DAS JUWEL UNTER DEN STÄDTEN

Immerhin konnte er wieder reiten. Die Schienen waren am Morgen abgenommen worden, und Jezals wundes Bein schlug nun schmerzhaft gegen die Flanke des Pferdes, wenn es ausschritt. Seine Hand hielt die Zügel noch ohne Gefühl und ungeschickt, sein Arm fühlte sich schwach an und strahlte ohne den Verband einen dumpfen Schmerz aus. Seine Zähne pochten noch immer bei jedem Hufschlag auf der schlechten Straße. Aber immerhin musste er nicht mehr in dem Karren sitzen, und das war schon viel wert. Kleine Dinge machten ihn inzwischen sehr glücklich.

Die anderen ritten in einer schweigenden Gruppe, so finster wie Trauergäste bei einer Beerdigung, und Jezal konnte ihnen das kaum verübeln. Es war ein düsterer Ort. Eine Ebene, die kaum etwas anderes als Erde bot. Höchstens noch Schluchten aus reinem Fels. Sand und Stein, bar allen Lebens. Der Himmel war ein stilles weißes Nichts, schwer wie geschmolzenes Blei, der stets Regen versprach, aber nie welchen schenkte. Sie ritten um den Karren geschart dahin, als ob sie sich wärmesuchend aneinanderdrängten, und tatsächlich waren sie in dieser kalten Wüste auf hundert Meilen das einzig Warme, das Einzige, das sich hier, wo die Zeit eingefroren schien, bewegte, das einzig Lebendige in einem toten Land.

Die Straße war breit, aber die Steine waren gesprungen und uneben. Streckenweise waren ganze Abschnitte weggebrochen, an anderen Stellen hatten Schlammströme sie völlig bedeckt. Tote Baumstümpfe ragten auf beiden Seiten aus der nackten Erde. Bayaz sah offenbar, wie Jezal sie betrachtete.

»Eine Allee stolzer Eichen flankierte diese Straße zwanzig Meilen lang bis zu den Stadttoren. Im Sommer schimmerten ihre Blätter und wiegten sich im Wind, der über die Ebene strich. Juvens hat sie mit eigenen Händen gepflanzt, in der Alten Zeit, als das Kaiserreich jung war, lange, bevor selbst ich geboren wurde.«

Die verstümmelten Baumstümpfe waren grau und trocken, und an einigen Splitterkanten waren noch die Sägespuren zu erkennen. »Sie sehen aus, als ob man sie vor Monaten abgeholzt hätte.«

»Vor vielen langen Jahren, mein Junge. Als Glustrod die Stadt eroberte, ließ er sie fällen, um seine Schmelzöfen mit ihrem Holz zu heizen.«

»Warum sind sie dann nicht verfault?«

»Weil selbst Fäulnis eine Art von Leben bedeutet. Hier aber gibt es kein Leben.«

Jezal schluckte und zog die Schultern hoch, während er die Stämme, das viele hohe, tote Holz, an sich vorbeiziehen sah wie Grabsteine. »Mir gefällt das nicht«, murmelte er leise.

»Meint Ihr, mir?« Bayaz sah ihn grimmig an. »Glaubt Ihr, irgendeinem von uns gefällt es? Manchmal müssen Männer Dinge tun, die ihnen nicht gefallen, wenn sie in die Geschichte eingehen wollen. Durch Kampf, nicht durch Leichtigkeit, werden Ruhm und Ehre gewonnen. Konflikte, nicht der Frieden, bringen Reichtum und Macht. Interessieren Euch solche Dinge nicht länger?«

»Doch«, murmelte Jezal, »ich denke schon …« Aber er war sich nicht mehr sicher. Nachdenklich blickte er über das Meer aus toter Erde um sie herum. Es gab äußerst wenig Anzeichen für Ehre dort draußen, und für Reichtum noch weniger, von daher war schwer zu erkennen, woher der Ruhm kommen sollte. Den einzigen fünf Menschen im Umkreis von hundert Meilen war er bereits bestens bekannt. Außerdem fragte er sich allmählich, ob ein langes Leben als unbekannter und armer Mann wirklich etwas so Schreckliches war.

Vielleicht sollte er, wenn er wieder zurückkehrte, tatsächlich Ardee um ihre Hand bitten. Er lenkte sich eine Weile mit der Vorstellung ab, wie sie lächeln würde, wenn er ihr den Antrag machte. Zweifelsohne würde sie ihn zappeln und auf eine Antwort warten lassen. Zweifelsohne würde er erst einmal eine Weile auf Knien betteln müssen. Zweifelsohne würde sie schließlich ja sagen. Was war dann also das Schlimmste, das passieren konnte? Dass sein Vater wütend wäre? Dass sie beide gezwungen wären, von seinem Sold zu leben? Dass seine hohlen Freunde und seine dämlichen Brüder sich hinter seinem Rücken darüber amüsieren würden, dass er so tief gesunken war? Beinahe musste er darüber lachen, dass ihm das einmal gewichtige Gründe gewesen waren.

Ein Leben in harter Arbeit mit der Frau, die er liebte, an seiner Seite? Ein gemietetes Haus in einem nicht besonders angesehenen Stadtviertel, mit billigen Möbeln, aber einem gemütlichen Feuer? Kein Ruhm, keine Macht, kein Reichtum, aber ein warmes Bett mit Ardee darin, die auf ihn wartete … Das erschien ihm überhaupt nicht mehr als ein schreckliches Schicksal, nun, da er dem Tod ins Gesicht gesehen hatte, von einer Schüssel Hafergrütze am Tag lebte und dankbar war, dass es die überhaupt gab, nun, da er allein in Wind und Regen schlief.

Sein Grinsen wurde immer breiter, und das Gefühl der neuen, empfindlichen Haut, die sich über seinem Kiefer spannte, war beinahe angenehm. Dieses Leben erschien ihm letzten Endes gar nicht mal so übel.

 

Die großen Mauern ragten steil empor, gekrönt von abbröckelnden Zinnen, übersät mit geborstenen Türmen, durchfurcht von schwarzen Rissen und glitschig vor Nässe. Eine Klippe aus dunklem Stein, deren entferntes Ende sich im grauen Nieselregen verlor, während sich auf der nackten Erde davor braunes Wasser in Pfützen sammelte, die von herabgestürzten Steinblöcken, groß wie Särge, durchsetzt waren.

»Aulcus«, knurrte Bayaz mit zusammengebissenen Zähnen. »Das Juwel unter den Städten.«

»Für mich sieht es nicht besonders strahlend aus«, brummte Ferro.

Für Logen auch nicht. Die rutschige Straße führte zu einem verfallenen Torbogen voller Schatten, der wie ein großer Schlund vor ihnen gähnte und dessen Tore lange schon verschwunden waren. Er hatte ein schreckliches Gefühl, als er das dunkle Tor betrachtete. Ein übles, entsetzliches. Ähnlich wie damals, als er in die offene Tür zum Haus des Schöpfers geblickt hatte. Als ob er in ein Grab hineinsähe, bei dem es sich gut möglich um sein eigenes handeln mochte. Sein einziger Gedanke war, sich umzuwenden und nie zurückzukehren. Sein Pferd wieherte leise und trat einen Schritt nach hinten; der Atem des Tieres dampfte im feinen Regen. Die vielen hundert langen und gefährlichen Meilen bis zurück zur See erschienen ihm plötzlich als eine wesentlich leichtere Reise als die wenigen Schritte bis zu diesem Tor.

»Seid Ihr ganz sicher in dieser Hinsicht?«, fragte er Bayaz gedämpft.

»Ob ich sicher bin? Nein, natürlich nicht! Ich habe uns nur aus einer Laune heraus all diese anstrengenden Wegstunden quer über die öde Ebene geführt! Ich habe jahrelang diese Reise geplant und diese kleine Gruppe aus dem ganzen Weltenrund zusammengetrommelt, aus keinem anderen Grund als zu meiner eigenen Erheiterung! Es entsteht keinerlei Schaden, wenn wir einfach wieder zurück nach Calcis schleichen. Ob ich sicher bin?« Er schüttelte den Kopf und drängte sein Pferd auf die gähnende Toröffnung zu.

Logen zuckte die Achseln. »War ja nur eine Frage.« Das Tor gähnte weiter und weiter und verschlang sie schließlich. Der Hufschlag ihrer Pferde hallte in dem langen Tunnel wider und dröhnte in der Dunkelheit. Das Gewicht der vielen Steine um sie herum lastete schwer auf ihnen und schien selbst das einfache Atmen immer stärker zu erschweren. Logen senkte den Kopf und sah angestrengt dem kleinen runden Lichtfleck am anderen Ende entgegen, der immer größer wurde, je näher sie kamen. Er wandte sich zur Seite und fing Luthars Blick ein, der sich, das nasse Haar ans Gesicht geklatscht, im Dämmerlicht nervös mit der Zunge über die Lippen fuhr.

Und dann kamen sie wieder unter freien Himmel.

»Du meine Güte«, hauchte Langfuß. »Du große Güte …«

Der weite Platz vor ihnen war ringsum von riesenhaften Gebäuden umsäumt. Die Geister hoher Säulen und steiler Dächer, hoch aufragender Pfeiler und zum Himmel emporwachsender Mauern, allesamt für Riesen gemacht, sahen aus den Regenschleiern auf sie hinunter. Logen blieb der Mund offen stehen. So ging es ihnen allen. Eine winzige, zusammengedrängte Gruppe auf diesem übergroßen Platz, wie verängstigte Schafe in einem kahlen Tal, die auf die Wölfe warten.

Regen pfiff um die Mauern hoch über ihren Köpfen, herabrauschendes Wasser schlug auf das glitschige Kopfsteinpflaster und gurgelte durch die Risse in der Straße. Der Hufschlag klang gedämpft. Die Räder des Karrens quietschten und knarrten leise. Ein anderes Geräusch gab es nicht. Kein geschäftiges Treiben, keine lärmende Menge, kein Geschnatter. Keine Vogelrufe, kein Hundebellen, keine Rufe von Händlern und Kaufleuten. Nichts lebte hier. Nichts bewegte sich. Es gab nur die großen schwarzen Gebäude, die sich bis weit hinaus in den Regen erstreckten, und die zerfetzten Wolken, die über den dunklen Himmel krochen.

Sie ritten langsam an den Ruinen eines zerstörten Tempels vorüber, ein wirres Durcheinander aus herabhängenden steinernen Blöcken und Platten. Bruchstücke der monströsen Säulen waren seitlich auf das geborstene Pflaster gefallen, während Teile der Dächer weit aufklaffend noch dort lagen, wohin sie einst herabgestürzt waren. Luthars nasses Gesicht war kalkweiß, abgesehen von dem rosigen Fleck an seinem Kinn, während er die hoch aufragenden Trümmer zu beiden Seiten betrachtete. »Heilige Scheiße«, murmelte er.

»Aber wirklich«, raunte Langfuß leise, »ein höchst beeindruckender Anblick.«

»Die Paläste der reichen Toten«, erklärte Bayaz. »Die Tempel, wo sie zu ihren Göttern beteten. Die Märkte, wo sie Güter, Tiere und Menschen kauften und verkauften. Wo sie sich gegenseitig kauften und verkauften. Die Theater, die Bäder und die Bordelle, wo sie sich ihren Leidenschaften hingaben, bevor Glustrod kam.« Er deutete über den Platz, hinüber zu einem Tal aus tropfenden Steinen. »Dies ist der Kalinsweg. Die größte Straße der Stadt, an der auch die Häuser der größten Bürger lagen. Sie verläuft mehr oder weniger gerade vom Nordtor bis zum Südtor. Jetzt passt alle einmal auf«, sagte er und wandte sich in seinem knarrenden Sattel um. »Drei Meilen südlich der Stadt ist ein hoher Berg, auf dessen Gipfel ein Tempel liegt. In der Alten Zeit nannte man ihn den Saturlinsfels. Falls wir getrennt werden sollten, dann werden wir uns dort wieder treffen.«

»Wieso sollten wir getrennt werden?«, fragte Luthar mit geweiteten Augen.

»Die Erde in dieser Stadt … sie schläft nicht ruhig, sie bebt des Öfteren. Die Gebäude sind uralt und baufällig. Ich hoffe zwar, dass wir die Stadt ohne Zwischenfälle durchqueren können, aber … es wäre voreilig, sich auf die Hoffnung allein zu verlassen. Wenn etwas passieren sollte, dann schlagt Euch nach Süden durch. Zum Saturlinsfels. Bis dahin bleibt alle möglichst dicht beisammen.«

Dazu bedurfte es keiner weiteren Aufforderung. Logen sah zu Ferro hinüber, als sie sich auf den Weg durch die Stadt machten, wie sie mit ihrem stachligen schwarzen Haar und dem dunklen, von der Nässe feuchten Gesicht die Gebäude an beiden Seiten misstrauisch musterte. »Wenn etwas passieren sollte«, flüsterte er ihr zu, »steh mir bei, ja?«

Sie sah ihn einen Augenblick an, dann nickte sie. »Wenn ich kann, Rosig.«

»Das reicht mir.«

 

Schlimmer als eine Stadt voller Menschen ist nur eine völlig leere Stadt.

Ferro hielt beim Reiten den Bogen in der einen, die Zügel in der anderen Hand, sah immer wieder von einer Seite zur anderen, spähte in die kleinen Gassen, in die gähnenden Fenster und Türöffnungen, reckte den Hals, um möglichst weit um die zerfallenden Gebäude an Straßenecken und über angrenzende Mauern sehen zu können. Sie wusste nicht, wonach sie suchte.

Aber sie wollte bereit sein.

Sie alle fühlten es genauso wie sie, das war offensichtlich. Sie sah, wie sich die Muskeln von Neunfingers Kiefer spannten und dann wieder lockerten, wieder und wieder, während er mit finsterer Miene die Ruinen musterte und die Hand stets nahe am Heft seines Schwertes hielt, kaltes Metall, auf dem die Feuchtigkeit wie Perlen glänzte.

Luthar zuckte bei jedem Geräusch zusammen, wenn etwa ein Stein unter den Rädern des Karrens wegsprang, Wasser in eine Pfütze plätscherte oder eines der Pferde schnaubte. Sein Kopf drehte sich ruckartig von einer Richtung in die andere, und mit der Zungenspitze fuhr er sich immer wieder über die Kerbe in seiner Lippe.

Quai saß vornübergebeugt auf dem Karren, sein nasses Haar umspielte das hagere Gesicht, und seine Lippen hatte er zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Ferro beobachtete ihn, wie er die Zügel schnalzen ließ, die er so verkrampft festhielt, dass die Sehnen geschwollen aus den Rücken seiner dünnen Hände hervortraten. Langfuß sah sich zwischen den endlosen Ruinen immer wieder um, Augen und Mund weit aufgesperrt; gelegentlich bahnten sich kleine Wasserbäche ihren Weg durch die Stoppeln auf seinem knubbeligen Kopf. Zur Abwechslung hatte er einmal nichts zu sagen – einer der wenigen Vorteile dieses von Gott verlassenen Ortes.

Bayaz versuchte, selbstsicher zu wirken, aber Ferro durchschaute ihn. Sie hatte bemerkt, wie seine Hände zitterten, als er sie einmal von den Zügeln nahm, um sich das Wasser aus den dichten Augenbrauen zu reiben. Sie sah, wie seine Kinnmuskeln zuckten, wenn sie an Straßenkreuzungen hielten, wie er dann in den Regen hinausspähte und versuchte, den richtigen Weg abzuschätzen. Sie sah, dass er sich große Sorgen machte und dass der Zweifel in jeder seiner Bewegungen geschrieben stand. Er wusste es genauso gut wie sie. Dieser Ort war gefährlich.

Klink-klank.

Es drang leise durch den Regen, wie das entfernte Geräusch eines Hammers, der auf einen Amboss trifft. Das Geräusch von Waffen, die kampfbereit gemacht werden. Sie richtete sich in den Steigbügeln auf und lauschte angestrengt.

»Hast du das gehört?«, zischte sie Neunfinger an.

Er hielt inne, sah mit zusammengekniffenen Augen ins Nichts und lauschte. Klink-klank. Er nickte langsam. »Ich höre es.« Er zog sein Schwert aus der Scheide.

»Was?« Luthar sah sich mit entsetztem Blick um und griff unsicher nach seinen eigenen Waffen.

»Da draußen ist nichts«, knurrte Bayaz.

Sie riss die Handfläche hoch und bedeutete den anderen damit anzuhalten, dann glitt sie aus dem Sattel und schlich bis zur Ecke des nächsten Gebäudes, legte einen Pfeil auf die Sehne und drängte sich mit dem Rücken an der rauen Oberfläche der Steinquader entlang. Klank-klink. Sie spürte, dass Neunfinger ihr vorsichtig folgte, spürte seine beruhigende Gegenwart hinter sich.

Auf einem Knie schob sie sich um eine Häuserecke, blickte auf einen leeren Platz, der von Pfützen und Schutt übersät war. Auf der anderen Seite stand ein hoher Turm, der sich zu einer Seite neigte und dessen große Fenster ganz oben aufgerissen waren, als die Dachkuppel eingebrochen war. Dort bewegte sich etwas, sehr langsam. Etwas Dunkles, das vor und zurück schaukelte. Beinahe hätte sie gelächelt, weil sie nun etwas hatte, worauf sie ihren Pfeil richten konnte.

Es war ein gutes Gefühl, einen Feind vor sich zu haben.

Dann hörte sie Hufschlag, und Bayaz ritt an ihr vorbei auf den verfallenen Platz. »Sssss!«, zischte sie ihn an, aber er achtete nicht auf sie.

»Ihr könnt Eure Waffen wieder weglegen«, rief er ihnen über die Schulter hinweg zu. »Das ist nichts weiter als eine alte Glocke, die im Wind diese klappernden Geräusche macht. Früher gab es sehr viele davon in dieser Stadt. Ihr hättet hören sollen, wie sie läuteten, wenn ein Kaiser geboren, gekrönt oder verheiratet wurde oder wenn er von einem siegreichen Feldzug nach Hause kam.« Er hob die Arme, und seine Stimme wurde laut. »Sie ließen die Luft mit ihrem fröhlichen Geläute erbeben, und die Vögel erhoben sich von allen Plätzen und Straßen und Dächern und erfüllten den Himmel!« Jetzt schrie er und bellte die nächsten Sätze hinaus. »Und die Menschen säumten die Straßen! Und sie lehnten sich aus den Fenstern! Und sie ließen Blütenblätter auf den geliebten Monarchen herabregnen! Und sie jubelten, bis sie heiser waren!« Dann begann er zu lachen und ließ die Arme fallen, und hoch über ihm klapperte die zerstörte Glocke im Wind. »Das ist lange her. Gehen wir weiter.«

Quai schnalzte mit den Zügeln, und der Karren rollte hinter dem Magus her. Neunfinger sah Ferro achselzuckend an und schob sein Schwert wieder in die Scheide. Sie hielt noch einen Augenblick inne und sah misstrauisch zu dem scharf umrissenen Schemen des schiefen Turms herüber, über den dunkle Wolken hinwegzogen.

Klink-klank.

Dann folgte sie den anderen.

 

Die Statuen schwammen ihnen aus dem wütenden Regen entgegen, ein Paar regloser Riesen nach dem anderen, die Gesichter von den Jahren ausgewaschen, bis sie einander in ihrer Konturlosigkeit völlig glichen. Wasser tröpfelte über glatten Marmor, tropfte von langen Bärten, von Waffenröcken, von drohend oder segnend ausgestreckten Armen, die lange schon am Handgelenk, am Ellenbogen oder an der Schulter abgebrochen waren. Manche waren mit Bronze verziert: riesige Helme, Schwerter, Szepter, Ehrenkränze, die inzwischen mit Grün überzogen waren und dreckige Schlieren auf dem schimmernden Stein hinterließen. Sie schwammen ihnen entgegen, und ein Paar regloser Riesen nach dem anderen verschwand im Regen hinter ihnen und wurde wieder den Nebeln der Geschichte überantwortet. »Kaiser«, sagte Bayaz. »Hunderte von Jahren von Kaisern.« Jezal sah die Regenten der alten Zeit bedrohlich an sich vorüberziehen, wie sie über der holprigen Straße dräuten, und er hatte einen steifen Hals vom langen Hochschauen, bei dem ihm der Regen ins Gesicht klatschte. Die Skulpturen waren doppelt so hoch oder noch höher als die im Agriont, aber sie waren doch so ähnlich, dass ihn eine plötzliche Welle von Heimweh überkam.

»Wie auf dem Weg der Könige in Adua.«

»Ha«, brummte Bayaz. »Was meint Ihr wohl, woher ich die Idee dazu hatte?«

Jezal kaute noch an dieser seltsamen Entgegnung, als ihm auffiel, dass es sich bei den Statuen, denen sie sich jetzt näherten, um das letzte Paar handelte; die eine der beiden neigte sich bereits in einem besorgniserregenden Winkel.

»Haltet den Wagen an!«, rief Bayaz, hob eine feuchte Handfläche und trieb sein Pferd voran.

Es war nicht nur so, dass keine Kaiserstatuen mehr vor ihnen standen, es gab auch überhaupt keine Straße mehr. Ein schwindelerregender Abhang gähnte vor ihren Füßen, eine mächtige Spalte, die sich quer durch die Stadt zog. Jezal sah angestrengt zur anderen Seite hinüber, wo eine steile Klippe aus geborstenem Stein und heruntergerutschtem Geröll auf sie wartete. Dahinter waren die blassen Schatten von Mauern und Säulen zu erahnen, die Umrisse der breiten Straße, die im Ungewissen verschwand, während der Regen durch die leere Luft vor ihnen pfiff.

Langfuß räusperte sich. »Ich nehme an, dass wir diesen Weg nicht weiter verfolgen werden.«

Vorsichtig, äußerst vorsichtig lehnte sich Jezal in seinem Sattel nach vorn und sah nach unten. In großer Tiefe floss dunkles Wasser, schäumend und tobend, überspülte den gepeinigten Boden am Fundament der Stadt, und aus diesem unterirdischen Meer ragten verfallene Mauern, eingestürzte Türme und die aufgebrochenen Grundmauern monströser Gebäude. Auf der Spitze einer schwankenden Säule stand noch immer eine Statue, wohl die eines längst schon toten Helden. Einst hatte er offenbar die Hand im Triumph erhoben. Jetzt ragte sie wie aus Verzweiflung empor, als ob er darum flehte, aus dieser wasserumtosten Hölle heraufgezogen zu werden.

Jezal lehnte sich, plötzlich von Schwindel erfasst, wieder zurück. »Wir werden diesen Weg nicht weiter verfolgen«, konnte er gerade noch hervorbringen.

Bayaz sah finster auf das mahlende Wasser herab. »Dann müssen wir einen anderen finden, und das schnell. In dieser Stadt gibt es zahllose Spalten wie diese. Wir haben selbst auf geradem Weg noch Meilen vor uns und müssen auch noch eine Brücke überqueren.«

Langfuß runzelte die Stirn. »Wenn sie überhaupt noch steht.«

»Die steht noch! Kanedias hat sie für die Ewigkeit gebaut.« Der Erste der Magi sah in den Regen hinaus. Der Himmel verdüsterte sich weiter und hing schwer über ihren Köpfen. »Wir können es uns nicht leisten, hier herumzutrödeln. Wir schaffen es jetzt schon nicht mehr durch die Stadt, bevor die Dunkelheit hereinbricht.«

Jezal sah den Magus entsetzt an. »Wir werden hier die Nacht verbringen?«

»Natürlich«, gab Bayaz kurz angebunden zurück und lenkte sein Pferd von der Bruchkante weg.

Die Ruinen zogen sich enger um sie zusammen, als sie den Kalinsweg verließen und wieder ins Dickicht der Stadt eintauchten. Jezal sah mit offenem Mund in die bedrohlichen Schatten, die im Dunkel lauerten. Er konnte sich nur eines vorstellen, das schlimmer war, als hier bei Tag gefangen zu sein, und das war, hier in der Dunkelheit festzusitzen. Lieber hätte er die Nacht in der Hölle verbracht. Aber wäre das wirklich ein Unterschied gewesen?

 

Der Fluss gurgelte unter ihnen durch eine künstlich geschaffene Schlucht mit hohen Befestigungsmauern aus glattem, nassem Stein. Der mächtige Aos, in diesem engen Bett gefangen, schäumte mit endloser, sinnloser Wut, kaute an dem polierten Gestein und spuckte zornige Gischt in die Luft. Ferro konnte sich nicht vorstellen, wie irgendetwas über diesem wilden Fluss Bestand haben konnte, aber Bayaz hatte recht gehabt.

Die Brücke des Schöpfers stand noch.

»Auf all meinen Reisen, in allen Städten und bei allen Völkern unter der segensreichen Sonne habe ich noch nie ein solches Wunder erblickt.« Langfuß schüttelte gemächlich den rasierten Kopf. »Wie kann eine Brücke aus Metall geschaffen sein?«

Aber es war Metall. Dunkel, glatt, glanzlos, schimmernd durch die Wassertropfen. Es erhob sich in einem einzigen Bogen über dem schwindelnden Abgrund, unvorstellbar zart, gestützt von einem Spinnengewebe dünner Stangen in der hohlen Luft darunter. Eine breite Straße genuteter Metallplatten erstreckte sich völlig eben darüber und lud sie zur Überquerung ein. Jede Kante war gerade, jede Kurve präzise, jede Oberfläche glatt. Inmitten des langsamen Verfalls war die Brücke makellos erhalten. »Als ob man sie erst gestern fertig gestellt hätte«, murmelte Quai.

»Und dennoch ist sie vielleicht das Älteste hier in der ganzen Stadt.« Bayaz nickte zu den Ruinen hinter ihnen. »All die großen Taten des Juvens vergehen. Zerstört, verfallen, vergessen, es ist beinahe, als habe es sie nie gegeben. Aber die Werke des Meisterschöpfers stehen unbeschädigt da. Sie leuchten sogar noch heller, wenn überhaupt, denn sie leuchten in einer verdunkelten Welt.« Er schnaubte, und Nebel stob aus seinen Nasenlöchern. »Wer weiß? Vielleicht werden sie heil und unversehrt dastehen bis ans Ende aller Zeiten, lange, nachdem wir schon in unseren Gräbern vermodern.«

Luthar schielte nervös auf das tosende Wasser und fragte sich zweifelsohne, ob sein Grab vielleicht dort unten lag. »Seid Ihr sicher, dass sie uns trägt?«

»In der Alten Zeit trug sie jeden Tag Tausende von Menschen. Zehntausende. Pferde und Wagen und Bürger und Sklaven in endloser Folge, in beide Richtungen, Tag und Nacht. Sie wird uns tragen.«

Ferro sah zu, als die Hufe von Bayaz’ Pferd auf das Metall schlugen.

»Dieser Schöpfer war ganz offensichtlich ein Mann mit … bemerkenswerten Talenten«, brummte der Wegkundige, der sein Reittier nun in dieselbe Richtung lenkte.

Quai schnalzte mit den Zügeln. »Das war er tatsächlich. Und das alles ist der Welt heute verloren.«

Neunfinger folgte als Nächster, dann der zögernde Luthar. Ferro blieb, wo sie war, saß im trommelnden Regen, bedachte die Brücke, den Karren, die vier Reiter und ihre Pferde mit finsterem Blick. Ihr gefiel das alles nicht. Der Fluss, die Brücke, die Stadt, nichts davon. Mit jedem Schritt hatte es sich mehr und mehr wie eine Falle angefühlt, und jetzt war sie sich sicher. Sie hätte nie auf Yulwei hören sollen. Niemals hätte sie den Süden verlassen dürfen. Hier hatte sie nichts verloren, in dieser eiskalten, nassen, verlassenen Ödnis mit dieser Horde gottloser Rosigs.

»Ich gehe nicht hinüber«, sagte sie.

Bayaz wandte sich um und sah sie an. »Möchtest du dann vielleicht lieber fliegen? Oder einfach nur auf dieser Seite bleiben?«

Sie lehnte sich zurück und kreuzte die Hände über dem Sattelknauf. »Vielleicht ja.«

»Es wäre vermutlich besser, solche Dinge zu besprechen, wenn wir es durch die Stadt geschafft haben«, murmelte Bruder Langfuß und warf einen nervösen Blick auf die leeren Straßen.

»Er hat recht«, sagte Luthar. »Dieser Ort hier hat eine üble Ausstrahlung …«

»Scheiß auf die Ausstrahlung«, knurrte Ferro, »und scheiß auf euch alle. Wieso sollte ich hinübergehen? Was gibt es denn für mich auf der anderen Seite des Flusses? Du hast mir Rache versprochen, alter Rosig, und mir nichts als Lügen gegeben, Lügen und Regen und schlechtes Essen. Wieso sollte ich auch nur einen weiteren Schritt mit dir tun? Erklär mir das mal!«

Bayaz runzelte die Stirn. »Mein Bruder Yulwei hat dir in der Wüste geholfen. Du wärst getötet worden, wenn er nicht gewesen wäre. Du hast ihm dein Wort gegeben …«

»Mein Wort? Ha! Ein Wort ist eine Kette, die leicht bricht, alter Mann.« Und damit riss sie ihre Hände vor sich auseinander. »Da. Ich bin frei davon. Ich habe nicht versprochen, eine Sklavin aus mir machen zu lassen!«

Der Magus stieß einen sehr langen Seufzer aus und sackte müde im Sattel zusammen. »Als ob das Leben ohne dein Verhalten nicht schon schwierig genug wäre. Woran liegt es nur, Ferro, dass du die Dinge immer lieber schwieriger als leichter machst?«

»Vielleicht hatte Gott etwas Besonderes dabei im Sinn, als er mich so schuf, aber ich weiß es nicht. Was ist der Samen?«

Direkt zum Kern der Sache. Das Auge des alten Rosigs schien zu zucken, als sie das Wort aussprach. »Samen?«, wiederholte Luthar verblüfft.

Bayaz sah grimmig auf die überraschten Gesichter der anderen. »Es wäre vielleicht besser, wenn du es gar nicht weißt.«

»Das genügt mir nicht. Wenn du mal wieder für eine Woche einschläfst, will ich wissen, was wir machen und wieso.«

»Jetzt habe ich mich gut erholt«, fauchte Bayaz, und Ferro wusste, dass er log. Alles an ihm schien geschrumpft, älter und schwächer als zuvor. Er mochte wach sein, aber erholt hatte er sich nicht. Er würde mehr als durchsichtige Beteuerungen aufbieten müssen, um sie zu narren. »Es wird nicht wieder vorkommen, darauf kannst du dich verlassen …«

»Ich werde dich ein weiteres Mal fragen und hoffe auf eine einfache Antwort. Was ist der Samen?«

Bayaz sah sie lange an, und sie erwiderte seinen Blick. »Nun gut. Wir werden im Regen dasitzen und über die Grundsätze der Welt streiten.« Damit lenkte er sein Pferd wieder herunter von der Brücke, aber nur etwa einen Schritt weit. »Der Samen ist der Name für das Ding, das Glustrod aus den Tiefen der Erde grub. Es ist jenes Ding, mit dem er all das hier tat.«

»Das hier?«, fragte Neunfinger.

»All das hier.« Und der Erste der Magi deutete mit einer weit ausholenden Armbewegung auf die Zerstörung um sie herum. »Der Samen legte die größte Stadt der Welt in Trümmer und verwüstete das Land der Umgebung bis in alle Ewigkeit.«

»Es ist dann also eine Waffe?«, fragte Ferro leise.

»Es ist ein Stein«, sagte Quai plötzlich, der zusammengesunken auf dem Kutschbock saß und niemanden von ihnen ins Gesicht sah. »Ein Stein aus der Unterwelt. Zurückgelassen und vergraben, als Euz die Teufel aus unserer Welt vertrieb. Es ist die fleischgewordene Andere Seite. Magie der reinsten Form.«

»So ist es«, flüsterte Bayaz. »Meinen Glückwunsch, Meister Quai. Zumindest ein Thema, bei dem Ihr Euch nicht völlig unwissend zeigt. Nun? Reicht dir das als Antwort, Ferro?«

»Ein Stein hat all das hier verursacht?« Neunfinger sah nicht besonders glücklich aus. »Was, zur Hölle, wollen wir dann damit?«

»Ich denke, einige von uns können das erraten.« Bayaz sah Ferro an, blickte ihr direkt in die Augen und lächelte elend, als ob er genau wüsste, was sie dachte. Vielleicht tat er das auch.

Es war kein Geheimnis.

Geschichten von Teufeln, vom Graben und von alten nassen Ruinen, all das war Ferro egal. Sie stellte sich stattdessen vor, wie das Imperium von Gurkhul in totes Land verwandelt wurde. Wie sein Volk vernichtet wurde. Sein Imperator vergessen. Die Städte zu Staub zerfallen. Seine Macht nur noch eine verblasste Erinnerung. In ihrem Kopf tobten Gedanken von Tod und Rache. Dann lächelte sie.

»Gut«, sagte sie. »Aber wieso brauchst du mich?«

»Wer sagt, dass ich dich so sehr brauche?«

Sie schnaubte. »Ich bezweifle, dass du mich so lange ertragen hättest, wenn du mich nicht dringend brauchtest.«

»Das ist wohl wahr.«

»Also, wieso?«

»Weil man den Samen nicht berühren kann. Schon allein der Anblick schmerzt. Wir kamen in die zerstörte Stadt, als die Armee des Kaisers nach Glustrods Sturz nach Überlebenden suchte. Wir fanden keine. Nur Schrecken, Ruinen und Leichen. Zu viele, um sie zu zählen. Tausende und Abertausende bestatteten wir, in Gruben für jeweils einhundert, in der ganzen Stadt. Es war eine lange Arbeit, und während wir sie taten, fand eine Kompanie Soldaten etwas Seltsames in den Ruinen. Ihr Hauptmann wickelte es in seinen Mantel und brachte es zu Juvens. Als der Abend heraufzog, war er verdorrt und gestorben, und seine Kompanie kam ebenfalls nicht davon. Ihnen fielen die Haare aus, ihre Körper schrumpften. Binnen einer Woche waren alle hundert Mann tot. Aber Juvens selbst war unverletzt.« Er nickte zum Karren. »Deswegen fertigte Kanedias die Kiste, und deswegen haben wir sie jetzt dabei. Um uns zu schützen. Niemand von uns ist sicher. Außer dir.«

»Wieso ich?«

»Hast du dich nie gefragt, wieso du anders bist als die anderen? Wieso du keine Farben siehst? Wieso du keine Schmerzen fühlst? Du bist, wie Juvens war, und wie Kanedias. Du bist, wie Glustrod war. Du bist, wie Euz selbst war, wenn man es genau nimmt.«

»Teufelsblut«, hauchte Quai. »Gesegnet und verflucht.«

Ferro durchbohrte ihn mit ihren Blicken. »Was meinst du damit?«

»Du stammst von Dämonen ab.« Und der Zauberlehrling zog einen Mundwinkel mit wissendem Lächeln hoch. »Es geht sicher weit zurück bis in die Alte Zeit und noch weiter, aber du bist nicht vollkommen menschlich. Du bist ein Relikt. Eine letzte schwache Spur des Blutes der Anderen Seite.«

Ferro öffnete den Mund, um ihm eine Beleidigung entgegenzuschleudern, aber Bayaz schnitt ihr das Wort ab.

»Das ist nicht zu leugnen, Ferro. Ich hätte dich nicht hierhergebracht, wenn daran ein Zweifel bestünde. Aber du solltest dich nicht dagegen zu wehren versuchen. Du solltest es annehmen. Es ist eine seltene Gabe. Du kannst den Samen berühren. Vielleicht du allein im ganzen weiten Weltenrund. Nur du kannst ihn berühren, nur du kannst ihn in den Krieg führen.« Er lehnte sich zu ihr herüber und flüsterte: »Aber nur ich kann ihn zum Glühen bringen. Heiß genug, um ganz Gurkhul zu einer Wüste zu machen. Heiß genug, um Khalul und all seine Diener in Staub zu verwandeln. Heiß genug, um dir eine Rache zu bieten, die selbst dir genügen wird, und mehr. Kommst du jetzt mit?« Und er schnalzte mit der Zunge, lenkte sein Pferd zur Seite und wieder auf die Brücke.

Ferro warf dem Rücken des alten Rosigs finstere Blicke zu, als sie ihm folgte, und kaute heftig auf ihrer Unterlippe. Als sie mit der Zunge darüberfuhr, schmeckte sie Blut. Blut, aber keinen Schmerz. Sie wollte nicht gern glauben, was der Magus gesagt hatte, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie anders war als andere. Sie erinnerte sich daran, wie sie einst Aruf gebissen hatte, und er hatte zu ihr gesagt, sie habe wohl eine Schlange zur Mutter gehabt. Wieso nicht eine Dämonin? Sie betrachtete das Wasser, das unter ihr toste, durch die Lücken im Metall und dachte an Rache.

»Ist doch eigentlich egal, welches Blut du hast.« Neunfinger ritt neben ihr. Ritt schlecht, wie immer, sah zu ihr hinüber, die Stimme sanft. »Jeder Mann trifft seine eigenen Entscheidungen, hat mein Vater mir immer gesagt. Ich denke mal, das ist bei Frauen nicht anders.«

Ferro antwortete nicht. Sie zügelte ihr Pferd und ließ die anderen vorbei. Frau oder Dämon oder Schlange, es machte keinen Unterschied. Ihr ging es darum, den Gurkhisen wehzutun. Ihr Hass brannte heiß und wurzelte tief, warm und vertraut. Ihr ältester Freund.

Nichts anderem konnte sie vertrauen.

Ferro überquerte die Brücke als Letzte. Als sie wieder in die verfallende Stadt hineintauchten, warf sie noch einmal einen Blick über die Schulter, zurück zu den Ruinen, aus denen sie gekommen waren und die nun am anderen Ufer halb vom grauen Regentuch verdeckt waren.

»Ssss!« Sie zog ruckartig an den Zügeln, starrte über das tobende Wasser, die Augen glitten über Hunderte von leeren Fenstern, Hunderte von leeren Türöffnungen, Hunderte von Spalten und Lücken und Löchern in den zerstörten Mauern.

»Was hast du gesehen?«, ertönte Neunfingers beunruhigte Stimme.

»Irgendwas.« Aber jetzt sah sie nichts mehr. Die endlosen Ruinen auf der anderen, verfallenen Uferseite lagen ruhig da, leer und leblos.

»An diesem Ort wurde nichts am Leben gelassen«, sagte Bayaz. »Die Nacht wird sich bald über uns senken, und ich zumindest hätte nichts gegen ein Dach, das den Regen von meinen alten Knochen fern hält. Deine Augen haben dir einen Streich gespielt.«

Ferro verzog das Gesicht. Ihre Augen hatten ihr keinen Streich gespielt, ob es nun Teufelsaugen waren oder nicht. Es war etwas da draußen, in der Stadt. Sie fühlte es.

Es beobachtete sie.