56
Fordyce ging hinter Millard zwischen den Schreibtischen und Kabuffs hindurch, die die neue Kommandozentrale darstellten. Draußen zog ein strahlender Morgen herauf, aber in dem umgewandelten Lagerhaus war die Luft stickig, und Licht spendeten Neonröhren.
Millard ist ein echter Behördenmann, dachte Fordyce, immer freundlich, nie sarkastisch, mild im Ton – und doch, darunter, ein absolutes Arschloch. Was für ein Wort hatten die Deutschen dafür? Schadenfreude. Sich am Unglück der anderen erfreuen. Das beschrieb perfekt Millards Einstellung. Kaum hatte Millard angerufen und um ein Gespräch gebeten, konnte sich Fordyce denken, worum es sich drehen sollte.
»Wie geht es Ihnen, Agent Fordyce?«, fragte Millard im Ton geheuchelten Mitgefühls.
»Sehr gut, Sir«, erwiderte Fordyce.
Millard schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Sie machen auf mich einen müden Eindruck. Einen sehr müden, um ehrlich zu sein.« Er sah Fordyce aus zusammengekniffenen Augen an, als wäre der ein Ausstellungsstück in einer Museumsvitrine. »Und darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie sind überarbeitet.«
»Ich glaube nicht. Es geht mir wirklich bestens.«
Millard schüttelte wieder den Kopf. »Nein. Nein, Sie wirken erschöpft. Ich weiß Ihren Teamgeist ja zu schätzen, aber ich kann nicht zulassen, dass Sie sich weiter derart überarbeiten.« Er hielt inne, als bereite er sich auf den Todesstoß vor. »Sie müssen Urlaub nehmen.«
»Sie haben mir bereits gesagt, dass ich ein paar Tage freinehmen soll.«
»Es gehr hier nicht – wie soll ich sagen? – um eine kurze Pause. Ich möchte, dass Sie sich eine ernstzunehmende Auszeit nehmen, Agent Fordyce.«
Das war’s, der Satz, mit dem er schon gerechnet hatte. »Auszeit? Wieso?«
»Damit Sie die Batterien wieder aufladen können. Die Dinge wieder in einem objektiven Licht sehen können.«
»Von was für einem Zeitraum sprechen wir genau?«
Millard zuckte mit den Achseln. »Das ist im Moment etwas schwer zu sagen.«
»Auszeit« nannte Millard das also. Tatsächlich handelte es sich um eine unbefristete Freistellung. Fordyce war da sicher. Wenn er etwas unternehmen wollte, dann musste er das jetzt tun – sofort. Sie hatten nur noch einen Tag.
»Novak hat Dreck am Stecken.«
Das war eine derart aus dem Zusammenhang gerissene Bemerkung, dass Millard stutzte. »Novak?«
»Novak. Der Sicherheitschef für das Tech-Areal dreiunddreißig. Er hat Dreck am Stecken. Laden Sie ihn vor, drehen Sie ihn durch die Mangel, tun Sie, was nötig ist.«
Langes Schweigen. »Vielleicht sollten Sie mir das lieber erklären.«
»Novak pflegt einen Lebensstil, der seine finanziellen Mittel bei weitem übersteigt. Luxuskarossen, ein großes Haus, Perserteppiche, alles bei hundertzehntausend im Jahr. Seine Frau ist nicht berufstätig, und es gibt auch keine Erbschaft.«
Millard sah ihn von der Seite an. »Und warum ist das wichtig?«
»Weil es nur einen Menschen gibt, der diese E-Mails in Crews E-Mail-Account einschmuggeln konnte, und das ist Novak.«
»Und woher wissen Sie das alles?«
Fordyce atmete durch. Er musste es sagen. »Ich habe ihn vernommen.«
Millard starrte ihn an. »Das ist mir bekannt.«
»Wieso?«
»Novak hat sich beschwert. Sie sind ohne Befugnis nach Mitternacht bei ihm zu Hause hereingeplatzt, ohne sich an die Vernehmungsvorschriften zu halten. Was hatten Sie denn erwartet?«
»Mir blieb keine andere Wahl. Uns läuft die Zeit davon. Fest steht: Der Mann hat die Ermittler angelogen, hat ausgesagt, dass es nicht möglich sei, diese E-Mails unterzuschieben. Dabei hat er vergessen zu erwähnen, dass er der Einzige ist, der das getan haben konnte.«
Millard schaute ihn lange und fest an, die Lippen zusammengepresst. »Wollen Sie damit sagen, dass Novak Crew die Sache angehängt hat? Wegen Geld?«
»Ich sage nur, dass der Mann Dreck am Stecken hat. Laden Sie ihn vor, drehen Sie ihn durch –«
Millards Lippen wurden geradezu unsichtbar. »Mr. Fordyce, Sie tanzen aus der Reihe. Ihr Verhalten ist inakzeptabel, und Ihre Forderungen sind unanständig und, offen gesagt, empörend.«
Fordyce hielt es nicht mehr aus. »Unanständig? Millard, morgen ist N-Day. Morgen! Und Sie wollen, dass ich –«
Vom Haupteingang her war ein lauter Tumult zu hören. Ein Mann rief irgendetwas, die schrille Stimme hallte in dem Lagerhaus wider und hob sich über das Durcheinander von Stimmen, die umherschwirrten. Offenbar war der Mann gerade eben hereingebracht worden, und während er seine Empörung herausschrie, hörte Fordyce unzusammenhängende Anschuldigungen hinsichtlich Polizeibrutalität und Regierungsverschwörungen. Eindeutig ein Verrückter.
Und dann hörte Fordyce Gideons Namen, der sich unter die Satzfetzen mischte.
»Was soll das?« Millard sah ihn wieder scharf an. »Sie gehen nirgends hin. Ich komme gleich zu Ihnen zurück.«
Fordyce ging hinter Millard nach vorn, wo der Mann eine große Gruppe Agenten bestürmte. Voll Entsetzen sah Fordyce, dass es sich um Willis Lockhart handelte, den Sektenführer. Er war anscheinend nicht hereingebracht worden, sondern aus eigenem Antrieb gekommen. Doch welch eine Veränderung: Er war fuchsteufelswild, die Gesichtszüge verhärmt, Spucke auf den Lippen. Den Schimpfkanonaden entnahm Fordyce, dass Gideon Crew in der vorigen Nacht auf der Ranch aufgetaucht war, Lockhart mit vorgehaltener Waffe entführt und zu einem Grab geführt hatte, das er im Wald ausgehoben hatte, ihn misshandelt, gefoltert und damit gedroht hatte, ihn umzubringen, und währenddessen Antworten auf Fragen über Atombomben und Terrorismus und Gott weiß was sonst noch verlangt hatte.
Gideon war also noch immer am Leben.
Lockhart kreischte, das Ganze sei ein geheimer Plan, ein Komplott, eine Verschwörung – bis seine Tiraden völlig unverständlich wurden.
In diesem Moment war Fordyce plötzlich absolut überzeugt: Gideon Crew war unschuldig. Es gab keine andere Erklärung, keine. Denn warum sollte er sich zur Paiute Creek Ranch aufgemacht und getan haben, was Lockhart behauptete. Er war das Opfer eines Komplotts. Die E-Mails waren ihm untergeschoben worden. Und das bedeutete ebenso zweifelsfrei, dass Novak an dem terroristischen Komplott beteiligt war. Und wenn Fordyce das auch schon geahnt hatte, jetzt war die Schlussfolgerung unausweichlich.
»He! He, Sie da!«
Lockharts Schrei unterbrach Fordyce’ Erleuchtung. Er blickte auf und sah, dass der Sektenführer ihn anstarrte und mit zitterndem Finger auf ihn zeigte. »Er ist’s! Da ist er! Das ist der andere Typ, der letzte Woche auf die Ranch gekommen ist! Die haben einen Streit angezettelt, alles kurz und klein geschlagen, meine Leute verletzt! Du Schweinehund!«
Fordyce blickte nach links und rechts. Alle starrten ihn an, darunter auch Millard.
»Fordyce«, sagte Millard in merkwürdigem Ton, »ist das auch ein Mann, den Sie vernommen haben?«
»Vernommen?«, schrie Lockhart. »Sie meinen wohl misshandelt! Er hat ein halbes Dutzend meiner Leute mit einer Kettensäge angegriffen! Das ist ein Wahnsinniger! Verhaftet ihn! Oder steckt ihr alle in der Sache mit drin?«
Fordyce warf Millard einen Blick zu und schaute zum Ausgang. »Der Mann spinnt«, sagte er ruhig. »Schauen Sie ihn sich doch nur an.«
Auf allen Gesichtern stand eine gewisse Entspannung, eine gewisse Erleichterung, weil die Anschuldigungen genauso irre waren wie alle anderen. Das heißt, auf allen Gesichtern außer dem von Millard.
Plötzlich schlug Lockhart nach Fordyce, worauf es zu einem Handgemenge kam, als ein Dutzend Agenten herbeistürmten, um dazwischenzugehen.
»Lasst mich an ihn ran!«, brüllte Lockhart und fuchtelte wild mit den Armen. »Er ist der Teufel! Er ist dieser Gideon Crew!«
Fordyce holte mit seinem kräftigen Unterarm aus, traf damit einen Agenten und prallte gegen einen anderen. Im darauffolgenden Geschubse und Gebrülle und Geschiebe gelang es ihm, sich zu bücken, durch den Menschenandrang hindurchzuflitzen und aus der Tür zu schlüpfen. Er begab sich geradewegs zum Wagen, stieg ein, startete den Motor und fuhr los.