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Als ihm der Lauf des Python auf das Sichtfenster gedrückt wurde, schrak Blaine zusammen. Gideon nutzte das aus, griff schnell hinunter zur Biotasche in Blaines Schutzanzug und schob die Hand hinein. Seine Finger schlossen sich um die noch immer kalte Scheibe, die er herauszog und vorsichtig einsteckte. Während er die Waffe weiter auf Blaine richtete, öffnete er die Haube des eigenen Schutzanzugs und zog sie sich vom Kopf, damit er besser sehen und atmen konnte.
»Gideon.« Das war alles, was Blaine mit leiser, bebender Stimme hervorbrachte.
»Legen Sie sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden neben den Hauptmann, die Arme über den Kopf ausgestreckt«, sagte Gideon lauter, als er beabsichtigt hatte.
»Gideon, bitte, hören Sie mir doch zu …«, begann Blaine, dessen Stimme wegen der Haube gedämpft klang.
Gideon spannte den Abzug des Colts. »Tun Sie, was ich Ihnen sage.« Dabei bemühte er sich, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Alidas Vater zu erschießen, war eine schreckenerregende Vorstellung, aber er wusste, dass die Situation viel zu gefährlich für ihn war, als dass er irgendwelche Schwächen zeigen durfte.
Er betrachtete die beiden Diebe, die mit ausgestreckten Armen auf dem Boden lagen. Sie trugen beide noch Schutzanzüge, ihre Waffen steckten in den Holstern darunter. Das Entwaffnen würde schwierig werden, insbesondere der Hauptmann sah aus, als könnte er sich als gefährlicher Gegner erweisen. Gideon hielt weiterhin den Revolver auf ihn gerichtet, holte mit der anderen Hand sein Handy hervor und rief Fordyce an.
Nachdem es einige Male geläutet hatte, stellte das Handy auf Voice-Mail um.
Gideon steckte es ein. Fordyce befand sich irgendwo in einem Funkloch – was erklären könnte, dass er ihn nicht angerufen hatte. Er musste allein mit der Situation fertig werden.
»Hauptmann«, sagte er, »nehmen Sie mit einer Hand die Haube ab, und halten Sie die andere stets ausgestreckt über dem Kopf und in Sichtweite. Wenn Sie irgendetwas versuchen, erschieße ich Sie.«
Der Hauptmann gehorchte.
»Jetzt Sie, Blaine.«
Kaum hatte Blaine seine Haube abgenommen, meldete er sich wieder zu Wort: »Gideon, bitte, hören Sie mich doch an …«
»Klappe halten.« Gideon war speiübel, seine Hände zitterten. Er wandte sich wieder dem Hauptmann zu. »Ich möchte, dass Sie langsam aufstehen. Dann ziehen Sie mit der linken Hand den Schutzanzug aus, wobei Sie die rechte die ganze Zeit vom Körper wegstrecken und in Sichtweite halten. Wenn Sie auch nur zucken, fange ich an zu schießen und höre erst auf, wenn Sie beide tot sind.«
Der Hauptmann gehorchte und versuchte keine Tricks – was für seine Intelligenz sprach. Gideon meinte es völlig ernst, als er gesagt hatte, er würde sie beide umlegen, das mussten sie gespürt haben.
Als der Schutzanzug ausgezogen war, befahl Gideon dem Hauptmann, sich wieder auf den Boden zu legen, dann durchsuchte er ihn und fand eine 9-Millimeter-Pistole und ein Messer. Er fesselte die Hände des Soldaten mit einem Stück Chirurgenschlauch, das auf dem Labortisch in der Nähe lag, hinter dem Rücken.
Dann drehte er sich zu Blaine um. »Jetzt Sie. Ziehen Sie Ihren Anzug aus, genauso wie der Hauptmann.«
»Um Alidas willen, hören Sie doch …«
»Noch ein Wort, und ich bringe Sie um.« Gideon merkte, dass er knallrot wurde. Er hatte versucht, die furchtbare Alida-Frage aus seinen Gedanken zu verbannen. Und jetzt spielte ihr Vater diese Karte gnadenlos aus, der Drecksack.
Blaine verstummte.
Als der Schutzanzug ausgezogen war, durchsuchte Gideon Blaine, nahm dessen Waffe an sich – einen wunderschönen alten 45er Colt Peacemaker mit Hirschhorngriff – und steckte ihn sich am Rücken hinter den Gürtel.
»Legen Sie sich wieder hin.«
Blaine gehorchte. Gideon fesselte auch ihm die Hände mit Chirurgenschlauch.
Was sollte er jetzt machen? Er brauchte Fordyce. Fordyce musste Blaine und den Hauptmann gesehen haben, als sie das Gebäude betraten, und war sicher auf dem Weg hier runter als Unterstützung – oder etwa nicht? Warum war er nicht hier? Hatten sie bereits unterwegs eine Auseinandersetzung gehabt? Unmöglich. Als sie ankamen, waren die beiden ganz ruhig gewesen, frisch, arglos. Hatte jemand Fordyce aufgehalten?
Es spielte keine Rolle. Er benötigte Hilfe. Es war an der Zeit, Glinn anzurufen.
Er zog sein Handy hervor. Da hörte er auf dem Gang hinter der Tür das schwere Getrappel von Stiefeln. Er trat einen Schritt zurück, als die Tür aufgezogen wurde und Soldaten in Kampfanzügen mit vorgehaltenen Waffen hereinstürmten.
»Keiner bewegt sich!«, rief der Soldat ganz vorn. »Lassen Sie die Waffen fallen!«
Plötzlich war Gideon absolut in Unterzahl. Sechs automatische Waffen waren auf ihn gerichtet. O nein, ist das der Grund, warum Fordyce nicht hier ist?, dachte er. Die müssen uns auf den Monitoren gesehen und eine Einsatztruppe angefordert haben. Er rührte sich nicht vom Fleck, die Hände ausgestreckt, den Python und die 9-Millimeter in Sichtweite.
Eine Sekunde später kam Dart herein. Er blickte sich um und nahm den Raum in Augenschein.
Gideon starrte ihn wütend an. »Dart? Was soll das?«
»Alles ist gut«, sagte Dart ruhig zu Gideon. »Von jetzt an kümmern wir uns um alles.«
»Wo ist Fordyce?«
»Wartet am Heli. Er hat mich angerufen, ohne Sie zu informieren, hat alles erklärt. Hat gesagt, dass Sie das allein machen wollen. Und wie ich sehe, haben Sie sich recht gut geschlagen. Aber jetzt sind wir hier, um zu übernehmen.«
Gideon starrte ihn weiter an.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich weiß alles darüber – über Blaine, das Exposé für den Roman, den Plan, die Pockenviren. Es ist jetzt vorüber, Sie sind vom Verdacht befreit.«
Also hatte Fordyce den Anruf doch getätigt. Und Dart hatte zugehört, und zwar so gut, dass er selbst mitgekommen war. Erstaunlich. Gideon merkte, wie sich sein ganzer Körper entspannte. Der lange Alptraum war endlich vorbei.
Dart blickte sich um. »Wer hat die Pockenviren?«, fragte er.
»Ich«, sagte Gideon.
»Darf ich sie bitte haben?«
Gideon zögerte – er war nicht ganz sicher, warum.
Dart streckte die Hand aus. »Darf ich sie bitte haben?«
»Wenn Sie die beiden hier festnehmen und schleunigst rausschaffen«, sagte Gideon. »Außerdem finde ich, dass die Pockenviren sofort in die Kältekammer zurückmüssen.«
Langes Schweigen. Dann lächelte Dart. »Glauben Sie mir, die Viren werden umgehend hinkommen, wo sie hingehören.«
Gideon zögerte dennoch. »Ich lege sie selbst zurück.«
Darts Miene wirkte nicht mehr ganz so freundlich. »Warum die Schwierigkeiten, Crew?«
Gideon wusste keine Antwort darauf. Die ganze Sache hatte etwas, das sich nicht ganz richtig anfühlte; irgendein vages Gefühl, dass Dart ein wenig zu freundlich war, dass er sich Gideons Ansichten ein bisschen zu schnell angeschlossen hatte.
»Ich mache keine Schwierigkeiten«, sagte Gideon. »Ich würde mich bloß besser fühlen, wenn ich sehe, dass die Viren in die Kältekammer zurückkommen.«
»Ich denke, das lässt sich arrangieren. Aber wenn wir ins Labor gehen, müssen Sie Ihre Waffen abgeben. Sie wissen schon – der Metalldetektor.«
Gideon trat einen Schritt zurück. »Der Hauptmann ist ohne Probleme mit seiner Pistole reingegangen. Es gibt hier keinen Metalldetektor.« Mit einem Mal klopfte ihm das Herz in der Brust. War das alles Theater? Logen sie ihn an?
Dart drehte sich zu den Soldaten um. »Entwaffnen Sie jetzt den Mann.«
Die Gewehre wurden wieder auf ihn gerichtet. Gideon starrte die Männer an und rührte sich nicht.
Ein Leutnant trat vor, zog seine Waffe und legte sie an Gideons Schläfe. »Sie haben ihn gehört. Ich zähle bis fünf. Eins, zwei, drei …«
Gideon reichte ihm den Python, die 9-Millimeter und den Peacemaker.
»Jetzt die Pockenviren.«
Gideon blickte von Dart zu den Männern. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war mehr als unfreundlich. Sie sahen ihn an, als wäre er ihr Feind. Konnte es sein, dass sie ihn immer noch für einen Terroristen hielten? Ausgeschlossen.
Trotzdem fühlte sich irgendetwas ganz falsch an.
»Rufen Sie den Direktor des USAMRIID hier nach unten«, sagte Gideon. »Er muss sich auf dem Gelände aufhalten. Ich gebe sie ihm.«
»Sie werden sie mir geben«, sagte Dart.
Gideon blickte von Dart zu den Soldaten. Er war unbewaffnet und hatte tatsächlich keine andere Wahl. »Also gut. Sagen Sie dem Leutnant, er soll zurücktreten. Ich mache das nicht, wenn mir eine Knarre an den Kopf gehalten wird.«
Dart vollführte eine Geste, und der Leutnant trat einen Schritt zurück, hielt seine Pistole aber weiter auf ihn gerichtet.
Gideon steckte die Hand in die Hosentasche, seine Finger schlossen sich um den Puck. Er zog ihn heraus.
»Ganz langsam«, sagte Dart.
Gideon hielt ihm den Puck hin. Dart trat einen Schritt vor, um den Puck zu nehmen, seine Hände schlossen sich darum.
»Tötet ihn«, sagte er.