14
Sie hatten mehrere Stunden in der FBI-Außenstelle in Albuquerque zugebracht und unzählige Formulare ausgefüllt, um einen Dienstwagen und ein Spesenkonto zu bekommen. Jetzt waren sie endlich unterwegs nach Santa Fe. Rechts erhob sich der große Bogen der Sandia Mountains, links floss der Rio Grande.
Sogar hier begegneten sie einem steten Strom überladener Fahrzeuge, die in die entgegengesetzte Richtung fuhren.
»Wovor laufen die weg?«, fragte Fordyce.
»Wenn ein Atomkrieg ausbricht, ist Los Alamos ein bevorzugtes Ziel, das weiß hier jeder.«
»Mag sein, aber wer redet denn von einem Atomkrieg?«
»Wenn die Atombombe der Terrorgruppe in Washington, D. C. hochgeht, weiß nur der liebe Gott, was passiert. Alles ist möglich. Und wenn sich Hinweise darauf finden, dass die Terroristen die Bombe von, sagen wir, Pakistan oder Nordkorea bekommen haben? Glauben Sie etwa, wir würden nicht zurückschlagen? Mir fallen ziemlich viele Szenarien ein, bei denen wir einen hübschen kleinen Atompilz über dem Berg dort aufsteigen sehen würden. Der übrigens nur zwanzig Meilen von Santa Fe entfernt ist und in Windrichtung liegt.«
Fordyce schüttelte den Kopf. »Sind Sie da nicht etwas vorschnell, Gideon?«
»Die Leute da draußen finden das nicht.«
»Herrgott noch mal«, sagte Fordyce. »Wir haben bestimmt vier Stunden mit diesen verdammten Typen verbracht. Dabei sind es nur noch neun Tage bis zum N-Day.« Er verwendete den Insider-Begriff für den mutmaßlichen Tag der Kernwaffenexplosion.
Sie fuhren eine Weile, ohne ein Wort zu wechseln.
»Ich kann diesen bürokratischen Mist nicht ausstehen«, erklärte Fordyce schließlich. »Ich muss einen klaren Kopf bekommen.« Er kramte in seiner Aktentasche, zog einen iPod hervor, schloss ihn ans Autoradio an und wählte einen Song.
»Laurence Welk, wetten«, murmelte Gideon.
Stattdessen dröhnte Epistrophy aus den Lautsprechern.
»Super!«, sagte Gideon verblüfft. »Ein FBI-Agent, der Monk hört? Sie wollen mich wohl veralbern.«
»Was glauben Sie denn, was ich mir anhöre? Motivationsvorträge? Sie sind also Monk-Fan?«
»Er ist der größte Jazz-Pianist aller Zeiten.«
»Was ist mit Art Tatum?«
»Zu viele Noten, zu wenig Musik, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Fordyce fuhr mit Bleifuß. Als der Tacho auf 160 Stundenkilometer kletterte, holte der FBI-Agent das Blaulicht aus dem Handschuhfach, stellte es aufs Dach und schaltete es ein. Der Fahrtwind und das Zischen der Reifen begleiteten Monks krachende Akkorde und plätschernde Arpeggien.
Sie lauschten eine Zeitlang schweigend der Musik, dann sagte Fordyce: »Sie kannten doch Chalker. Erzählen Sie mir von ihm. Was trieb den Mann an?«
Die Andeutung, er und Chalker könnten Kumpel gewesen sein, ärgerte Gideon. »Keine Ahnung.«
»Was haben Sie beide denn genau gemacht in Los Alamos?«
Gideon lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Sie hielten auf eine Reihe langsamerer Autos und einen LKW zu. In letzter Sekunde wich Fordyce auf die Überholspur aus. Der Wind rüttelte sie durch, als sie vorbeisausten.
»Also«, sagte Gideon, »wie schon erwähnt: Wir haben beide am Stockpile-Stewartship-Programm mitgearbeitet.«
»Und was genau soll das sein?«
»Geheimsache. Atomwaffen veralten, genau wie alles andere. Das Problem ist nur, wegen des Moratoriums können wir heutzutage keine Atomwaffentests mehr durchführen. Unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Waffen funktionieren.«
»Nett. Also was hat Chalker im Einzelnen gemacht?«
»Er hat mit dem Supercomputer des Labors Nuklearexplosionen simuliert, um festzustellen, welche Auswirkungen der radioaktive Zerfall der verschiedenen Komponenten auf den Strahlungsertrag hat.«
»Also Geheimsache?«
»Extrem.«
Fordyce rieb sich das Kinn. »Wo ist er aufgewachsen?«
»In Kalifornien, glaube ich. Er hat nicht viel von früher gesprochen.«
»Und als Mensch? Was war mit seinem Job, seiner Ehe?«
»Er war seit etwa fünf Jahren in Los Alamos. Seinen Doktor hat er in Chicago gemacht. Er war frisch verheiratet, brachte seine junge Frau mit. Sie wurde zum Problem. Sie war eine Art Ex-Hippie, der esoterische Typ. Sie kam aus dem Süden, und sie hasste Los Alamos.«
»Soll heißen?«
»Sie hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie gegen Kernwaffen war – sie hat die Arbeit nicht gebilligt, die ihr Mann machte. Sie hat getrunken. Ich erinnere mich an eine Party im Büro, auf der sie sich betrank und anfing herumzuschreien, etwas vom militärisch-industriellen Komplex faselte, die Anwesenden als Mörder beschimpfte und mit Dingen um sich warf. Sie hat ihr Auto zu Schrott gefahren und mehrere Anzeigen wegen Trunkenheit am Steuer bekommen, bevor man ihr den Führerschein ganz wegnahm. Wie ich gehört habe, hat Chalker getan, was er konnte, um die Ehe zu retten, aber irgendwann hat sie ihn verlassen und ist mit einem anderen Typen nach Taos. Dort hat sie sich einer New-Age-Kommune angeschlossen.«
»Was für eine Art Kommune?«
»Radikal, gegen die Regierung, soweit ich gehört habe. Selbstversorger, nicht ans Stromnetz angeschlossen, bauen ihr eigenes Gemüse und ihr eigenes Dope an. Linksgerichtet, aber von der schrägen Sorte. Sie wissen schon, die Sorte, die Waffen trägt und Ayn Rand liest.«
»So etwas gibt’s?«
»Im Westen – hier draußen – schon. Gerüchten zufolge hat sie seine Kreditkarten mitgenommen und das gemeinsame Konto geplündert, um mit dem Geld die Kommune zu unterstützen. Vor zwei, drei Jahren wurde Chalkers Haus zwangsversteigert, und er musste Privatinsolvenz anmelden. Das war ein echtes Problem, weil seine Arbeit als sicherheitsrelevant eingestuft war. Da wird von einem erwartet, dass man seine Finanzen in Ordnung hält. Er wurde mehrmals verwarnt und schließlich heruntergestuft. Er wurde versetzt und bekam eine Aufgabe mit weniger Verantwortung.«
»Wie hat er das aufgenommen?«
»Schlecht. Er war so eine Art verlorene Seele. Kein starkes Selbstwertgefühl, abhängiger Persönlichkeitstyp, tat das, was von ihm erwartet wurde, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte. Er fing an, sich ein wenig an mich ranzuhängen. Wollte mein Freund sein. Ich habe versucht, ihn auf Abstand zu halten, aber das war schwierig. Wir haben ein paarmal zusammen zu Mittag gegessen, manchmal ist er auch mitgekommen, wenn ich nach der Arbeit noch was mit Kollegen trinken ging.«
Fordyce war jetzt bei 180 Stundenkilometern angelangt. Das Auto schaukelte vor und zurück, der Motorenlärm und der Fahrtwind übertönten fast die Musik. »Hobbys? Interessen?«
»Er hat viel davon geredet, dass er schreiben wollte. Sonst fällt mir nichts ein.«
»Hat er denn je etwas geschrieben?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Seine religiöse Einstellung? Ich meine, bevor er konvertiert ist.«
»Mir nicht bekannt.«
»Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass er zum Islam übergetreten ist?«
»Er hat’s mir einmal erzählt. Er hatte sich ein Motorboot gemietet und fuhr auf den Abiquiu Lake raus, das ist ein See nördlich von Los Alamos. Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass er deprimiert war und vorhatte, sich das Leben zu nehmen. Jedenfalls, irgendwie ging er über Bord oder sprang aus dem Boot und trieb ab. Die schwere Kleidung hat ihn hinuntergezogen, und er ging ein paarmal unter. Aber dann, sagte er, gerade als er kurz davorstand, endgültig zu ertrinken, habe er gespürt, wie starke Arme ihn aus dem Wasser zogen. Und eine Stimme im Kopf gehört. Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen sagte die Stimme, glaube ich.«
»Das ist die erste Zeile des Korans, soviel ich weiß.«
»Es gelang ihm, wieder ins Boot zu steigen, das plötzlich wieder zu ihm zurückgetrieben sei, wie von einem unsichtbaren Wind gesteuert, sagte er. Er hielt das für ein Wunder. Auf dem Rückweg fuhr er an der Al-Dahab-Moschee vorbei, die ein paar Meilen vom Abiquiu Lake entfernt liegt. Es war Freitag, und es fand gerade das Freitagsgebet statt. Aus einer Laune heraus hielt er an, stieg aus und betrat die Moschee, wo er von den Muslimen sehr herzlich begrüßt wurde. Er erlebte eine intensive Bekehrung und trat auf der Stelle zum Islam über.«
»Was für eine Geschichte.«
Gideon nickte. »Er verschenkte seine Sachen und fing an, sehr asketisch zu leben. Er betete fünfmal am Tag. Aber er hat das sehr unauffällig getan, er ist niemandem damit auf die Nerven gegangen.«
»Welche Sachen hat er denn weggegeben?«
»Schicke Klamotten, Bücher, Alkohol, seine Stereoanlage, CDs und DVDs.«
»Waren irgendwelche anderen Veränderungen bemerkbar?«
»Die Bekehrung schien ihm sehr gutzutun. Er wurde zu einer integreren Persönlichkeit. War besser bei der Arbeit, konzentrierter, nicht mehr depressiv. Für mich war es eine Erleichterung – er hörte auf zu klammern. Er schien tatsächlich eine Art Sinn im Leben gefunden zu haben.«
»Hat er je versucht, Sie zu bekehren, Sie als Anhänger zu gewinnen?«
»Nie.«
»Gab es irgendwelche Probleme mit seiner Sicherheitsunbedenklichkeit, nachdem er Muslim geworden war?«
»Nein. Die Religionszugehörigkeit soll eigentlich nichts mit der Sicherheitsstufe zu tun haben. Er machte weiter wie bisher. Die höchste Einstufung hatte er ja sowieso schon verloren.«
»Gab es irgendwelche Anzeichen für eine Radikalisierung?«
»Nein, er war völlig unpolitisch, soweit ich das feststellen konnte. Kein Gerede über Unterdrückung, keine Hasstiraden gegen den Krieg im Irak und Afghanistan. Er scheute vor Kontroversen zurück.«
»Das ist typisch. Keine Aufmerksamkeit auf die eigenen Ansichten lenken.«
Gideon zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie meinen.«
»Was ist mit seinem Verschwinden?«
»Das war sehr plötzlich. Er war einfach weg. Keiner wusste, wo er hin war.«
»Gab es vor diesem Zeitpunkt irgendwelche Veränderungen?«
»Nicht, soweit ich sehen konnte.«
»Er passt wirklich ins Muster«, murmelte Fordyce kopfschüttelnd. »Fast wie aus dem Lehrbuch.«
Sie fuhren über den Kamm von La Bajada, und dann lag Santa Fe vor ihnen ausgebreitet. Über der Stadt erhoben sich die Sangre de Cristo Mountains.
»Das ist es also?« Fordyce kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, die Stadt wäre größer.«
»Sie ist bereits zu groß«, sagte Gideon. »Also, wie sieht unser nächster Schritt aus?«
»Erst mal einen dreifachen Espresso. Brühend heiß.«
Gideon erschauderte. Er war selbst eingefleischter Kaffeetrinker, aber Fordyce’ Konsum war beeindruckend. »Wenn Sie das Zeug weiter so hinunterkippen, brauchen Sie bald einen Katheter und einen Urinbeutel.«
»Nee, dann pinkle ich Ihnen einfach ans Bein«, erwiderte Fordyce.