31
Stone Fordyce erwachte zur Titelmelodie von Solo für O.N.C.E.L. Fluchend schaltete er seinen Handy-Wecker aus und wuchtete sich mühsam in die Senkrechte. Er wusste, dass das Hämmern in seinem Schädel auf den Wein zurückzuführen war, und ahnte, dass das Durcheinander in seinem Magen von den verdammten Nierchen herrührte, die er am Vorabend gegessen hatte.
Er warf einen Blick auf die Uhr: fünf Uhr morgens. Um halb acht New Yorker Zeit, halb sechs New-Mexico-Zeit hatte er einen routinemäßigen Bericht abzuliefern. Demnach blieb ihm noch eine Stunde Zeit, um seine Gehirnwindungen in Schwung zu bringen.
Zehn Minuten vor dem Anruf, mitten im Rasieren, klingelte sein Handy. Erneut fluchend, wischte er sich die Hände trocken und ging ran.
»Spreche ich mit Special Agent Fordyce?« Am anderen Ende der Leitung ertönte die kühle Stimme von Dr. Myron Dart.
»Entschuldigen Sie, aber ich dachte, unser Konferenzanruf sei für halb acht anberaumt«, sagte Fordyce verärgert und wischte sich den Rasierschaum von der unrasierten Seite seines Gesichts.
»Der Konferenzanruf ist gestrichen. Sind Sie absolut allein?«
»Ja.«
»Ich habe einige Informationen für Sie, auf die ich soeben aufmerksam gemacht wurde. Informationen, die … sehr brisant sind.«
Die Circle Y Movie Ranch lag im Norden von Santa Fe, im Piedra-Lumbre-Becken. Die 400-Hektar-Ranch wurde durch den Jasper Wash zweigeteilt und war von Hochebenen und Bergen umgeben, die sich bis zum Horizont erstreckten. Es war ein heißer Junitag, die Wüstenluft war leuchtend klar. Die Circle Y war die berühmteste der vielen sogenannten »Kino-Ranches« in der Umgegend von Santa Fe, eine in Betrieb befindliche Viehranch, die darüber hinaus mehrere Western-Kinokulissen beherbergte, die Hollywoodstudios für Dreharbeiten zu ihren Kino- und Fernsehfilmen nutzten.
Während Gideon die gewundene Ranchstraße entlangfuhr, erhob sich aus der Ebene das Bild einer Westernstadt, mit einem Kirchturm am einen Ende und einem klassischen Westernfriedhof mit aufragenden Grabsteinen am anderen. Eine staubige Hauptstraße verlief der Länge nach durch die Stadt. Wenn man sich ihr von hinten näherte, sah sie jedoch ein wenig seltsam aus, bis sich die Gebäude als bloße Fassaden erwiesen, die von zusammengezimmerten Gerüsten vor dem Umstürzen bewahrt wurden. Unmittelbar hinter diesem Pseudo-Dorf verlief der Jasper Creek, ein Fluss, der im Moment kein Wasser führte und der sich durch eine schmale, saisonal trockene Schlucht zwischen Felsvorsprüngen wand, die hier und da mit uralten Pappeln gesprenkelt waren.
Es war eine Postkartenidylle, alles wirkte wie golden gemalt in der frühmorgendlichen Sonne unter saphirblauem Himmel. Zwar war die Luft noch kalt, aber Gideon spürte bereits, dass es ein sengend heißer Tag werden würde.
Er parkte auf dem unbefestigten Parkplatz an der einen Seite der Stadt, in einem Bereich, der mit einem Seil für Fahrzeuge gekennzeichnet war. Gideon schlenderte auf die Filmkulisse zu. Im Ort war viel los, überall waren Kamera-Galgen zu sehen, hydraulische Arbeitsbühnen und Scheinwerfer, die das von lauten Befehlen aus Megaphonen durchbrochene Treiben überragten, dazwischen liefen Leute hierhin und dorthin.
Die Stadt war zum großen Teil mit Plastikband abgesperrt worden, und als Gideon sich der Sperre näherte, fing ihn ein Mann mit einem Klemmbrett ab. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte er und versperrte Gideon den Weg.
»Ich möchte gern Simon Blaine sprechen.«
»Erwartet er Sie?«
Gideon zückte seinen Ausweis. »Ich bin vom FBI.« Er lächelte den Mann freundlich an und – er konnte sich das einfach nicht verkneifen – zwinkerte. Ich könnte mich an so was durchaus gewöhnen.
Der Mann nahm den Ausweis entgegen und musterte ihn lange, ehe er ihn Gideon zurückgab. »Worum geht’s denn?«
»Das darf ich nicht sagen.«
»Mr. Blaine ist zurzeit beschäftigt. Können Sie warten?«
»Wir haben hier doch wohl nicht ein Problem?«
»Äh, nein, absolut nicht. Aber … lassen Sie mich mal nachsehen, ob er frei ist.«
Der Mann eilte davon. Gideon nutzte die Gelegenheit, sich unter dem Absperrband hindurch zu bücken und in die »Stadt« zu schlendern. Die lange Hauptstraße verlief zwischen einem Saloon, einer Schmiede und einem Sheriffbüro. Eine Steppenhexe rollte vorbei, und Gideon sah, dass es sich um eine echte Steppenhexe handelte, die mit goldgelber Farbe eingesprüht worden war, und dass sie von einer Windmaschine vorangedrückt würde, die hinter einer falschen Fassade stand. Weitere mit Farbe eingesprühte Steppenhexen stapelten sich in einem Drahtkorb neben der Windmaschine und wurden, eine nach der anderen, von einem Arbeiter mit gerufenen Anweisungen an den Mann an der Windmaschine ausgegeben, wohin genau die Gewächse geweht werden sollten.
Eine Gruppe Reiter im Western-Outfit kam auf Paint Horses die Straße heruntergetrappelt. Die vorderste Reiterin war Alida, die blonden Haare wehten im künstlichen Wind wie eine goldene Flamme. Sie trug die volle Western-Aufmachung: weiße Bluse, Lederweste, Revolver im Gürtel, Cowboy-Überhosen, Cowboyhut, Stiefel – die ganze Palette. Sie blickte in seine Richtung, erkannte ihn und zügelte ihr Pferd. Stirnrunzelnd saß sie ab und kam herüber, wobei sie das Pferd an den Zügeln führte.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte sie verärgert.
»Ich schaue nur mal vorbei. Um Ihren Vater zu treffen.«
»Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie immer noch diese dämliche Spur verfolgen.«
»Ich fürchte, doch«, sagte er höflich. »Schönes Pferd. Wie heißt es denn?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Sierra. Mein Vater ist tatsächlich beschäftigt.«
»Können wir das Ganze nicht auf eine nette, freundliche Art regeln?«
Sie ließ die Arme fallen und seufzte ärgerlich. »Wie lange wollen Sie mit ihm sprechen?«
»Zehn Minuten.«
Der Mann mit dem Klemmbrett kam zurück, sein Gesicht war vor lauter Angst runzlig. »Es tut mir sehr leid, er hat sich einfach hier rein–«
Alida drehte sich mit strahlendem Lächeln zu ihm um. »Ich kümmere mich schon darum.« Sie wandte sich wieder Gideon zu; das Lächeln war allerdings so schnell verschwunden, wie es gekommen war. »Die sind dabei, die Schlusssequenz von Moonrise zu drehen, außerdem steht noch eine große Pyro-Szene an. Können Sie nicht bis hinterher warten?«
»Pyro-Szene?«
»Die Stadt wird in die Luft gesprengt und abgefackelt. Oder zumindest ein großer Teil davon. Die Pyrotechniker sind so gut wie startklar.« Nach einem Augenblick fügte sie hinzu: »Vielleicht haben Sie ja Spaß daran.«
Es würde ihm etwas mehr Zeit geben, sich umzuschauen und ihr Fragen zu stellen. Wenn ihm welche einfallen würden. »Wie lange wird es dauern?«
Sie blickte auf ihre Uhr. »Ungefähr eine Stunde. Sobald alles explodiert ist und brennt, geht es ganz schnell. Sie können ja hinterher mit meinem Vater sprechen.«
Er nickte. »In Ordnung.« Er blickte sie forschend an. »Sie sehen aus wie ein Star.«
»Ich arbeite als Stunt-Double.«
»Für irgendjemanden im Besonderen?«
»Für die weibliche Hauptdarstellerin, Dolores Charmay. Sie spielt Cattle Kate.«
»Cattle Kate?«
»Die einzige Frau in der Geschichte des Wilden Westens, die wegen Viehdiebstahls gehängt wurde.« Alida lächelte.
»Ah ja. Also, das passt gut zu Ihnen. Wie viele böse Buben töten Sie denn so?«
»Oh, vielleicht ein halbes Dutzend. Außerdem muss ich herumgaloppieren, herumschreien, mit dem Revolver herumballern, durch eine Feuerwand reiten, eine Stampede auslösen, mich anschießen lassen und vom Pferd fallen – die üblichen Sachen eben.«
Ein Mann kam vorbei, er rollte ein Kabel aus, zwei andere Männer dahinter trugen eine Propangasflasche. Hinter der Kirche sah Gideon etwas, das aussah wie ein riesiger Gassack, der vorsichtig in Stellung gebracht wurde.
»Was ist das?«, fragte er.
»Das ist alles Teil der Pyrotechnik. Der Gassack erzeugt einen Feuerball. Sieht spektakulär aus, aber es gibt keine tatsächliche Explosion. Sehen Sie, in dem Film lagern die Bösen im Geheimen in der Stadt Waffen und Munition, deshalb wird eine Menge von dem Zeug explodieren.«
»Hört sich gefährlich an.«
»Nicht, wenn man’s richtig macht. Die haben ein Pyro-Team, das das Ganze einrichtet. Alles ist bis auf die Sekunde genau geplant und zeitlich festgelegt. Das ist so sicher wie ein Spaziergang im Park. Man sollte nur eben nicht in der Stadt sein, wenn sie abbrennt – mehr nicht.«
Sie erwärmte sich für das Thema und schien zu seiner Erleichterung vergessen zu haben, dass sie ihn unsympathisch fand.
»Und diese Sachen hier?«, fragte er, um sie zum Weiterreden zu ermuntern. Er zeigte auf irgendwelche zylinderförmigen Behälter, die gerade in den Boden eingegraben wurden.
»Das sind Flash-Pots. Sie werden mit einer Sprengstoffmischung gefüllt, die genau wie eine Bombe explodiert und nach oben schießt. Die Schnüre dort drüben führen zu Düsen und Gestellen, denen strahlen- und wandförmig brennendes Propangas entströmt, um so entstehende Brände zu simulieren. Sie werden es großartig finden, wenn das alles hochgeht. Wenn Sie denn Explosionen mögen.«
»Ich liebe Explosionen«, sagte er. »Alle Arten. Zu den Dingen, an denen ich in Los Alamos arbeitete, gehörte auch die Entwicklung hochexplosiver Linsen zur Kernwaffen-Implosion.«
Alida sah ihn ungläubig an; das bisschen Freundlichkeit, das sie ihm entgegengebracht hatte, schwand aus ihren Zügen. »Wie furchtbar. Sie entwickeln Atombomben?«
Er wechselte hastig das Thema. »Ich erwähne das nur, weil das, was Sie hier machen, nicht so ganz anders ist. Ich stelle mir vor, die Pyrotechnik hier läuft in einem zentralen Computerrechner zusammen, so dass das Ganze in der richtigen Reihenfolge explodiert.«
»Genau. Sobald die Szene gedreht wird, müssen die Leute sich beeilen, denn es wird nichts nachgedreht, nichts wird wiederholt. Wenn die Szene danebengeht, ist pyrotechnisches Material in Millionenhöhe im Eimer – und natürlich der Großteil der Kulisse.« Sie zog eine Zigarettenpackung aus der Brusttasche, schüttelte eine Zigarette hervor und steckte sie sich an.
»Hm, darf man hier rauchen?«
»Natürlich nicht.« Sie pustete eine lange Rauchfahne in seine Richtung.
»Geben Sie mir auch eine.«
Gequält lächelnd zog sie eine Zigarette aus der Packung, zündete sie für ihn an, drehte sie um und steckte sie ihm in den Mund.
Ein kleiner, O-beiniger, missmutig wirkender Mann mit rasiertem Schädel auf Stummelbeinen kam die Straße herunter und brüllte dabei irgendwas in ein Megaphon. Alida versteckte ihre Zigarette hinterm Rücken, Gideon folgte ihrem Beispiel.
»Ist das nicht …?«
»Claudio Lipari. Der Regisseur. Ein echter Besessener.«
Gideon bemerkte aus dem Augenwinkel eine Bewegung und drehte sich um. Ein Dutzend Limousinen trafen ein, wirbelten dabei eine rollende Staubwolke auf, doch anstatt auf dem Parkplatz zu halten, fuhren sie über die Absperrbänder und weiter in Richtung Stadt, wobei sie ausschwärmten.
Lipari hatte die Fahrzeuge gesehen. Er schaute stirnrunzelnd in die Richtung.
»Was geht hier vor?«, fragte Alida.
»Crown Vics«, sagte Gideon. »Das sind Einsatzfahrzeuge der Polizei.«
Die Wagen parkten am Rande der Stadt, umstellten sie. Türen wurden aufgestoßen, aus jedem Wagen stiegen vier Männer aus – alle trugen dicke blaue Uniformjacken, die kaum Zweifel daran ließen, dass sich darunter schusssichere Westen befanden.
Mit wütender Miene ging der Regisseur in Richtung des Wagens, der am nächsten stand, wedelte die Männer mit den Armen weg und rief ihnen irgendetwas zu, doch vergeblich. Die Männer in den blauen Uniformen rückten vor, schwärmten aus, zückten ihre Ausweise und zogen in einer gut koordinierten Aktion in die Stadt ein.
»Klassisch«, sagte Gideon. »Die wollen jemanden verhaften. Einen Großen.« Sind die hinter Blaine her?
»O Gott, nein«, sagte Alida. »Nicht gerade jetzt.«
Zu seiner Überraschung sah Gideon, dass Fordyce aus dem ersten Wagen stieg. Der FBI-Agent schien das Areal abzusuchen. Gideon winkte, Fordyce sah ihn und kam herüber. Seine Miene wirkte grimmig.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, meinte Gideon.
»Das ist unglaublich. Es kann unmöglich um meinen Vater gehen.«
Fordyce traf ein, mit rotem Kopf und gerunzelter Stirn.
»Was geht hier vor?«, fragte Gideon.
»Ich muss mit Ihnen unter vier Augen sprechen. Kommen Sie mal hier herüber.« Fordyce zeigte auf Alida. »Und Sie verschwinden bitte.«
Gideon folgte Fordyce, weg von Alida und der geschäftigen Hauptstraße. Sie gingen hinüber zu einem ruhigen Bereich hinter den Filmkulissen. Gideon sah überall Schnüre und eine Ansammlung von Flash-Pots. Fordyce hatte seine Waffe gezogen.
»Wollen Sie jemanden festnehmen?«, fragte Gideon.
Fordyce nickte.
»Und wen?«
Fordyce hob die Waffe. »Sie.«