12
Gideon Crew blickte ungläubig auf das Chaos. Selbst um zwei Uhr morgens befanden sich noch so viele Notfall- und Regierungsfahrzeuge, Absperrgitter, Kommandozentralen und Kontrollstationen sowie Bereitstellungszonen rund um Chalkers Wohnung, dass sie mehrere Seitenstraßen entfernt parken mussten. Während sie sich zu dem Reihenhaus durchschlugen, in dem die Geiselnahme stattgefunden hatte, verwandelte sich das Areal in ein riesiges, chaotisches Gewimmel von Personen aus zahllosen staatlichen Einrichtungen. Überall Checkpoints, rotes Absperrband und kategorische Verneinungen. Gott sei gedankt für Fordyce, dachte Gideon. Seine FBI-Marke mitsamt seiner finsteren Miene ermöglichte ihnen, sich einigermaßen zügig einen Weg durch das ganze Gewirr zu schlagen.
Die Absperrungen hielten außerdem eine drängelnde Menge von Fernsehteams, Reportern und Fotografen zurück, vermischt mit Schaulustigen und Leuten, die aus ihren Wohnungen und Häusern evakuiert worden waren und die zum Teil dagegen protestierten, indem sie selbstgeschriebene Plakate schwenkten und herumkrakeelten. Erstaunlicherweise war es der Regierung bislang gelungen, den Deckel auf der explosiven Nachricht zu halten, dass radioaktive Strahlung freigesetzt worden war und man es möglicherweise mit einer Atombombe in den Händen von Terroristen zu tun hatte.
Gideon rechnete nicht damit, dass der Deckel noch sehr viel länger draufbleiben würde. Dafür wussten schon zu viele Leute Bescheid. Und wenn der Deckel hochging, konnte Gott weiß was passieren.
Sie kämpften sich zur Front der Ersthelfer durch und gelangten schließlich zur Kommandozentrale: drei Vans in U-Formation, geschmückt mit Satellitenschüsseln. Es war ein Apparat aufgebaut worden, der den Sicherheitskontrollen in einem Flughafen ähnelte, und die Mitarbeiter der verschiedenen Strafverfolgungsbehörden wurden in beiden Richtungen durchgeschleust. Dahinter war die Straße geräumt worden, wobei im grellen Schein des künstlichen Lichts mehrere Personen in Strahlenschutzanzügen zu sehen waren, die im Vorgarten und im Gebäude umhergingen.
»Herzlich willkommen in New York City, der Stadt des ewigen Massenchaos«, sagte Gideon.
Fordyce schritt auf jemanden in FBI-Uniform zu. »Special Agent Fordyce.« Er streckte die Hand aus.
»Special Agent Packard. Einheit für Verhaltensforschung.«
»Wir müssen in die Wohnung rein.«
Packard schnaubte zynisch. »Wenn Sie da reinwollen, müssen Sie sich hinten anstellen. Die sechs Typen, die im Moment in der Wohnung sind, sind schon seit drei Stunden drin, und es warten bestimmt noch hundert weitere. Dagegen lief der Einsatz am elften September geordnet ab.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Bei welcher Einheit sind Sie?«
»Ich arbeite als Verbindungsmann für einen privaten Ermittler.«
»Mein Gott, einen privaten Ermittler? Dann können Sie gleich Urlaub auf Hawaii machen und in zwei Wochen wiederkommen.«
»Welche Typen sind das also, die da zuerst reindürfen?«, fragte Fordyce.
»NEST natürlich.«
Gideon tippte Fordyce auf die Schulter und wies mit einem Nicken auf eine der Gestalten in den Strahlenanzügen. »Bei welchem Herrenausstatter der wohl einkauft?«, murmelte er.
Fordyce schien den Hinweis zu verstehen. Er zögerte kurz und dachte nach. Dann wandte er sich wieder zu Agent Packard um. »Wo kriegt man die Schutzanzüge her?«
Packard nickte in Richtung eines weiteren Vans. »Da drüben.«
Fordyce ergriff seine Hand. »Danke.«
Während sie davongingen, sagte Gideon: »Sie sind also bereit für eine kleine Guerilla-Aktion? Diese Dschihadisten haben die Bombe. Da können zwei Wochen reichlich lang sein.«
Fordyce schwieg und drängelte sich durch die Menge zu dem Van, Gideon immer hinterher. Es war schwierig für ihn, an der steinernen Miene des FBI-Agenten abzulesen, was er dachte.
Hinter dem Van war ein Umkleidezelt errichtet worden, darin befanden sich Garderobenständer mit Schutzanzügen und Atemschutzmasken. An den Ärmeln der Anzüge waren Strahlungsmesser befestigt. Fordyce duckte sich unter der Segeltuchabsperrung hindurch, ging mit Crew im Schlepptau zu den Ständern und fing an, sie durchzusehen.
Sofort kam ein Mann im NEST-Outfit herüber. »Was soll das?«
Fordyce fixierte ihn mit seinen blauen Augen, zog seine Marke von der Kette um den Hals und hielt sie dem Mann unter die Nase. »Wir brauchen Zutritt. Sofort.«
»Schauen Sie«, sagte der Mann schrill, »wie oft muss ich euch Leuten das denn noch sagen? Das FBI kommt auch noch dran.«
Fordyce starrte ihn an. »Bislang waren noch keine Leute vom FBI drin? Überhaupt keine?«
»Richtig. Aber NEST hat vorher noch jede Menge Arbeit zu erledigen.«
»Darts Gruppe?«
»Richtig. Der Nationale Sicherheitsplan schreibt vor, dass bei einem Nuklearunfall NEST die leitende Behörde ist.«
Langes Schweigen. Fordyce hatte offenbar wieder dichtgemacht. Gideon ging auf, dass es jetzt an ihm war, sich etwas einfallen zu lassen, um dort reinzukommen. Fordyce war zu sehr an die Vorschriften gebunden und hatte zu viel zu verlieren. Gideon seinerseits hatte überhaupt nichts zu verlieren.
»Dafür muss man wirklich dankbar sein«, sagte Gideon, nahm sich einen Anzug vom Regal und zog ihn über. »Kein Wunder, dass Dart so erpicht darauf war, uns an NEST anzugliedern.«
Fordyce blickte ihn aus seinen saphirblauen Augen an, und Gideon blickte harmlos zurück. »Beeilen Sie sich. Sie kennen Dart ja, er wird genervt sein, wenn wir nicht bis morgen früh unseren Bericht fertig haben.«
Der NEST-Mann entspannte sich. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht herausfordern, mir war nicht klar, dass Sie NEST zugeordnet sind.«
»Kein Problem«, sagte Gideon. Er musterte Fordyce und fragte sich, ob der Special Agent wohl die Sache mit ihm durchziehen würde. »Kommen Sie, Stone, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Trotzdem zögerte Fordyce, aber dann streifte er zu Gideons Erleichterung den Schutzanzug über.
»Warten Sie. Ich muss erst Ihre Vollmachten sehen. Und ich soll Ihnen dabei helfen, Ihre Anzüge auszuwählen.«
Fordyce zog den Reißverschluss seines Anzugs hoch und schenkte dem Mann ein freundliches Lächeln. »Der Papierkram ist schon unterwegs. Und danke, aber wir kennen unsere Größe bereits.«
»Ich muss wenigstens Ihre Ausweise sehen.«
»Ich soll das hier wieder ausziehen, damit Sie meinen Ausweis sehen können?«
»Na ja, ich muss ihn eben sehen.«
Fordyce lächelte und legte dem Burschen die Hand auf die Schulter. »Wie heißen Sie?«
»Ramirez.«
»Reichen Sie mir mal die Atemschutzmasken dort.«
Ramirez reichte ihm die Masken. Fordyce gab eine an Gideon weiter.
Gideon nahm sie. »Dart hat uns persönlich autorisiert. Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, rufen Sie ihn an.«
Ramirez sah immer noch Fordyce an. »Na ja, Dart wird nur sehr ungern gestört …«
Fordyce setzte die Atemschutzmaske auf – was verhinderte, dass er weiter mit Ramirez sprechen konnte. Gideon folgte seinem Beispiel. Die Atemschutzmaske war mit einem kleinen Funksender ausgestattet. Er schaltete ihn ein, stellte ihn auf einen privaten Kanal und bedeutete Fordyce, das Gleiche zu tun.
»Hören Sie mich, Fordyce?«
»Laut und deutlich«, gab Fordyce’ Stimme knisternd zurück.
»Fangen wir an, bevor es, äh, zu spät ist.«
Sie drängten sich an Ramirez vorbei.
»Warten Sie«, sagte Ramirez entschuldigend. »Ich muss wirklich Ihre Ausweise sehen.«
Gideon hob seine Atemschutzmaske an. »Die zeigen wir Ihnen, wenn wir die Anzüge wieder ausgezogen haben. Sie können aber auch bei Dart anrufen, aber passen Sie auf, dass Sie ihn im richtigen Augenblick erwischen. Er ist momentan ziemlich reizbar.«
»Das können Sie laut sagen«, sagte Ramirez und schüttelte den Kopf.
»Sie können sich also vorstellen, wie genervt er reagieren wird, wenn seine beiden handverlesenen Jungs aufgehalten werden.«
Gideon schob sich die Atemschutzmaske wieder über den Kopf, bevor Ramirez antworten konnte. Sie stiegen über die letzte Barriere und gingen mit langen Schritten auf das Reihenhaus zu.
»Gute Arbeit«, sagte Gideon über Funk und lachte. »Und übrigens: Diese Anzüge bringen gar nichts.«
»Finden Sie das lustig?«, sagte Fordyce, plötzlich ärgerlich. »Ich schlage mich mit diesem Mist schon meine ganze Karriere herum, und es ist nichts Komisches daran. Und übrigens: Ich werde behaupten, dass es Ihre Idee gewesen ist.«
Sie sahen sich kurz in der Erdgeschosswohnung um, in der Chalker die letzten beiden Monate seines Lebens verbracht hatte. Sie war klein und karg eingerichtet: ein winziges Zimmer nach vorn heraus, eine kleine Einbauküche, ein Bad und ein Zimmer nach hinten mit nur einem Fenster. Die Wohnung war makellos sauber und roch leicht nach Bohnerwachs und Putzmittel. Sechs NEST-Mitarbeiter gingen langsam umher, scannten die Umgebung mit diversen Geräten, sammelten Fasern und Staubpartikel vom Boden auf, schossen Fotos. Nichts war angerührt worden.
Das vordere Zimmer war leer, bis auf einen kleinen Teppich an der Tür mit einer Reihe Flipflops, sowie einem zweiten kleinen, aber dicken Perserteppich in der Mitte.
Gideon blieb stehen und starrte auf den Teppich. Er lag nicht parallel zu den Zimmerwänden, sondern im spitzen Winkel.
»Gebetsteppich«, ließ sich Fordyce’ Stimme vernehmen. »Er zeigt in Richtung Mekka.«
»Klar. Natürlich.«
Der einzige weitere Gegenstand im Zimmer war ein Koran, der aufgeschlagen auf einem reichverzierten Büchergestell lag. Fordyce schaute sich den Band genauer an. Es handelte sich um eine zweisprachige Ausgabe, Englisch und Arabisch, ziemlich zerlesen. Viele Seiten waren mit Lesezeichen markiert.
Es wäre interessant zu erfahren, welche Verse Chalkers besondere Aufmerksamkeit erregt hatten. Gideon warf einen Blick auf die Seite, auf der der Koran aufgeschlagen war, und sofort fiel ihm ein Vers auf, der markiert worden war.
Hat Euch die Kunde vom Überwältigenden Ereignis erreicht?
An jenem Tage werden einige Gesichter gedemütigt aussehen, gezeichnet von großer Mühe und Erschöpfung.
Sie werden in einem starken Feuer brennen.
Sie werden aus einem kochenden Quell zu trinken bekommen.
Er blickte Fordyce an, der ebenfalls das Buch betrachtete. Er nickte langsam.
Fordyce deutete zur Küche, dann ging er hinein, um sie sich genauer anzusehen. Genauso sauber und leer wie der Rest der Wohnung. Alles stand da, wo es hingehörte.
»Dürfen wir den Kühlschrank öffnen?«, fragte Gideon Fordyce über Funk.
»Fragen Sie nicht. Tun Sie’s einfach.«
Gideon zog die Tür auf. Im Kühlschrank befanden sich ein Karton Milch, eine Packung Datteln, Reste einer Pizza im Karton, ein paar Packungen mit chinesischen Lebensmitteln und diverse andere Dinge. Der Tiefkühlschrank enthielt tiefgefrorene Lammkarrees, Ben-&-Jerry’s-Eiscreme und eine Packung Mandeln mit Schale. Beim Schließen der Tür fiel Gideon ein Kalender auf, der mit einem Magneten an der Seite des Kühlschranks befestigt war. Ein Foto des Tadsch Mahal füllte die obere Hälfte. Auf dem Kalendarium darunter waren in Chalkers Handschrift mehrere Termine eingetragen. Gideon betrachtete sie interessiert, während Fordyce von hinten an ihn herantrat.
Gideon nahm den Kalender und blätterte die Vormonate durch. Die Kalenderblätter waren voll mit kryptischen Verabredungen. »Meine Güte«, murmelte er ins Headset und ließ die Seiten zurück auf den aktuellen Monat fallen. »Haben Sie das gesehen?«
»Was?«, fragte Fordyce und starrte auf das Kalendarium. »Da steht nichts.«
»Das ist es ja. Die Verabredungen hören einfach auf. Nach dem Einundzwanzigsten dieses Monats ist kein Termin mehr eingetragen.«
»Was bedeutet?«
»Dass wir hier den Terminkalender eines Selbstmordattentäters vor uns haben. Und sämtliche Eintragungen enden in zehn Tagen, von heute an gerechnet.«