt.
»Aber sicher.« Der Butterschaum im Rechaud hatte die richtige Konsistenz, deshalb legte Gideon die rognons de veau – gespült und vom Fett befreit – sorgfältig vom Metzgerpapier in den Topf. »Ich habe mir mal die Cobre-Canyon-Anspielung genauer angesehen. Bin den Canyon raufmarschiert. Sie werden nicht glauben, was ich gefunden habe.«
Fordyce beugte sich vor. »Was denn?«, fragte er höchst gespannt.
»Einen Haufen Steine, ein paar Muscheln, einen Gebetsteppich, eine Schüssel für rituelle Waschungen und eine kleine Naturquelle.«
»Und das bedeutet?«
»Dass es sich um einen Schrein handelt. Die Mitglieder der Moschee gehen da hinaus, um zu beten. Keinerlei Hinweise darauf, dass dort Bomben hergestellt werden. Nur Anzeichen, dass da gebetet wird.«
Fordyce verzog das Gesicht.
»Und ich habe nachgeforscht, warum unser Freund, der Imam, aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Als Jugendlicher wurde er von einem Priester missbraucht. Wurde alles vertuscht, es wurde auch irgendeine Art von Zahlung geleistet. Nichts drang an die Öffentlichkeit. Seine Familie hat eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben.«
»Und genau das sollten wir herausfinden. Was er uns aber nicht sagen konnte.«
»Exakt. Außerdem habe ich etwas über die beiden Typen rausbekommen, die Sie in der Moschee auf Video aufgenommen haben. Und jetzt halten Sie sich fest: Einer von denen hat eine Verkehrspilotenlizenz, ist früher mal für Pan Am geflogen.«
Fordyce stellte sein Glas ab. »Irre. Na ja, das passt zu dem, was ich heute über unseren Unfall herausgefunden habe.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe den vorläufigen Bericht der Ermittler der Flugsicherheitsbehörde gesehen. Man hat das im Schnellverfahren geprüft. Demnach besteht kein Zweifel. Die Maschine ist manipuliert gewesen. Irgendjemand – vielleicht unser Freund, der Pilot – hat zum Flugbenzin in unserer Cessna Kerosin hinzugefügt.«
»Was heißt das?«
»Die Cessna fliegt mit bleiarmem Flugbenzin mit hundert Oktan. Diese Oktanzahl ist absolut nötig. Durch die Hinzufügung von Kerosin wurde die Oktanzahl verringert. Infolgedessen hat sich das Gemisch durch beide Kolben gefressen, durch einen nach dem anderen.« Fordyce trank noch einen Schluck. »Ein falsch betankter Motor kann normal starten und stoppen, bis zu dem Augenblick, in dem er verbrennt. Die Sache ist nur: Flugbenzin ist hellblau. Kerosin ist farblos, mitunter strohfarben. Bei der Durchsicht ist mir die Farbe tatsächlich etwas seltsam vorgekommen – zu hell –, aber das Benzin war trotzdem noch blau, also habe ich gedacht, es ist alles okay. Das ist ganz bewusst gemacht worden, von jemandem, der genau wusste, was er da tat.«
Es entstand ein kurzes Schweigen, während ihnen die Implikationen bewusst wurden.
»Also, wann haben Sie Ihre Ermittlungen beendet? Ich habe Sie ein halbes Dutzend Mal auf dem Handy angerufen. Sie hatten es ausgeschaltet.«
Plötzlich stieg wieder dieses düstere Gefühl in Gideon auf. Er hatte nicht vorgehabt, Fordyce irgendetwas zu erzählen, hörte sich aber trotzdem sagen: »Ich musste ein paar Tests machen lassen.«
»Tests? Was für Tests?«
»Das ist persönlich.«
Die rognons waren in der Butter fest geworden und waren jetzt hellbraun. Gideon legte sie sorgfältig auf einen Teller, den er auf dem Herd erwärmt hatte. Fordyce schaute auf den Teller, sein Gesicht legte sich langsam in Falten.
»Sind das etwa …?«
»… Nierchen. Lassen Sie mir ein, zwei Minuten Zeit, um die Reduktion zuzubereiten.« Gideon gab Schalotten, Brühe, Gewürze und einen ordentlichen Schuss Rotwein in den Rechaud.
»So etwas esse ich nicht«, sagte Fordyce.
»Das sind nicht mal Lammnieren – nur Kalb. Und Frank, mein Schlachter in der Stadt, hatte Rindermark vorrätig. Darum essen wir à la Bordelaise anstatt flambés.« Gideon würzte die Reduktion nach, dann schnitt er die Nierchen sorgfältig kreuzweise in Scheiben – perfekt durch, in der Mitte schön rosa –, schwenkte sie im Rechaud in der Sauce, gab das Rindermark hinzu und arrangierte schließlich alles auf zwei Tellern zusammen mit den gedünsteten Artischocken aus dem Backofen.
»Bringen Sie den Wein mit«, sagte er und trug die Teller in den Wohnbereich hinter der Küche.
Fordyce ging widerstrebend hinter ihm her. »Ich habe es Ihnen doch gesagt, ich esse das nicht. Innereien sind nicht mein Fall.«
Gideon stellte die Teller auf einen niedrigen Tisch vor dem Ledersofa.
Fordyce nahm auf dem Sofa Platz und starrte missmutig auf seinen Teller.
»Probieren Sie doch mal.«
Der Agent hob Messer und Gabel, zögerte.
»Nur zu. Seien Sie ein Mann. Wenn es Ihnen nicht schmeckt, hole ich Ihnen aus der Küche eine Tüte Tortilla-Chips.«
Behutsam schnitt er ein winziges Stück ab und probierte es argwöhnisch.
Gideon nahm selbst einen Bissen. Perfekt. Wie konnte man etwas so Köstlichem widerstehen?
»Wird mich wohl nicht umbringen«, sagte Fordyce und schob sich ein größeres Stück in den Mund.
Minutenlang aßen sie schweigend. Dann sagte Fordyce: »Ist irgendwie schon komisch, hier draußen zu sitzen, im Wald, Mittag zu essen und Wein zu trinken – der übrigens ausgezeichnet ist –, wo wir doch gestern erst einen Flugzeugabsturz überlebt haben. Ich fühle mich irgendwie erneuert.«
Das ließ Gideon an seine Diagnose denken. Und daran, wie er den Nachmittag verbracht hatte.
»Was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich auch wie neugeboren?«
»Nein«, sagte Gideon.
Fordyce hielt inne und sah ihn an. »Hey, alles in Ordnung?«
Gideon trank einen großen Schluck Wein. Er merkte, dass er zu schnell trank. Wollte er wirklich, dass das Gespräch in diese Richtung ging?
»Schauen Sie, wollen Sie wirklich nicht darüber reden? Ich meine, das war echt ein Heidenschreck.«
Gideon schüttelte den Kopf und stellte sein Glas ab. Er spürte den überwältigenden Wunsch, darüber zu sprechen.
»Das ist nicht das Problem«, sagte er schließlich. »Ich bin darüber hinweg.«
»Worum geht’s also?«
»Dass es mir … jeden Morgen als Erstes einfällt.«
»Was einfällt?«
Einen Augenblick lang gab Gideon keine Antwort. Er wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Aber nein, das stimmte nicht: Er hatte es aus demselben Grund gesagt, weshalb er Fordyce in die Hütte eingeladen hatte. Ob es ihre gemeinsamen Ermittlungen, ihre gemeinsame Bewunderung für Thelonious Monk oder einfach nur die Tatsache war, dass sie den gestrigen Absturz überlebt hatten, er betrachtete Stone Fordyce inzwischen als Freund. Vielleicht – mal abgesehen vom alten Tom O’Brien in New York – als einzigen Freund.
»Mir wurde mitgeteilt, dass ich eine tödliche Krankheit habe«, sagte er. »Jeden Morgen habe ich ungefähr ein, zwei Minuten Ruhe – und dann fällt es mir ein. Und darum fühle ich mich nicht wie neugeboren, erneuert, was immer.«
Fordyce hörte auf zu essen und sah ihn an. »Sie verarschen mich, oder?«
Gideon schüttelte den Kopf.
»Was ist es? Krebs?«
»Etwas, das unter dem Fachbegriff Aneurysma Vena Galeni bekannt ist, ein Gestrüpp von Arterien und Venen im Hirn. Statistisch bleibt mir noch rund ein Jahr, plus oder minus, sagen die Ärzte.«
»Es gibt keine Heilung?«
»Nein, die Sache ist inoperabel. Eines Tages wird dieses Gestrüpp einfach … platzen.«
Fordyce setzte sich zurück. »Jesses.«
»Dort bin ich heute Nachmittag gewesen. Ich habe eine zweite medizinische Meinung eingeholt. Schauen Sie, ich hatte Gründe, die erste Diagnose anzuzweifeln. Deshalb habe ich eine Kernspintomographie machen lassen.«
»Und wann bekommen Sie die Ergebnisse?«
»In drei Tagen.« Er hielt inne. »Sie sind der Erste, dem ich davon erzähle. Ich wollte Sie nicht damit belasten – es ist nur so … Verdammt, ich musste es wohl jemandem erzählen. Geben Sie dem Wein die Schuld.«
Einen kurzen Augenblick sah Fordyce ihn nur an. Den Blick kannte Gideon: Der Mann fragte sich, ob er verarscht wurde oder nicht. Und dann entschied er, dass er’s nicht wurde.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Fordyce. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Gott, das ist einfach nur schrecklich.«
»Sie müssen nichts sagen. Und mir wäre es lieber, wenn Sie es nie wieder erwähnten. Aber egal, vielleicht ist das ja alles Unfug. Die Tests heute Nachmittag werden es mir verraten.«
»Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie das Ergebnis haben?«, fragte Fordyce. »So oder so.«
»Mach ich.« Gideon lachte verlegen. »Tolle Art, eine Dinnerparty zu ruinieren.« Er griff nach der Flasche und füllte beide Gläser nach.
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Fordyce, ein wenig zu herzlich, »und esse die letzten paar Nierchen. Ich mag Nierchen. Zumindest, wenn sie à la Gideon gebraten sind.«
Sie aßen weiter, und das Gespräch drehte sich um oberflächliche Themen.
Am Ende stand Gideon auf und schob eine Ben-Webster-CD in die Stereoanlage. »Was ist Ihr nächster Schritt in den Ermittlungen?«
»Den Piloten aus der Moschee durch die Mangel drehen.«
Gideon nickte. »Ich würde gern zu der Movie Ranch hinausfahren, mir noch einmal Simon Blaine vorknöpfen.«
»Der Schriftsteller? O ja, kein Zweifel, das ist ein echter Desperado. Danach sollten wir uns noch mal diese Irren auf der Ranch vornehmen und denen ein bisschen auf den Zahn fühlen. Diese ganzen Satellitenschüsseln und die Hightech-Ausrüstung machen mich nervös. Von diesem Gerede der Ex von Chalker von einer drohenden Apokalypse ganz zu schweigen.«
»Ich bin nicht besonders scharf darauf, noch mal mit einem Viehtreiber eins gewischt zu bekommen.«
»Wir gehen mit einem mobilen Einsatzkommando rein und ziehen Willis an seinen Eiern raus, zusammen mit diesen Drecksäcken, die uns attackiert haben.«
»Habt ihr eigentlich nichts aus Waco gelernt?«
»Immer noch besser, als mit diesem Schriftsteller seine Zeit zu verplempern.«
»Er hat eine hübsche Tochter.«
»Ah, jetzt verstehe ich«, sagte Fordyce mit einem Lachen und schenkte sich den Rest aus der Flasche ein. »Sie ermitteln mit Ihren Keimdrüsen, verstehe.«
»Ich hole uns noch eine Flasche«, sagte Gideon.
Eine Miles-Davis-CD und eine zweite Flasche Wein später fläzten sich Gideon und Fordyce im Wohnzimmer der Hütte. Die Sonne war untergegangen, der Abend war kühl geworden, und Gideon hatte ein Feuer gemacht, das im Kamin knisterte und das ganze Zimmer in ein warmes Licht tauchte.
»Die besten Nierchen, die ich je gegessen habe«, sagte Fordyce und hob sein Glas.
Gideon trank seines aus. Als er es mit einer nachlässigen Bewegung zurück auf den Tisch stellte, merkte er, dass er mehr als nur ein wenig betrunken war. »Ich wollte Sie noch etwas fragen.«
»Schießen Sie los.«
»Im Flugzeug, da haben Sie irgendetwas über Menschenaffen und Pussy gemurmelt.«
Fordyce lachte. »Das ist eine Eselsbrücke in der Fliegerei. Menschenaffen bringen Pussy zum Stöhnen. Sie bezeichnet eine Checkliste der Dinge, die man erledigen muss, wenn ein Motor ausfällt: Mischung auf fett, Benzin an, Pumpe, Zündung links und rechts, und so weiter.«
Gideon schüttelte den Kopf. »Und ich hatte geglaubt, es handelt sich um die größte Weisheit aller Zeiten.«