DIE GERECHTE STRAFE
Vor kurzem hatte es noch geregnet, aber jetzt war es wieder vorbei. Die Pflastersteine auf dem Marschallsplatz begannen zu trocknen, und die großen Bodenplatten waren an den Rändern schon hell, in der Mitte aber noch dunkel vor Feuchtigkeit. Die Strahlen einer wässrigen Sonne brachen endlich durch die Wolken und schimmerten auf dem hellen Metall der Ketten, die von dem Henkergestell herunterbaumelten, und auf den Klingen, den Haken und Klauen der aufgereihten Folterwerkzeuge, die in einer Halterung steckten. Genau das richtige Wetter dafür, würde ich sagen. Es wird sicher ein überwältigendes Ereignis. Es sei denn, man heißt zufällig Tulkis, dann wäre man natürlich lieber nicht dabei.
Die Menge erwartete jedenfalls offenkundig ein aufregendes Schauspiel. Der große Platz war erfüllt von lautem Gerede, in dem eine berauschende Mischung aus Aufregung und Wut, Freude und Hass zu spüren war. Im Zuschauerbereich standen die Menschen dicht gedrängt, und es kamen stets noch weitere hinzu, aber hier auf der abgesperrten und gut bewachten Tribüne für die Regierungsmitglieder genau vor dem Schafott war noch reichlich Platz. Die Großen und Erhabenen müssen natürlich die beste Aussicht haben, ist doch klar. Über die Schultern derer in der ersten Reihe sah er die Plätze, auf denen die Mitglieder des Geschlossenen Rates saßen. Wenn er sich jetzt auf Zehenspitzen stellte – ein Unterfangen, das er sich nicht allzu oft zutraute –, würde er gerade den üppigen, weißen Schopf des Erzlektors erspähen können, der sanft von der Brise aufgebauscht wurde.
Er warf einen Seitenblick auf Ardee. Sie sah mit festem, düsterem Blick zum Schafott und kaute auf ihrer Unterlippe. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Es gab einmal eine Zeit, da führte ich junge Damen in die besten Häuser der Stadt, zeigte ihnen die Schönheiten der Gärten auf dem Berg, nahm sie zu Konzerten in die Flüsterhalle mit oder brachte sie gleich in mein Quartier, wenn ich glaubte, mir das erlauben zu können. Jetzt führe ich sie zu Hinrichtungen. Ein leichtes Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. Nun ja, die Zeiten ändern sich.
»Wie wird es vor sich gehen?«, fragte sie ihn.
»Er wird gehängt und geleert.«
»Wie bitte?«
»Er wird an den Ketten an Handgelenken und Hals emporgezogen, aber nicht so sehr, dass er dabei erwürgt würde. Dann wird er mit einer Klinge aufgeschlitzt und allmählich ausgeweidet. Seine Innereien werden dann der Menge gezeigt.«
Sie schluckte. »Bei lebendigem Leibe?«
»Vermutlich. Ist schwer zu sagen. Hängt immer davon ab, ob die Henker ihre Arbeit gut machen. Aber er wird jedenfalls nicht sehr lange leben.« Nicht ohne Eingeweide.
»Das erscheint … überaus hart.«
»Das soll es auch sein. Es war die unmenschlichste Bestrafung, die unseren barbarischen Vorvätern einfiel. War ursprünglich nur für jene vorgesehen, die Hand an königliches Blut zu legen wagten. Wurde, soweit ich weiß, seit über achtzig Jahren nicht mehr angewandt.«
»Daher auch die große Menschenmenge.«
Glokta zuckte die Achseln. »Es ist schon seltsam, aber man hat bei Hinrichtungen immer ein sehr großes Publikum. Die Menschen sehen den Tod einfach gern. Es macht ihnen wohl deutlich, dass sie, egal wie arm, niedrig oder schrecklich das eigene Leben geworden sein mag, immerhin noch eines haben.«
Glokta fühlte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte, und sah sich nicht ohne Schmerzen um. Hinter ihm stand Severard. »Ich habe diese Sache erledigt, die mit Vitari.«
»Hm. Und?«
Severards Augen glitten misstrauisch zu der neben Glokta stehenden Ardee, dann beugte er sich vor und flüsterte dem Inquisitor ins Ohr: »Ich bin ihr bis zu einem Haus gefolgt, ein Stück hinter Galters Park, bei dem Markt da unten.«
»Ich kenne die Gegend. Und?«
»Dort habe ich mal ein bisschen ins Fenster geguckt.«
Glokta hob eine Augenbraue. »Das macht Ihnen richtig Spaß, nicht wahr? Und was haben Sie dort gesehen?«
»Kinder.«
»Kinder?«, fragte Glokta leise zurück.
»Drei kleine Kinder. Zwei Mädchen und ein Junge. Und was glauben Sie wohl, welche Farbe ihre Haare hatten?«
Was Sie nicht sagen. »Doch nicht etwa flammend rot?«
»Genau wie ihre Mutter.«
»Sie hat Kinder?« Glokta leckte sich nachdenklich über das Zahnfleisch. »Wer hätte das gedacht.«
»Ich weiß. Ich hätte ja auch vermutet, die Schlampe hätte ’ne Möse aus Eis.«
Das erklärt, weshalb sie so bemüht war, wieder aus dem Süden zurückzukehren. Die ganze Zeit über haben die drei Kleinen auf sie gewartet. Der Mutterinstinkt. Wie furchtbar rührend. Er wischte sich etwas Feuchtigkeit aus seinem brennenden linken Auge. »Gut gemacht, Severard, das kann noch einmal nützlich sein. Was ist mit der anderen Sache? Mit dem Leibwächter des Prinzen?«
Severard hob seine Maske kurz hoch und kratzte sich darunter, während seine Augen nervös von einer Seite zur anderen huschten. »Das ist ziemlich komisch. Ich habe versucht, ihn zu erwischen, aber … er scheint verschwunden zu sein.«
»Verschwunden?«
»Ich habe seine Familie gefragt. Das letzte Mal, dass er zu Hause gesehen wurde, war am Tag, bevor der Prinz starb.«
Glokta runzelte die Stirn. »Am Tag vorher?« Aber er war dort … ich habe ihn gesehen. »Holen Sie Frost und auch Vitari. Besorgen Sie mir eine Liste aller Menschen, die in jener Nacht im Palast waren. Von allen Lords, allen Dienern, allen Soldaten. Ich werde die Wahrheit herausfinden.« Auf die eine oder andere Art.
»Hat Sult gesagt, dass Sie das tun sollen?«
Glokta fuhr scharf herum. »Das hat er mir nicht gesagt. Erledigen Sie es einfach.«
Severard murmelte etwas, aber seine Worte gingen unter, als der Lärm der Menge plötzlich anschwoll und eine Welle zorniger Schmährufe aufbrandete. Tulkis wurde auf den Richtplatz geführt. Die Ketten an seinen Knöcheln rasselten bei jedem schlurfenden Schritt. Er heulte nicht und klagte nicht und stieß auch kein trotziges Gebrüll aus. Er sah nur ermattet aus und müde, und als ob er Schmerzen litte. Sein Gesicht zeigte leichte Blutergüsse, und auf seinen Armen, Beinen und auf seiner Brust waren zornige rote Flecken zu sehen. Man kann nun einmal keine heißen Nadeln verwenden, ohne ein paar Spuren zu hinterlassen, aber er sieht recht wohl aus, jedenfalls in Anbetracht der Umstände. Tulkis war nackt, abgesehen von einem Tuch, das man ihm um die Lenden geschlungen hatte. Um der empfindsamen Natur der anwesenden Damen Rechnung zu tragen. Dabei zuzusehen, wie einem Mann die Eingeweide herausgerissen werden, ist beste Unterhaltung, aber der Anblick seines Schwanzes wäre natürlich obszön.
Ein Schreiber trat vor das Schafott und verlas den Namen des Gefangenen, welchen Verbrechens er sich schuldig gemacht und wozu er sich in seinem Geständnis bekannt hatte, und er erklärte auch, welche Strafe nun auf den Gesandten wartete, aber selbst aus dieser Entfernung war er kaum zu verstehen, da die Menge noch immer zornig murmelte und gelegentlich ein wilder Schrei zu hören war. Glokta zog eine Grimasse und bewegte sein Bein langsam hin und her, um die verkrampften Muskeln zu lockern.
Die maskierten Henker traten nun vor und ergriffen den Gefangenen mit geschickter, gut eingespielter Sorgfalt. Sie zogen ihm einen schwarzen Sack über den Kopf und ließen Schellen um seinen Hals, seine Handgelenke, seine Knöchel zuschnappen. Glokta sah, wie sich das Sackleinen vor seinem Mund vor und zurück bewegte. Die verzweifelten letzten Atemzüge. Ob er jetzt wohl betet? Oder ob er flucht und wütet? Wer weiß es, und welche Rolle spielt das überhaupt?
Sie zogen ihn nun empor, sodass er mit ausgestreckten Armen und Beinen in dem Gestell hing. Das Gewicht lastete dabei vor allem auf seinen Armen. Es zog aber auch stark genug an dem Kragen um seinen Hals, um ihn zu würgen, wenn auch nicht so sehr, dass es ihn töten würde. Er zappelte natürlich ein wenig. Völlig selbstverständlich. Es ist ein wilder Instinkt, sich zu wenden und zu drehen und frei zu atmen. Ein Instinkt, gegen den man sich nicht wehren kann. Einer der Henker ging zu der Halterung, zog eine schwere Klinge heraus, zeigte sie mit großer Geste der Menge, und die Sonne glänzte kurz auf der Schneide. Dann wandte er dem Publikum den Rücken zu und machte den ersten Schnitt.
Die Menge wurde still. Beinahe todesstill, von gelegentlichem gedämpftem Wispern abgesehen. Es war eine Strafe, die keine lauten Rufe heraufbeschwor. Vielmehr eine, die ehrfurchtsvolles Schweigen forderte. Eine, bei der man nur entsetzt und fasziniert zuschauen konnte. Genauso ist sie angelegt. Und so herrschte Schweigen, abgesehen vom erstickten Gurgeln des Gefangenen. Da er aufgrund des Kragens nicht schreien kann.
»Eine angemessene Strafe, nehme ich an«, flüsterte Ardee, als sie sah, wie die Eingeweide des Gesandten aus seinem Bauch glitten, »für den Mörder des Kronprinzen.«
Glokta beugte den Kopf, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Ich bin ziemlich sicher, dass er niemanden umgebracht hat. Vermutlich hat er sich nichts weiter zuschulden kommen lassen, als ein mutiger Mann zu sein, der zu uns kam, die Wahrheit sprach und uns die Hand zum Friedensschluss reichen wollte.«
Ihre Augen wurden groß. »Wieso hängt man ihn dann auf?«
»Weil der Kronprinz ermordet wurde. Irgendjemand muss dafür hängen.«
»Aber … wer hat Raynault dann wirklich umgebracht?«
»Jemand, der keinen Frieden zwischen Gurkhul und der Union will. Jemand, der möchte, dass sich der Krieg zwischen uns nur verschärft, sich ausbreitet und nie zu Ende geht.«
»Wer würde das wollen?«
Glokta antwortete nicht. Gute Frage.
Dieser Fallow ist zwar alles andere als ein respektgebietender Zeitgenosse, aber er versteht etwas von guten Sesseln. Glokta ließ sich mit einem Seufzer tief in das weiche Polster sinken, streckte seine Füße zum Feuer hin und ließ die schmerzenden Knöchel unter hörbarem Knacken kreisen.
Ardee fand es offenbar nicht ganz so gemütlich. Aber das Unterhaltungsprogramm an diesem Morgen bot auch keinen besonders beruhigenden Anblick. Nachdenklich und mit düsterem Blick sah sie aus dem Fenster und drehte nervös eine Haarsträhne um die Finger. »Ich brauche etwas zu trinken.« Schließlich ging sie zu dem kleinen Schränkchen und öffnete es, nahm eine Flasche und ein Glas heraus. Sie hielt inne und sah ihn an. »Wollen Sie mir nicht sagen, dass es zu früh dafür ist?«
Glokta zuckte die Achseln. »Sie wissen selbst, wie spät es ist.«
»Ich brauche einen Schluck, nach diesem …«
»Dann trinken Sie etwas. Sie müssen sich vor mir nicht rechtfertigen. Ich bin nicht Ihr Bruder.«
Ruckartig warf sie den Kopf herum und sah ihn mit harten Augen an, öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, dann schob sie die Flasche mit verärgertem Gesichtsausdruck weg und knallte die Türen des Schränkchens zu. »Zufrieden?«
Wieder zuckte er mit den Schultern. »So zufrieden, wie ich überhaupt nur sein kann, wenn Sie mich so fragen.«
Ardee ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen und sah mit bitterem Blick auf ihre Schuhe. »Was passiert jetzt?«
»Jetzt? Jetzt werden wir einander eine gemütlich faule Stunde lang mit humorvollen Bemerkungen unterhalten, und dann könnten wir vielleicht einen Bummel durch die Stadt machen?« Er verzog das Gesicht. »Langsam natürlich. Dann vielleicht ein spätes Mittagessen, ich dachte an …«
»Ich meine, wegen der Erbfolge.«
»Oh«, machte Glokta. Er griff hinter sich und schob sich ein Kissen bequemer zurecht, dann streckte er sich mit einem zufriedenen Grunzen weiter aus. Wenn man hier in diesem warmen und gemütlichen Zimmer sitzt, noch dazu in so ansehnlicher und liebenswerter Gesellschaft, könnte man sich fast vorgaukeln, dass man noch so etwas wie ein Leben hätte. Beinahe lag ein Lächeln auf seinen Zügen, als er weiter sprach. »Es wird im Offenen Rat zu einer Wahl kommen. Was zweifelsohne bedeutet, dass zuvor eine Orgie von Erpressung, Bestechung, Korruption und Betrug stattfindet. Ein wilder Reigen von geschlossenen Abkommen, gebrochenen Bündnissen, Intrigen und Mord. Ein fröhlicher Tanz von Schiebung, Absprachen, Drohungen und Versprechen. So wird es weitergehen, bis der König stirbt. Und dann wird im Offenen Rat gewählt.«
Ardee lächelte ihn auf ihre schräge Weise an. »Selbst die Töchter gemeiner Bürger sagen bereits, dass der König nicht mehr lange leben wird.«
»Nun ja«, erwiderte Glokta mit gehobenen Augenbrauen, »wenn schon die Töchter gemeiner Bürger so etwas sagen, dann wird es wohl stimmen.«
»Wer sind die Favoriten?«
»Warum sagen Sie es mir nicht?«
»Gut, dann tue ich das.« Sie lehnte sich zurück und rieb sich mit der Fingerspitze nachdenklich das Kinn. »Brock natürlich.«
»Natürlich.«
»Dann Barezin, nehme ich an, Heugen und Ischer.«
Glokta nickte. Sie ist nicht dumm. »Das sind die großen vier. Und wer käme wohl noch in Frage?«
»Ich nehme an, Meek hat sein Glück durch die Niederlage gegen die Nordmänner verspielt. Was ist mit Skald, dem Lord Statthalter von Starikland?«
»Sehr gut. Zwar vermute ich, dass er eher als Außenseiter gehandelt wird, aber er steht dennoch sicher mit auf der Liste …«
»Und wenn die Kandidaten aus Midderland die Stimmen genügend spalten …«
»Wer weiß, was dann passieren könnte?« Sie lächelten einander verschwörerisch an. »Im Augenblick käme wohl jeder in Frage«, sagte er. »Dann könnte man auch noch die unehelichen Kinder des Königs in Betracht ziehen …«
»Bastarde? Gibt es welche?«
Glokta hob eine Augenbraue. »Ich glaube, ich könnte schon einige nennen.« Sie lachte, und er beglückwünschte sich dazu. »Es gibt natürlich Gerüchte, wie das immer so ist. Carmee dan Roth, haben Sie schon einmal von ihr gehört? Eine Dame bei Hofe, die als außergewöhnliche Schönheit galt. Sie war eine Zeit lang die Favoritin des Königs, vor vielen Jahren. Plötzlich dann verschwand sie, und später hieß es, sie sei gestorben, vielleicht im Kindbett, aber wer weiß das schon? Die Leute lieben ein bisschen Klatsch, und schöne junge Frauen sterben nun einmal von Zeit zu Zeit, auch ohne einem königlichen Bastard das Leben geschenkt zu haben.«
»Oh, es stimmt ganz sicher, ganz sicher!« Ardee klimperte mit den Wimpern und tat so, als werde sie ohnmächtig. »Wir schönen Unionsmädchen sind doch ein geschwächtes Gezücht.«
»Da haben Sie Recht, meine Liebe, da haben Sie Recht. Und gutes Aussehen ist ein Fluch. Ich danke jeden Tag meinem Schicksal, dass ich davon befreit wurde.« Und er zeigte ihr sein zahnloses Grinsen. »Jetzt plötzlich drängen Mitglieder des Offenen Rates in Scharen in die Stadt, von denen die meisten, wie ich stark vermute, noch nie einen Fuß ins Fürstenrund gesetzt haben. Sie riechen die Macht, und sie wollen daran teilhaben. Sie wollen ein Stückchen davon abbekommen, solange noch etwas zu holen ist. Es könnte das einzige Mal seit zehn Generationen sein, dass die Edelleute wirklich eine wichtige Entscheidung zu fällen haben.«
»Und was für eine Entscheidung«, murmelte Ardee und schüttelte den Kopf.
»Das kann man wohl sagen. Es könnte ein langes Rennen geben, und der Wettkampf um die vorderen Plätze wird mit aller Härte geführt werden.« Wenn nicht sogar mit tödlicher Entschlossenheit. »Ich würde nicht ausschließen, dass im letzten Augenblick sogar noch ein ganz anderer Außenseiter ins Spiel kommt. Jemand ohne Feinde. Ein viel aussichtsreicherer Kandidat.«
»Was ist mit dem Geschlossenen Rat?«
»Sie dürfen sich natürlich nicht aufstellen lassen, damit die Wahl unbeeinflusst vonstatten geht.« Er schnaubte. »Unbeeinflusst! Sie wollen nichts mehr, als irgendeinen Niemand auf den Thron zu heben. Jemanden, den sie beherrschen und lenken können, um sich dann weiterhin ihren persönlichen Fehden zu widmen.«
»Gibt es denn einen solchen Kandidaten?«
»Jeder, der gewählt werden kann, kommt dafür in Frage, also rein theoretisch Hunderte, aber natürlich kann sich der Geschlossene Rat auf niemanden einigen, und so versammeln sie sich mit knapp gewahrter Würde hinter den stärkeren Kandidaten und gewähren täglich jemand anderem ihre Unterstützung. Dabei hoffen sie, ihre Zukunft zu sichern, und sie tun alles, um an der Macht zu bleiben. Die Macht ist so schnell von ihnen auf die Edelleute übergegangen, dass ihnen noch ganz schwindlig in den Köpfen ist. Und einige dieser Köpfe werden auf alle Fälle rollen, darauf können Sie sich verlassen.«
»Wird der Ihre rollen, was meinen Sie?«, fragte Ardee und sah unter ihren dunklen Brauen zu ihm auf.
Glokta saugte langsam an seinem Zahnfleisch. »Wenn Sult fällt, kann es gut sein, dass auch ich erledigt bin.«
»Ich hoffe nicht. Sie waren nett zu mir. Netter als irgendjemand sonst. Netter, als ich es verdiene.« Schon einmal hatte sie diese ungeschminkte Ehrlichkeit ihm gegenüber mit Berechnung eingesetzt, aber dieser Kunstgriff hatte seine Wirkung auf ihn dennoch nicht verloren.
»Unsinn«, murmelte Glokta und bewegte, plötzlich eigentümlich befangen, seine Schultern hin und her. Nettigkeit, Ehrlichkeit, gemütliche Wohnzimmer … Oberst Glokta hätte gewusst, was man jetzt entgegnet, aber ich bin hier auf unbekanntem Gebiet. Er suchte noch immer nach einer Antwort, als ein lautes Klopfen vom Flur her zu ihnen hereindrang. »Erwarten Sie Besuch?«
»Wen sollte ich wohl erwarten? Meine sämtlichen Bekanntschaften sitzen hier in diesem Zimmer.«
Glokta lauschte angestrengt, als sich die Haustür öffnete, aber er hörte nur ein vages Gemurmel. Dann drehte sich der Türknauf, und die Dienerin steckte den Kopf zur Tür herein.
»Bitte um Verzeihung, aber es ist ein Besucher hier für den Herrn Superior.«
»Wer?«, fragte Glokta scharf. Severard, mit Neuigkeiten über den Leibwächter Prinz Raynaults? Vitari, mit einer Nachricht vom Erzlektor? Ein neues Problem, das der Lösung bedarf? Ein paar neue Fragen, die gestellt werden müssen?
»Er sagt, sein Name sei Mauthis.«
Glokta fühlte, wie die ganze linke Seite seines Gesichts zuckte. Mauthis? An den hatte er schon lange nicht mehr gedacht, aber jetzt drängte sich das Bild des hageren Bankiers mit Macht in seine Erinnerung, wie er Glokta ordentlich und gewissenhaft das Papier für die Unterschrift herüberreichte. Die Bestätigung über den Erhalt von einer Million Mark. Möglicherweise wird irgendwann einmal ein Vertreter des Bankhauses Valint und Balk bei Ihnen erscheinen und Sie … um einen Gefallen bitten.
Ardee sah ihn besorgt an. »Stimmt etwas nicht?«
»Nein, es ist nichts«, krächzte er und bemühte sich, seine Stimme nicht allzu erstickt klingen zu lassen. »Ein alter Geschäftsfreund. Könnten Sie mir dieses Zimmer einen Augenblick überlassen? Ich müsste mit dem Herrn einige Worte wechseln.«
»Natürlich.« Sie stand auf und ging aus der Tür. Ihr Rock streifte hinter ihr über den Teppich. Auf halbem Weg blieb sie stehen, sah über ihre Schulter und biss sich auf die Lippe. Dann ging sie zu dem Schränkchen und öffnete es, nahm die Flasche und das Glas heraus. »Ich brauche einen Schluck.«
»Tun wir das nicht alle«, flüsterte Glokta hinter ihrem Rücken, als sie hinausging.
Mauthis trat wenig später ein. Dasselbe knochige, scharf geschnittene Gesicht, dieselben kalten Augen in ihren tiefen Höhlen. Aber in seiner Haltung lag nun noch etwas anderes. Eine gewisse Unruhe. Eine gewisse Anspannung vielleicht?
»Nun, Meister Mauthis, welch eine beinahe unerträgliche Ehre, Sie hier …«
»Sparen Sie sich die Nettigkeiten.« Seine Stimme war schrill und knarrend wie eine rostige Türangel. »Mein Selbstbewusstsein muss nicht derart gekitzelt werden. Ich ziehe es vor, offen zu sprechen.«
»Nun gut, was kann ich …«
»Meine Auftraggeber, das Bankhaus Valint und Balk, sind nicht angetan von Ihren derzeitigen Ermittlungen.«
Gloktas Verstand schlug Purzelbäume. »Meinen Ermittlungen in welcher Sache?«
»Bezüglich des Mordes an Kronprinz Raynault.«
»Diese Untersuchungen sind abgeschlossen. Ich versichere Ihnen, dass ich keinerlei …«
»Wir sollten offen sprechen, Herr Superior. Meine Auftraggeber wissen es. Es wäre einfacher für Sie, wenn Sie davon ausgingen, dass sie alles wissen. Das tun sie immer. Der Mord wurde mit beeindruckender Geschwindigkeit und großer Sachkenntnis aufgeklärt. Meine Auftraggeber sind mit den Ergebnissen höchst zufrieden. Der Schuldige wurde seiner gerechten Strafe zugeführt. Niemandem ist damit gedient, wenn Sie nun in dieser unerfreulichen Angelegenheit noch tiefer graben.«
Das ist wahrlich offen gesprochen. Aber wieso stören sich Valint und Balk an meinen Fragen? Sie haben mir Geld gegeben, um den Gurkhisen zu trotzen, und jetzt sind sie offenbar dagegen, wenn ich eine gurkhisische Verschwörung aufdecken will? Darin liegt keinerlei Sinn … es sei denn, dass der Mörder Prinz Raynaults gar nicht aus dem Süden kam. Sondern vielmehr in der Nähe zu suchen ist …
»Es gibt ein paar lose Enden, die noch zusammenzubinden sind«, brachte Glokta heraus. »Aber Ihre Auftraggeber sollten keinen Grund haben, um verärgert zu sein …«
Mauthis machte einen Schritt nach vorn. Seine Stirn glänzte verschwitzt, obwohl es im Zimmer nicht warm war. »Sie sind nicht verärgert, Herr Superior. Sie konnten ja nicht wissen, dass sie nicht damit einverstanden sein würden. Jetzt wissen Sie es. Wenn Sie Ihre Ermittlungen fortführen würden, in dem Wissen, dass es ihnen nicht gefällt … dann wären sie verärgert.« Er beugte sich zu Glokta herüber und flüsterte beinahe. »Bitte lassen Sie mich Ihnen eines sagen, Herr Superior, als ein Bauer auf diesem Schachbrett zum anderen. Wir wollen sie nicht verärgern.« In seiner Stimme schwang ein seltsamer Ton mit. Er droht mir nicht. Er fleht mich an.
»Wollen Sie damit andeuten«, murmelte Glokta, wobei er kaum die Lippen bewegte, »dass sie Erzlektor Sult ansonsten von ihrem kleinen Geschenk an die Verteidiger von Dagoska informieren würden?«
»Das wäre das Wenigste, das sie dann täten.« Mauthis’ Gesichtsausdruck war unverkennbar. Angst. Angst, in diesem gefühllosen, maskenartigen Gesicht. Etwas daran brachte einen bitteren Geschmack auf Gloktas Zunge, ließ es ihm kalt über den Rücken laufen und schnürte ihm leicht die Kehle zu. Es war ein Gefühl, an das er sich erinnerte, auch wenn er es geraume Zeit nicht mehr empfunden hatte. Tatsächlich war er schon seit langem nicht mehr so nahe an etwas Ähnliches wie Angst herangekommen. Sie haben mich. Ganz und gar. Ich wusste es, als ich unterschrieb. Das war der Preis, und ich hatte keine Wahl, ich musste ihn zahlen.
Glokta schluckte. »Sie können Ihren Auftraggebern mitteilen, dass es keine weiteren Ermittlungen geben wird.«
Mauthis schloss kurz die Augen und atmete mit hörbarer Erleichterung aus. »Ich werde ihnen diese Nachricht sehr gern übermitteln. Guten Tag.« Damit wandte er sich um und ließ Glokta allein in Ardees Wohnzimmer zurück, wo er die Tür anstarrte und sich fragte, was er da gerade erlebt hatte.