REGEN
Für Jezal war ein guter Sturm bisher beste Unterhaltung gewesen. Regentropfen, die auf das Straßenpflaster aufschlugen, die auf die Mauern und Dächer des Agrionts prasselten und wild dahinschießende Flüsschen in den Rinnsteinen bildeten. Etwas, das man lächelnd durch die tropfenbesetzte Fensterscheibe hindurch betrachtete, während man in der warmen und trockenen Stube saß. Etwas, das die jungen Damen im Park überraschte und sie kreischen ließ, während ihre Kleider aufregend eng an die feuchte Haut gepresst wurden. Etwas, durch das man mit Freunden lachend hindurchlief, während man von einer Taverne in die nächste zog, bevor man sich dann vor einem lodernden Feuer mit einem Krug heißen gewürzten Weins wieder aufwärmte. Jezal hatte früher den Regen ebenso sehr genossen wie die Sonne. Aber das war eben früher gewesen.
Hier draußen auf der Ebene waren die Stürme von anderer Art. Hier waren sie nicht wie der Zornausbruch eines bockigen Kindes, den man am besten dadurch beendete, dass man ihn übersah. Hier waren die wilden Stürme kalt und mörderisch, gnadenlos und böswillig, bitter und unerbittlich, und offenbar machte es einen riesengroßen Unterschied, dass das nächste Dach Hunderte von Meilen hinter ihnen lag und die nächste Taverne sowieso. Der Regen kam in großem Schwall und tränkte die endlose Ebene und alles, was sich auf ihr bewegte, mit eiskaltem Wasser. Die dicken Tropfen schlugen wie kleine Steinchen auf Jezals Kopfhaut, stachen seine ungeschützten Hände, den oberen Teil der Ohren und den Nacken. Wasser rann durch sein Haar, über die Augenbrauen, floss in kleinen Strömen über sein Gesicht und sickerte in seinen durchtränkten Kragen. Der Regen lag wie ein grauer Vorhang über dem Land und verbarg alles, was mehr als hundert Schritte vor ihnen lag, wobei sich vor ihnen natürlich ohnehin nichts befand, weder dort noch sonstwo.
Jezal erschauerte und presste die Aufschläge seines Mantels mit einer Hand zusammen. Es war eine sinnlose Geste, denn er war inzwischen längst bis auf die Haut durchnässt. Der verdammte Ladenbesitzer in Adua hatte ihm versichert, dass dieser Mantel absolut wasserdicht sei. Er hatte jedenfalls reichlich viel dafür bezahlt; im Laden beim Anprobieren hatte er denn auch sehr gut darin ausgesehen, ganz wie ein harter Kerl, der jeder Witterung trotzte, aber die Nähte hatten schon die erste Feuchtigkeit durchgelassen, als noch die ersten Tropfen fielen. Seit einigen Stunden nun war er schon so nass, als sei er vollständig bekleidet in die Badewanne gestiegen, nur um einiges kälter.
Seine Stiefel waren voll eisigen Wassers, und seine Schenkel waren an seiner nassen Hose wund gerieben. Der patschnasse Sattel knirschte und quietschte mit jeder Bewegung seines unglücklichen Pferdes. Seine Nase lief, seine Nasenlöcher und Lippen waren rau, und sogar die Zügel taten in seinen nassen Handflächen weh. Vor allem seine Brustwarzen bereiteten ihm in diesem Meer des Unbehagens besondere Qualen. Die ganze Lage war völlig unerträglich.
»Wann hört das endlich auf?«, brummte er verbittert vor sich hin, zog die Schultern hoch und blickte flehend zum düsteren Himmel hinauf, während ihm der Regen ins Gesicht schlug und ihm in Mund und Augen geriet. Seine Vorstellung von Glück beschränkte sich in diesem Moment auf nichts weiter als ein trockenes Hemd. »Könnt Ihr da nicht irgendwas machen?«, maulte er, an Bayaz gewandt.
»Was denn zum Beispiel?«, gab der Magus kurz angebunden zurück, während das Wasser auch sein Gesicht hinunterlief und von seinem ungepflegten Bart tropfte. »Glaubt Ihr, dass mir das hier Spaß macht? Unterwegs auf der großen Ebene in einem solchen widerlichen Sturm, und das in meinem Alter? Der Himmel macht keine Ausnahmen für Magi, wenn’s regnet, pisst es auf jeden gleichermaßen herab. Ich würde vorschlagen, Ihr findet Euch damit ab und behaltet Euer Gejammer für Euch. Ein großer Anführer muss das harte Leben seines Gefolges, seiner Soldaten oder Untertanen teilen. So gewinnt er ihren Respekt. Große Anführer beklagen sich nicht. Niemals.«
»Scheiß auf diese großen Anführer«, murmelte Jezal unterdrückt. »Und auch auf diesen verdammten Regen!«
»Das nennt Ihr Regen?« Neunfinger ritt an ihm vorbei, mit einem breiten Lächeln auf seinem verunstalteten Gesicht. Kurz nachdem die ersten dicken Tropfen gefallen waren, hatte Jezal zu seiner Überraschung mit angesehen, dass der Nordmann erst seinen abgeschabten Mantel und dann auch sein Hemd auszog, sie beide in Ölzeug einrollte und mit nacktem Oberkörper weiterritt, ohne sich daran zu stören, dass das Wasser sein breites, narbiges Kreuz hinunterrann, selig wie eine große, im Dreck wühlende Wildsau.
Sein Verhalten hatte Jezal zunächst als ein weiteres Beispiel für unverzeihliche Verrohung abgetan, und er hatte seinem guten Stern dafür gedankt, dass dieser Wilde zumindest seine Hosen anbehalten hatte, aber als der kalte Regen allmählich seinen Mantel durchdrang, begann er, die Sache anders zu sehen. Er hätte auch ohne Kleidung nicht kälter oder nasser sein können, aber zumindest hätte ihn das triefende Tuch nicht auch noch wund gerieben. Neunfinger grinste zu ihm hinüber, als könnte er Gedanken lesen. »Es frischt doch nur ein bisschen auf. Die Sonne kann ja nicht immer scheinen. Da muss man realistisch sein!«
Jezal knirschte mit den Zähnen. Wenn er sich noch einmal anhören musste, dass man realistisch zu sein hatte, dann würde er Neunfinger mit seinem kurzen Eisen erdolchen. Verdammter halb nackter Wilder. Es war schon schlimm genug, dass er keine hundert Schritt entfernt von einem solchen Höhlenmenschen reiten, essen und schlafen musste, aber sich dann noch seine närrischen Ratschläge anzuhören, war eine beinahe unerträgliche Beleidigung.
»Verdammter nutzloser Wilder«, brummte er vor sich hin.
»Wenn es zum Kampf kommt, werdet Ihr Euch noch freuen, dass er da ist.« Quai warf einen Seitenblick auf Jezal, während er sich auf dem Bock des knirschenden Karren vor und zurück wiegte, das lange Haar vom Regen an die hohlen Wangen geklatscht. Durch den Film von Nässe auf seiner weißen Haut sah er noch kränker und bleicher aus als sonst.
»Wer hat denn Euch nach Eurer Meinung gefragt?«
»Ein Mann, der keine anderen Ansichten hören will, sollte seinen Mund halten.« Der Zauberlehrling wies mit seinem triefenden Kopf auf Neunfingers Rücken. »Das dort ist der Blutige Neuner, der meistgefürchtete Mann im ganzen Norden. Er hat mehr Menschen umgebracht als die Pest.« Jezal sah mit finsterer Miene zu dem Nordmann hinüber, der nachlässig im Sattel saß, dachte einen kurzen Augenblick über das Gehörte nach und verzog dann abfällig den Mund.
»Mir macht er keine Angst«, sagte er gerade so laut, dass Neunfinger ihn nicht hörte.
Quai schnaubte. »Ich wette, Ihr habt noch niemals im Zorn eine Klinge gezogen.«
»Ich könnte ja jetzt damit anfangen«, knurrte Jezal und bedachte Quai mit seinem finstersten Blick.
»Jetzt bekomme ich aber Angst«, kicherte der Zauberlehrling, der enttäuschenderweise höchst unbeeindruckt klang. »Aber wenn Ihr mich fragt, wer hier wirklich nutzlos ist, also, ich wüsste schon, wen ich am ehesten zurückgelassen hätte.«
»Was fällt Euch ein …«
Jezal zuckte zusammen, als ein greller Blitz den Himmel erhellte und sofort ein weiterer folgte, beide beängstigend nah. Finger aus Licht krallten sich an die aufgeblähten Unterseiten der Wolken und zuckten durch die Schwärze über ihren Köpfen. Lang anhaltender Donner grollte über die düstere Ebene, schwoll durch den Wind an und ab. Als er wieder verebbte, war der nasse Karren weiter vorangerollt, und Jezal hatte die Möglichkeit einer Entgegnung verpasst. »Verdammter Zauberlehrling«, murmelte er und warf ihm böse Blicke hinterher.
Als die ersten Blitze kamen, hatte Jezal seine gute Laune zu bewahren versucht, indem er sich vorgestellt hatte, wie seine Reisegefährten getroffen wurden. Es wäre doch höchst passend gewesen, wenn beispielsweise Bayaz durch einen himmlischen Schlag zu Asche verkohlt wäre. Aber bald konnte Jezal nicht mehr auf eine solche Erlösung hoffen, und nicht einmal in seiner Vorstellung war sie noch besonders hilfreich. Die Blitze würden am Tag höchstens einen von ihnen treffen, und wenn es schon einen erwischte, dann begann er allmählich zu hoffen, selbst den Anfang machen zu können. Erst ein kurzes helles Feuer, dann süßes Vergessen. Die angenehmste Art, diesem Albtraum zu entfliehen.
Ein kleines Rinnsal Regen rann Jezals Rücken hinunter und kitzelte seine wund geriebene Haut. Er hätte sich am liebsten gekratzt, aber er wusste, dass es ihn dann nur an zehn weiteren Stellen jucken würde, auf den Schulterblättern und am Hals und überall dort, wo man mit einem gebogenen Finger kaum hinkam. Er schloss die Augen, und sein Kopf senkte sich langsam unter der Last seiner Verzweiflung, bis sein nasses Kinn auf der nassen Brust lag.
Es hatte geregnet, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Daran erinnerte er sich jetzt mit schmerzhafter Deutlichkeit. Die Schwellung in ihrem Gesicht, die Farbe ihrer Augen, die Art, wie sie den Mundwinkel auf einer Seite nach oben zog. Wieder stieg der Kloß in seiner Kehle auf, den er wohl zwanzigmal am Tag hinunterschluckte. Gleich morgens war es das Erste, woran er dachte, und abends, wenn er sich auf dem harten Boden zum Schlafen hinlegte, war es das Letzte. Jetzt bei Ardee zu sein, sicher und warm, schien ihm die Erfüllung all seiner Träume.
Er fragte sich, wie lange sie wohl warten würde, wenn die Wochen verstrichen, ohne dass sie etwas von ihm hörte. Vielleicht schrieb sie jetzt schon täglich Briefe nach Angland, die ihn nie erreichten? Briefe, in denen sie ihren zärtlichen Gefühlen Ausdruck verlieh. Briefe, in denen sie darum flehte, etwas von ihm zu hören. Um Antworten. Ihre schlimmsten Befürchtungen würden sich alle bestätigen – er war ein treuloser Idiot, ein Lügner, der sie schon vergessen hatte, dabei war das doch überhaupt nicht wahr. Er biss verzweifelt die Zähne zusammen, wenn er darüber nachdachte, aber was konnte er tun? Er konnte ihr keine Antwort aus dieser verwünschten, verdammten, verödeten Ebene schicken, noch nicht einmal, wenn es ihm trotz des Dauerregens gelungen wäre, eine zu schreiben. Innerlich verfluchte er die Namen von Bayaz und von Neunfinger, von Langfuß, und Quai. Er verfluchte die ganze verdammte Unternehmung. Es wurde ein Ritual, das er stündlich wiederholte.
Jezal dämmerte es ganz allmählich, dass er bisher ein sehr leichtes Leben geführt hatte. Es erschien ihm jetzt seltsam, dass er sich so laut und ausdauernd über das frühe Aufstehen beklagt hatte, um zum Fechtunterricht zu gehen, oder über die unsagbare Zumutung, mit Leutnant Brint Karten zu spielen, oder darüber, dass seine Würstchen morgens immer ein bisschen zu gut durch waren. Er hätte mit leuchtenden Augen lachen und springen sollen, einzig und allein deswegen, weil er keinen Regen ertragen musste. Er hustete und schniefte, dann wischte er sich mit der wund geriebenen Hand die Nase. Bei so viel Wasser merkte wenigstens niemand, dass er heulte.
Nur Ferro sah aus, als ob sie noch weniger Spaß an der ganzen Reise hätte als er. Wenn sie von Zeit zu Zeit zu den dauerregnenden Wolken hochsah, stand Hass und Entsetzen in ihrem Gesicht geschrieben. Ihr stacheliges Haar war flach an den Kopf geklatscht, ihre durchweichte Kleidung hing schlaff von ihren knochigen Schultern, Wasser lief über ihr narbiges Gesicht und tropfte von ihrer spitzen Nase und von ihrem spitzen Kinn. Sie sah aus wie eine schlecht gelaunte Katze, die ganz unerwartet in einen Teich getunkt worden war und deren Körper unter Verlust all ihrer Bedrohlichkeit plötzlich nur noch ein Viertel der früheren Größe zu haben schien. Vielleicht konnte ihn eine weibliche Stimme ein wenig aus seiner Niedergeschlagenheit reißen, und Ferro war auf hundert Meilen die Einzige, die zumindest theoretisch als weiblich durchging.
Er lenkte sein Pferd neben das ihre und versuchte zu lächeln, woraufhin sie ihn mit dem üblich bösen Blick ansah. Jezal stellte unbehaglich fest, dass sie auf kurze Distanz doch noch recht bedrohlich wirkte. Er hatte ihre Augen vergessen. Gelbe Augen, messerscharf, mit stecknadelgroßen Pupillen, seltsam und beunruhigend. Er wünschte jetzt, sich ihr gar nicht genähert zu haben, aber da er das nun einmal getan hatte, konnte er wohl kaum wieder Abstand halten, ohne etwas zu sagen.
»Da, wo Ihr herkommt, regnet es wohl nicht so viel, was?«
»Hältst du dein verdammtes Maul, oder muss ich dir erst weh tun?«
Jezal räusperte sich und ließ sein Pferd allmählich hinter dem ihren zurückfallen. »Verrückte Hure«, flüsterte er leise. Verdammt, dann sollte sie doch in ihrem Elend ersticken. Er würde nicht anfangen, sich in Selbstmitleid aufzulösen. Das war ja nun gar nicht seine Art.
Der Regen hatte endlich aufgehört, als sie die Stelle erreichten, aber noch immer hing schwere Feuchtigkeit in der Luft, und der Himmel über ihnen war erfüllt von seltsamen Farben. Die Abendsonne durchdrang die sich ständig neu formierenden Wolken mit rosa- und orangefarbenem Licht und legte einen unwirklichen Schimmer über die graue Ebene.
Zwei leere Wagen standen aufrecht da, ein anderer war umgeworfen worden und hatte ein Rad eingebüßt. Ihm war noch immer ein totes Pferd vorgespannt, das mit rosa aus dem Maul hängender Zunge dalag, mit zwei abgebrochenen Pfeilen in der Seite. Die Leichen lagen überall im niedergetrampelten Gras, wie Puppen, die ein schlecht gelauntes Kind liegen gelassen hatte. Einige hatten tiefe Wunden oder gebrochene Glieder oder waren von Pfeilen durchbohrt. Einem der Toten war der Arm an der Schulter abgetrennt worden, und ein kurzes Stück abgebrochenen Knochens ragte aus der Wunde wie bei einem Bratenstück.
Um sie herum lag allerlei Unrat. Zerbrochene Waffen, zersplittertes Holz. Ein paar Truhen waren aufgebrochen worden, und man hatte Tuchballen herausgerissen und zum Teil auf dem nassen Boden abgewickelt. Eingeschlagene Fässer, zerbrochene Kisten, die man durchwühlt und geplündert hatte.
»Kauffahrer«, knurrte Neunfinger, der sich umsah. »Wie wir zu sein vorgeben. Hier draußen ist ein Leben wirklich nicht viel wert.«
Ferro kräuselte die Lippen. »Wo ist das anders?«
Der Wind fegte kalt über das Land und fuhr gnadenlos durch Jezals feuchte Kleidung. Er hatte nie zuvor einen Toten gesehen, und hier lagen gleich … wie viele? Mindestens ein Dutzend. Noch während er sie zu zählen versuchte, stieg ein seltsames Gefühl in ihm auf.
Von den anderen schien niemand besonders betroffen, wobei es bei seinen Mitreisenden auch wenig überraschend war, dass Gewalt für sie nichts Neues darstellte. Ferro kroch zwischen den Toten herum, betrachtete und durchsuchte sie mit ebenso wenig Gefühl wie ein Leichenbestatter. Neunfinger sah aus, als hätte er schon wesentlich Schlimmeres erlebt, und Jezal zweifelte nicht daran, dass er Mord und Totschlag oft genug selbst verursacht hatte. Bayaz und Langfuß wirkten milde beunruhigt, aber nicht viel mehr, als ob sie gerade die Spuren fremder Pferde entdeckt hätten. Quai schien das Ganze kaum zu interessieren.
Jezal hätte in diesem Augenblick gern etwas von ihrer Gleichgültigkeit gehabt. Er wollte es ungern zugeben, aber ihm war mehr als ein bisschen übel. Diese Haut: schlaff und unbeweglich und wachsbleich, nach dem Regen von Feuchtigkeit überzogen. Diese Kleidung: zerrissen und von Plünderern durchsucht, sodass Stiefel, Mäntel, manchmal sogar Hemden fehlten. Diese Wunden. Ausgefranste rote Ränder, blaue und schwarze Blutergüsse, Risse und Tränen und aufklaffende Münder.
Jezal drehte sich abrupt in seinem Sattel, sah hinter sich, nach links, nach rechts, aber überall bot sich ihm das gleiche Bild. Es gab kein Entkommen, selbst wenn er gewusst hätte, in welcher Richtung die nächste Ansiedlung lag. Sie waren zu sechst, und dennoch fühlte er sich unendlich allein. Er befand sich unter einem riesigen, offenen Himmel auf freier Fläche, und dennoch fühlte er sich gefangen.
Einer der Toten schien ihn unentwegt anzustarren. Ein junger Mann, nicht älter als Jezal selbst, mit sandfarbenem Haar und abstehenden Ohren. Er hätte sich vielleicht rasieren können, obwohl das natürlich jetzt nichts mehr ausmachte. In seinem Bauch klaffte eine große, rote Wunde, seine blutigen Hände lagen links und rechts davon, als hätten sie versucht, sie zuzudrücken. Seine Eingeweide glänzten feucht in dunklem Purpurrot. Jezal fühlte, wie ihm die Galle hochkam. Ihm war bereits ein wenig unwohl gewesen, weil er am Morgen zu wenig gegessen hatte. Er konnte den verdammten trockenen Zwieback einfach nicht mehr sehen, und den Papp, den die anderen zusammenrührten, bekam er kaum hinunter. Er wandte sich von der Ekel erregenden Szene ab und starrte ins Gras, wobei er so tat, als hielte er nach wichtigen Hinweisen Ausschau, während sich ihm der Magen umdrehte.
So fest er konnte, packte er die Zügel und zwang die Magensäure, die in seinen Mund strömte, wieder die Kehle hinunter. Er war ein stolzer Sohn der Union, verdammt noch mal. Und vor allem war er ein Edelmann aus einer alt eingesessenen Familie. Und ein tapferer Offizier der Königstreuen und Turniersieger. Wenn er sich jetzt wegen ein bisschen Blut übergab, noch dazu vor dieser Mischung aus Idioten und Wilden – das war eine Erniedrigung, die er sich nicht gestatten konnte. Die Ehre seiner Nation stand auf dem Spiel. Er starrte gebannt auf den nassen Boden, biss die Zähne zusammen und befahl seinem Magen, sich zu beruhigen. Allmählich klappte das auch. Er atmete tief durch die Nase ein. Kühle, feuchte, beruhigende Luft. Er hatte alles im Griff. Dann blickte er wieder auf die anderen.
Ferro hockte auf dem Boden und hatte die eine Hand beinahe bis zum Gelenk in der Wunde eines Opfers versenkt. »Kalt«, raunzte sie an Neunfinger gewandt. »Mindestens seit heute Morgen.« Sie zog die Hand wieder heraus, und die Finger waren mit schleimigem Blut überzogen.
Jezal spuckte die Hälfte seines mageren Frühstücks über seinen Mantel, bevor er auch nur die Zeit hatte, aus dem Sattel zu gleiten. Er machte ein paar taumelnde Schritte, holte laut Luft und würgte erneut. Dann beugte er sich nach vorn, die Hände auf die Knie gestützt, während sich alles um ihn drehte, und spuckte Galle ins Gras.
»Alles in Ordnung?«
Jezal sah auf und versuchte, möglichst gelassen auszusehen, während ihm eine lange Spur bitterer Galle übers Kinn lief. »Hab was Falsches gegessen«, murmelte er, während er sich Mund und Nase mit zitternder Hand abwischte. Eine erbärmliche Notlüge, das musste er selbst zugeben.
Neunfinger nickte allerdings nur. »Das war bestimmt das Fleisch. Mir ging’s zwischendurch auch schon nicht gut.« Er zeigte wieder einmal sein abstoßendes Lächeln und hielt Jezal einen Wasserschlauch hin. »Am besten, man trinkt ordentlich und spült alles runter, hm?«
Jezal ließ einen Schluck Wasser im Mund herumströmen und spuckte ihn dann wieder aus, während er zusah, wie Neunfinger zu den Toten zurückging. Er runzelte die Stirn. Das war seltsam. Wäre es von jemand anderem gekommen, hätte man es beinahe als großzügige Geste deuten können. Er nahm erneut einen Schluck Wasser, und allmählich begann er sich besser zu fühlen. Mit leicht unsicheren Schritten ging er wieder zu seinem Pferd hinüber und schwang sich in den Sattel.
»Wer auch immer das getan hat, war gut bewaffnet, und es waren viele«, sagte Ferro. »Das Gras ist voller Spuren.«
»Wir sollten vorsichtig sein«, erklärte Jezal, der sich damit am Gespräch beteiligen wollte.
Bayaz wandte sich ruckartig zu ihm um. »Wir sollten immer vorsichtig sein! Das versteht sich von selbst! Wie weit sind wir noch von Darmium entfernt?«
Langfuß musterte mit zusammengekniffenen Augen den Himmel und das weite Land vor ihnen. Dann befeuchtete er seinen Finger und hielt ihn in den Wind. »Selbst für einen Mann von meinen Fähigkeiten ist es schwierig, das ohne einen Blick auf die Sterne genau sagen zu können. Fünfzig Meilen ungefähr.«
»Wir werden diesen Pfad bald verlassen müssen.«
»Aber überqueren wir nicht den Fluss bei Darmium?«
»Chaos tobt in der Stadt. Cabrian hält sie und lässt niemanden hinein. Dieses Risiko können wir nicht eingehen.«
»Nun gut, dann eben Aostum. Wir werden Darmium weiträumig umgehen und uns westlich halten. Das ist ein etwas längerer Weg, aber …«
»Nein.«
»Nein?«
»Die Brücke von Aostum wurde zerstört.«
Langfuß runzelte die Stirn. »Zerstört? Wahrlich, Gott liebt es, seine treuen Diener zu prüfen. Dann müssen wir wohl eine Furt durch den Aos suchen …«
»Nein«, sagte Bayaz wieder. »Die Regenfälle der letzten Zeit waren zu heftig, und der große Fluss ist tief. Die Furten sind uns versperrt.«
Der Wegkundige blickte verwirrt drein. »Nun, Ihr seid natürlich mein Dienstherr, und als stolzes Mitglied des Ordens der Wegkundigen werde ich mein Möglichstes tun, Euch zu gehorchen, aber ich sehe bedauerlicherweise keinen anderen Weg. Wenn wir den Fluss nicht bei Darmium oder Aostum überqueren und auch keine Furt nehmen können …«
»Es gibt noch eine weitere Brücke.«
»Tatsächlich?« Langfuß wirkte einen Augenblick überrascht, dann weiteten sich plötzlich seine Augen. »Ihr meint doch nicht etwa …«
»Die Brücke von Aulcus steht noch.«
Alle sahen einander an, und ihre Gesichter waren düster. »Ihr habt doch gesagt, die Stadt sei völlig zerstört«, sagte Neunfinger.
»Ein von Trümmern übersäter Friedhof, habe ich gehört«, hauchte Ferro.
»Ich dachte, Ihr sagtet, dass sich auf Meilen niemand an die Stadt herantraut.«
»Es wäre kaum meine erste Wahl, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Wir werden auf den Fluss zuhalten und dann seinem Nordufer bis Aulcus folgen.« Niemand bewegte sich. Vor allem Langfuß stand das blanke Entsetzen auf dem Gesicht geschrieben. »Nun aber!«, herrschte Bayaz sie an. »Wir sind hier nicht sicher, wir sollten nicht verweilen.« Damit lenkte er sein Pferd weg von den Leichen. Quai zuckte die Achseln, schnalzte mit den Zügeln, und der Wagen rumpelte über das Gras hinter dem Ersten der Magi dahin. Langfuß und Neunfinger folgten ihm, die Gesichter voller Sorge und böser Vorahnungen.
Jezal starrte auf die Toten, die noch immer so dalagen, wie sie sie gefunden hatten. Ihre offenen Augen starrten anklagend in den sich verdunkelnden Himmel. »Sollten wir sie nicht beerdigen?«
»Das kannst du ja tun, wenn du willst«, knurrte Ferro, die mit einer einzigen fließenden Bewegung in den Sattel sprang. »Du kannst sie ja vielleicht in Kotze begraben.«