DIE WUNDEN DER VERGANGENHEIT

Die Fehler alter Zeiten«, erklärte Bayaz mit äußerst wichtigtuerischer Stimme, »sollten nur ein einziges Mal gemacht werden. Jegliches Lernen, das von Erfolg gekrönt sein soll, fußt daher auf einem grundlegenden Verständnis der Geschichte.«

Jezal stieß einen rauen Seufzer aus. Wieso es sich der Alte in den Kopf gesetzt hatte, seiner Bildung auf die Sprünge zu helfen, ging über seinen Horizont. Vielleicht lag es an seiner turmhohen Selbstüberschätzung, wie leicht senile Menschen sie zu haben pflegten. Jezal hielt jedenfalls fest an seinem Entschluss fest, sich nichts, aber auch gar nichts beibringen zu lassen, schon gar nicht in der altmodischen Sprache mit all dem Ihr und Euch, zu dem sie inzwischen übergegangen waren.

»… ja, der Geschichte«, wiederholte der Magus. »Und es gibt sehr viel Geschichte in Calcis …«

Jezal sah sich um, war aber nicht im Geringsten beeindruckt. Wenn Geschichte bedeutete, dass alles alt war, dann war Calcis, die uralte Hafenstadt des Alten Kaiserreichs, wirklich von Geschichte durchdrungen. Wenn Geschichte aber mehr umfassen sollte – Erhabenheit, wahre Größe, die das Blut in Wallung brachte –, dann war hier davon keine Spur.

Die Stadt war unübersehbar sorgfältig geplant und angelegt worden, mit breiten, geraden Straßen, die so ausgerichtet waren, dass sie dem Reisenden überwältigende Ausblicke boten. Aber das einst so stolze Stadtbild war über die Jahrhunderte zu einem Panorama des Verfalls geworden. Überall reihten sich verlassene Häuser aneinander, und leere Fenster und Eingänge sahen auf die vernachlässigten Plätze hinaus. Sie kamen an Nebenstraßen vorüber, in denen Unkraut, Schutt und verfaulendes Bauholz den Durchgang versperrten. Die Hälfte der Brücken über den träge dahinströmenden Fluss war eingestürzt und nicht wieder instand gesetzt worden, und ein Großteil der Bäume am Rand der breiten Alleen war abgestorben, verdorrt und von Efeu erstickt.

Buntes Treiben, wie es die Straßen von Adua beherrschte, vom Hafen über die Elendsviertel und bis hoch zum Agriont, war hier nirgendwo zu entdecken. Jezals Heimatstadt mochte mit seinem Gewimmel viel zu vieler Menschen, die dort miteinander lebten, zu laut oder zu voll wirken; aber als er die wenigen blassen Bürger von Calcis durch ihre verfallenden Straßen schleichen sah, die allenfalls von früherer Größe kündeten, hatte er nicht den geringsten Zweifel, welche Umgebung ihm besser gefiel.

»Ihr werdet zahlreiche Gelegenheiten haben, auf dieser Reise etwas zu lernen, mein junger Freund, und ich würde Euch nahe legen, dass Ihr diese Möglichkeiten nutzt. Vor allem Meister Neunfinger hier ist es wert, dass man sich näher mit ihm beschäftigt. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr wirklich sehr viel von ihm lernen würdet …«

Jezal blieb ungläubig der Mund offen stehen. »Von diesem großen Affen?«

»Dieser Affe, wie Ihr ihn nennt, ist im ganzen Norden berühmt. Dort nennt man ihn den Blutigen Neuner. Ein Name, der Angst oder auch Mut in vielen starken Männern auslöst, je nach dem, auf welcher Seite sie stehen. Ein Kämpfer und ein Taktiker von großer Schläue und unvergleichlicher Erfahrung. Er hat vor allem gelernt, dass man nicht alles sagen muss, was man weiß.« Bayaz sah zu dem Genannten hinüber. »Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten, die ich kenne.«

Jezal verzog das Gesicht und ließ die Schultern hängen. Er konnte sich nicht vorstellen, was er von jemandem wie Neunfinger lernen sollte, außer vielleicht, wie man mit bloßen Händen aß und damit zurechtkam, sich tagelang nicht zu waschen.

»Das große Forum«, brummte Bayaz, als sie einen weiten, offenen Platz erreichten. »Das pulsierende Herz der Stadt.« Selbst er klang enttäuscht. »Hier trafen sich die Bürger von Calcis, um Handel zu treiben, sich große Spektakel anzusehen, Gerichtsprozesse mitzuverfolgen und über philosophische und politische Fragen zu streiten. In der Alten Zeit drängten sich hier die Menschen Schulter an Schulter bis spät in die Nacht.«

Davon konnte jetzt keine Rede sein. Die große gepflasterte Fläche hätte mit Leichtigkeit fünfzigmal so viele Menschen aufnehmen können, wie sich gegenwärtig zusammengefunden hatten. Die riesigen Statuen, die den Platz säumten, waren fleckig und abgebröckelt, und ihre schmutzigen Sockel neigten sich in die verschiedensten Richtungen. In der Mitte standen vereinzelte Marktstände, die sich wie Schafe bei schlechtem Wetter aneinanderdrängten.

»Ein Schatten seiner alten Größe. Dennoch«, sagte Bayaz und deutete auf die mitgenommenen Statuen, »dies hier sind die einzigen Bewohner, die uns heute interessieren sollten.«

»Tatsächlich? Wer sind sie denn?«

»Die Kaiser vergangener Zeiten, mein Junge, und jeder von ihnen hat eine Geschichte zu erzählen.«

Jezal stöhnte innerlich. Ihn hatte schon die Geschichte seines eigenen Landes kaum je interessiert; von der eines hinterwäldlerischen Kaffs im äußersten Westen der Welt wollte er noch weniger wissen. »Da stehen aber ganz schön viele«, sagte er.

»Und das sind noch nicht einmal alle. Die Geschichte des Alten Kaiserreichs reicht viele Jahrhunderte zurück.«

»Deswegen heißt es wohl ›alt‹.«

»Versucht nicht, mir dumm zu kommen, Hauptmann Luthar, dazu müsst Ihr schon früher aufstehen. Während Eure Vorväter noch nackt herumliefen, sich mit Gesten verständigten und Schlamm anbeteten, lenkte mein Meister Juvens hier die Geburt einer großen Nation, einer Nation, die in Ausdehnung und Reichtum, in Wissen und Größe bis heute nicht ihresgleichen gefunden hat. Adua, Talins, Schaffa, sie alle sind nur ein Schatten der wundersamen Städte, die einst im Tal des großen Aos gediehen. Dies hier ist die Wiege der Zivilisation, mein junger Freund.«

Jezal sah sich zwischen den zerbröckelnden Statuen, den verwitterten Bäumen und den schmutzigen, einsamen, vernachlässigten Straßen um. »Was ist schiefgegangen?«

»Das Scheitern einer großen Sache ist nie einfach zu erklären, aber wo Erfolg und Ruhm herrschen, gibt es stets auch Scheitern und Beschämung. Und dann entsteht zwangsläufig Eifersucht. Neid und Stolz führen allmählich zu ersten Auseinandersetzungen, dann zu Fehden, dann zu Kriegen. Zwei große Kriege endeten in schrecklichen Katastrophen.« Er ging mit energischem Schritt auf die Statue zu, die ihnen am nächsten stand. »Aber aus Katastrophen kann man in der Regel seine Lehren ziehen, mein junge.«

Jezal zog eine Grimasse. Noch mehr Lehren brauchte er jetzt ungefähr so nötig wie Schwanzfäule, und er wollte auch keinesfalls Bayaz’ Junge sein, aber sein schlecht gelauntes Schweigen brachte den Alten nicht davon ab, weiter zu salbadern.

»Ein großer Herrscher muss unbarmherzig sein. Wenn er eine Drohung gegen sich oder seinen Herrschaftsanspruch spürt, dann muss er schnell zuschlagen, ohne Zögern und Bedauern. Als Beispiel brauchen wir uns nur die Geschichte von Kaiser Schilla anzusehen.« Er blickte zu der marmornen Figur hinauf, deren Gesichtszüge von der Witterung völlig verwaschen waren. »Als in ihm der Verdacht aufkeimte, dass sein Schatzkanzler selbst mit dem Thron liebäugelte, befahl er, den Mann sofort zu töten, sein Weib und seine Kinder zu erwürgen und sein großes Anwesen in Aulcus dem Erdboden gleichzumachen.« Bayaz zuckte die Achseln. »All das ohne den geringsten Beweis. Eine übertriebene und brutale Handlungsweise, aber besser, man schlägt zu stark zu als zu schwach. Besser, man wird gefürchtet denn verachtet. Schilla wusste das. In der Politik ist kein Platz für Sentimentalitäten, versteht Ihr?«

»Ich verstehe nur eins, dass nämlich überall, wohin ich mich auch wende, irgendein alter Esel steht, der mir einen Vortrag halten will.« Das war es, das Jezal dachte, aber er sagte es nicht. Der Anblick eines Praktikals der Inquisition, der vor seinen Augen zerborsten war, war ihm noch in fürchterlich frischer Erinnerung. Welch scheußlich weiches Geräusch das Fleisch dabei von sich gegeben hatte. Wie ihm die heißen Blutstropfen aufs Gesicht gespritzt waren. Er schluckte und sah auf seine Schuhe.

»Ich verstehe«, murmelte er.

Bayaz’ Stimme dröhnte weiter. »Das soll nicht heißen, dass ein großer König zwangsläufig ein Tyrann sein muss! Es sollte stets das erklärte Streben eines Regenten sein, die Liebe des gemeinen Volkes zu gewinnen, denn sie ist mit kleinen Gesten zu erlangen und kann dennoch ein ganzes Leben halten.«

Das wollte Jezal nun aber doch nicht so hinnehmen, egal, wie gefährlich der alte Mann sein mochte. Es war offensichtlich, dass Bayaz keinerlei Erfahrung hatte, wenn es um Politik ging. »Wozu braucht man denn die Liebe des gemeinen Volkes? Die Edelleute haben schließlich das Geld, die Soldaten und die Macht.«

Bayaz verdrehte die Augen zum Himmel. »Die Worte eines Kindes, das sich leicht von einem schlichten Täuschungsmanöver ablenken lässt. Woher kommt denn das Geld der Edelleute, wenn nicht von den Bauern auf dem Felde? Wer sind ihre Soldaten, wenn nicht die Söhne und Töchter des gemeinen Volks? Wodurch haben die Fürsten überhaupt Macht? Nur durch die Folgsamkeit ihrer Untertanen, weiter nichts. Wenn es im Bauernvolk wirklich zu gären beginnt, dann kann diese Macht in erschreckender Geschwindigkeit dahin sein. Nehmen wir einmal das Beispiel des Kaisers Dantus.« Er zeigte zu einer der vielen Statuen empor, deren einer Arm an der Schulter abgebrochen war, während der andere eine dreckgefüllte Hand vorstreckte, auf der sich dichter Moosbewuchs breitgemacht hatte. Der Verlust seiner Nase, an deren Stelle nun ein schmutziger Krater gähnte, hatte Kaiser Dantus auf ewig einen erstaunten Gesichtsausdruck eingetragen, als habe man ihn gerade auf der Latrine überrascht.

»Kein Regent wurde je mehr von seinem Volk geliebt«, sagte Bayaz. »Er begegnete jedem Mann wie seinesgleichen und gab stets die Hälfte seiner Steuereinnahmen für die Armen aus. Aber seine Edelleute verschworen sich gegen ihn und hatten bereits einen aus ihrer Mitte dazu ausersehen, seinen Platz einzunehmen. Sie warfen den Kaiser ins Gefängnis und eroberten den Thron.«

»Ach, tatsächlich?«, brummte Jezal, der geistesabwesend über den leeren Platz blickte.

»Aber das Volk wollte seinen geliebten Monarchen nicht im Stich lassen. Die Menschen erhoben sich, standen auf gegen ihre Herren und ließen sich nicht unterkriegen. Einige der Verschwörer wurden aus ihren Palästen herausgeholt und in den Straßen aufgehängt, die anderen wurden eingeschüchtert, und Dantus kehrte auf den Thron zurück. Ihr seht also, mein Junge, dass die Liebe des Volkes der beste Schutzschild eines Regenten sein kann.«

Jezal seufzte. »Ich würde trotzdem die Unterstützung der Fürsten vorziehen.«

»Ha. Ihre Liebe ist teuer und so unbeständig wie der Wind, der stets aus anderen Richtungen bläst. Habt Ihr nicht schon im Fürstenrund gestanden, Hauptmann Luthar, wenn der Offene Rat tagte?« Jezal runzelte die Stirn. Vielleicht war doch ein Körnchen Wahrheit am Geschwätz des Alten. »Ha. So ist die Liebe der Edelleute. Man kann lediglich versuchen, sie zu entzweien und ihre Eifersüchteleien zu nähren, kann sie dazu bringen, dass sie um kleine Gefallen buhlen, sich selbst ihre Erfolge zuschreiben und vor allem dafür sorgen, dass keiner von ihnen zu mächtig wird und die eigene Herrschaft schließlich infrage stellen könnte.«

»Wer ist das?« Eine Statue ragte bedeutend höher auf als die anderen. Sie zeigte einen beeindruckend wirkenden Mann Ende des mittleren Lebensalters, mit dichtem Bart und lockigem Haar. Er hatte ein schönes Gesicht, aber einen grimmigen Zug um den Mund, und seine gefurchte Stirn verriet Stolz und Reizbarkeit. Ein Mann, dem man nicht in die Quere kommen wollte.

»Das ist mein Meister, Juvens. Kein Kaiser, aber der erste und oberste Berater für viele von ihnen. Er errichtete das Kaiserreich, aber er trug auch zu seiner Zerstörung bei. Ein großer Mann in vieler Hinsicht, aber große Männer haben große Fehler.« Bayaz drehte seinen Stab gedankenverloren in der Hand. »Man sollte aus den Fehlern der Geschichte lernen.« Er hielt einen Augenblick inne. »Es sei denn, es gibt keine andere Möglichkeit.«

Jezal rieb sich die Augen und sah sich auf dem Forum um. Kronprinz Ladisla hätte aus dieser Lektion vielleicht etwas lernen können, aber Jezal bezweifelte auch das. War das der Grund, weshalb man ihn von der Seite seiner Freunde gerissen und ihm die hart erarbeitete Gelegenheit verwehrt hatte,

Ruhm und Beförderung zu erlangen? Damit er hier den verstaubten Überlegungen eines seltsamen, kahlen Wanderers zuhörte?

Er blickte auf. Drei Soldaten kamen quer über den Platz auf sie zu. Zuerst sah er ihnen gelangweilt zu. Dann wurde ihm bewusst, dass sie ihn und Bayaz direkt ins Visier nahmen und geradewegs auf sie zugingen. Und nun sah er auch ein anderes Dreiergrüppchen und noch eines, die sich aus verschiedenen Richtungen näherten.

Jezal fühlte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Ihre Rüstungen und Waffen waren zwar von altertümlicher Art, sahen aber beunruhigend benutzt und einsatzbereit aus. Fechten war eine Sache. Richtig zu kämpfen, immer mit der Möglichkeit, dass jemand ernsthaft verletzt oder getötet wurde, war etwas ganz anderes. Es war kein Zeichen von Feigheit, sicher nicht, wenn man Besorgnis empfand in einer solchen Lage, da sich neun Bewaffnete näherten und keine Fluchtmöglichkeit blieb.

Bayaz hatte die Männer ebenfalls bemerkt. »Offenbar hat man ein Begrüßungskomitee organisiert.«

Die neun schlossen mit harten Gesichtern einen Kreis um die Wanderer und hielten ihre Waffen fest umklammert. Jezal reckte die Schultern und gab sich Mühe, Angst einflößend zu wirken, obwohl er niemandem in die Augen sah und die Hände vorsichtshalber von den Griffen seiner Eisen entfernt hielt. Er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass jemand nervös wurde und ihn aus einer Laune heraus erstach.

»Ihr seid Bayaz«, sagte der Anführer, ein untersetzter Mann, dessen Helm eine speckige rote Feder zierte.

»Ist das eine Frage?«

»Nein. Unser Herr, der kaiserliche Legat Salamo Narba, Statthalter von Calcis, lädt Euch zu einer Audienz ein.«

»Ach, tut er das?« Bayaz sah von einem der Soldaten zum anderen, dann hob er, an Jezal gewandt, eine Augenbraue. »Ich denke, es wäre unhöflich, diese Einladung abzulehnen, zumal der Herr Legat sich die Mühe gemacht hat, eine Ehreneskorte zu bestellen. Bitte führt uns zu ihm.«

 

Wenn man eines von Logen Neunfinger sagen konnte, dann das: Er litt große Schmerzen. Mühsam schleppte er sich über das unebene Kopfsteinpflaster dahin und zuckte jedes Mal zusammen, wenn er sein Gewicht auf den verletzten Knöchel verlagern musste. Hinkend zog er scharf die Luft ein und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten.

Bruder Langfuß betrachtete mit mitleidigem Grinsen diesen traurigen Anblick. »Wie geht es mit Euren Wunden voran, mein Freund?«

»Es tut weh«, knurrte Logen mit zusammengebissenen Zähnen.

»Und dennoch würde ich vermuten, dass Ihr schon Schlimmeres durchgestanden habt.«

»Hm.« Die Vergangenheit hatte ihm viele Wunden und Verletzungen beschert. Er hatte fast sein ganzes Leben lang irgendwelchen Schmerz gelitten, nachdem die Spuren einer Auseinandersetzung oder was auch immer nur langsam heilen wollten. Er erinnerte sich an die erste echte Wunde, die man ihm je zugefügt hatte, einen Streich quer über das Gesicht, den ihm ein Schanka versetzt hatte. Damals war er fünfzehn gewesen, hoch gewachsen und mit zarter Haut, und die Mädchen im Dorf hatten ihn immer noch gern angesehen. Er berührte mit dem Daumen sein Gesicht und spürte die alte Narbe. Dabei erinnerte er sich, wie sein Vater ihm in der verräucherten Halle den Verband aufs Gesicht gedrückt hatte, an den stechenden Schmerz, und dass er damals am liebsten aufgeschrieen hätte, aber sich doch beherrscht hatte. Ein Mann bleibt ruhig.

Wenn es ihm denn gelingt.

Logen erinnerte sich auch daran, wie er auf dem Bauch in einem stinkenden Zelt gelegen hatte und der kalte Regen auf die Leinwand geprasselt war, und wie er auf ein Stück Leder gebissen hatte, um nicht laut zu schreien. Bis er das Leder ausgespuckt und doch losgebrüllt hatte, während man in seinem Rücken nach einer Pfeilspitze grub, die nicht mit herausgekommen war, als man den Schaft entfernt hatte. Es hatte fast einen Tag gedauert, bis das verdammte Ding endlich gefunden wurde. Logen bewegte unbehaglich seine Schultern, als er daran dachte. Er hatte damals eine Woche lang nicht sprechen können, so sehr hatte er gebrüllt.

Nach dem Duell mit Dreibaum hatte er mehr als eine Woche lang nicht sprechen können. Auch nicht gehen, essen und kaum sehen. Sein Kiefer war gebrochen gewesen, seine Wangenknochen und so viele Rippen, dass man sie kaum zählen konnte. All seine Knochen waren so zerschlagen gewesen, dass er nur noch aus Schmerz bestanden hatte, ein heulendes, selbstmitleidiges Häufchen Elend, das bei jeder Erschütterung der Tragbahre wie ein Kleinkind gejammert hatte und schließlich dankbar dafür gewesen war, von einer alten Frau löffelweise mit Brei gefüttert zu werden.

Es gab viele weitere Erinnerungen, die nun alle an ihn herandrängten und ihn schmerzten. Wie der Fingerstumpf nach der Schlacht von Carleon gebrannt und gebrannt hatte, dass er fast verrückt geworden wäre. Wie er plötzlich nach einem Tag Bewusstlosigkeit wieder erwacht war, als er oben in den Bergen eins über den Schädel bekommen hatte. Wie seine Pisse rot gewesen war, nachdem ihm der Speer von Harding Grimm den Bauch durchbohrt hatte. Logen fühlte sie alle auf seiner Flickenhaut, alle Narben, und er legte schützend die Arme um seinen schmerzenden Körper.

Ja, er hatte schon früher viele Wunden erhalten, das stimmte, aber deswegen taten die jetzigen nicht weniger weh. Der Schnitt an der Schulter machte ihm zu schaffen, er brannte wie glühende Kohle. Er hatte miterlebt, wie ein Mann den ganzen Arm verloren hatte, nur wegen einer kleinen Schramme, die er sich in der Schlacht zugezogen hatte. Erst hatten sie ihm die Hand abgenommen, dann den Unterarm bis zum Ellenbogen, danach den Rest bis hoch zur Schulter. Anschließend war er müde geworden, hatte angefangen, krauses Zeug zu reden, und dann hatte er aufgehört zu atmen. Logen wollte nicht auf eine solche Weise wieder zu Schlamm werden.

Er stolperte zu einem abbröckelnden Mauerrest hinüber und lehnte sich dagegen, zog unter Schmerzen seinen Mantel aus, machte sich mit einer Hand ungeschickt an den Knöpfen seines Hemds zu schaffen, zog die Nadel aus dem Verband und wickelte ihn vorsichtig ab.

»Wie sieht es aus?«, fragte er.

»Wie die Mutter aller Narben«, brummte Langfuß, der Logens Schulter in Augenschein nahm.

»Riecht es so, als ob alles in Ordnung wäre?«

»Ich soll an Euch riechen?«

»Sagt mir nur, ob die Wunde stinkt.«

Der Wegkundige beugte sich vor und schnupperte aufmerksam an Logens Schulter. »Ein deutlich erkennbarer Schweißgeruch, aber der könnte aus Eurer Achselhöhle aufsteigen. Ich fürchte, dass die Medizin nicht zu meinen bemerkenswerten Talenten gehört. Für mich riecht eine Wunde wie die andere.« Damit schob er die Nadel wieder durch den Verband.

Logen zog sich mühsam wieder das Hemd an. »Ihr würdet es merken, wenn sie faulen würde, das könnt Ihr mir glauben. Das riecht wie ein altes Grab, und wenn der Wundbrand sich hineingefressen hat, dann kann man ihm nur noch mit einer Klinge beikommen. Eine üble Art für den Abgang.« Er erschauerte und drückte sanft mit der Handfläche auf seine pochende Schulter.

»Nun, ja«, sagte Langfuß, der sich schon wieder zum Gehen wandte und die fast verlassene Straße entlangschritt. »Zu Eurem Glück haben wir diese Maljinn bei uns. Wenn es um eine gute Unterhaltung geht, dann sind ihre Fähigkeiten zwar sehr beschränkt, aber bei der Wundversorgung – also, ich habe ihr ja zusehen dürfen, und ich muss Euch sagen, sie näht Haut mit so ruhiger Hand zusammen wie ein Schustermeister sein Leder. Aber wirklich! Sie führt die Nadel so flink und fein wie die Hofschneiderin einer Königin. Ein sehr nützliches Talent, das in diesem Teil der Welt äußerst gefragt sein könnte. Ich wäre nicht sehr überrascht, wenn uns diese Fähigkeit noch einmal zunutze sein könnte, bevor wir hier alles erledigt haben.«

»Es wird eine gefährliche Fahrt?«, fragte Logen, der immer noch versuchte, wieder in seinen Mantel hineinzuschlüpfen.

»Tja. Der Norden war schon von je her wild und gesetzlos, von blutigen Fehden gebeutelt und von gnadenlosen Banden durchzogen. Jeder Mann ist dort bis an die Zähne bewaffnet und allezeit bereit, loszuschlagen und zu töten. In Gurkhul ist die Freiheit ausländischer Reisender allein von der Laune des Statthalters vor Ort abhängig, und man läuft stets Gefahr, versklavt zu werden. In den styrischen Städten lauern Schläger und Beutelschneider an jeder Ecke, wenn es einem überhaupt gelingt, die Tore zu durchschreiten, ohne von den Behörden ausgeplündert zu werden. In den Gewässern der Tausendinseln wimmelt es vor Piraten, und manchmal möchte man meinen, auf jeden Kauffahrer käme ein Seeräuber. Im fernen Suljuk wiederum fürchten und verabscheuen sie alle, die irgendwie anders sind, und es ist wahrscheinlicher, dass man Euch dort an den Füßen aufhängt und Euch die Kehle durchschneidet, als Euch höflich den Weg zu erklären. Der Weltenkreis ist voller Gefahren, mein neunfingriger Freund, aber wenn Euch all das noch nicht genug ist und Ihr noch ernstere Gefahren zu erleben wünscht, dann rate ich Euch, reist ins Alte Kaiserreich.«

Logen bekam den Eindruck, dass Bruder Langfuß seine Schilderung richtig Spaß machte. »So schlimm?«

»Noch schlimmer sogar, o ja! Vor allem, wenn man diesem Land nicht nur einen kurzen Besuch abstattet, sondern es in ganzer Breite durchqueren will.«

Logen verzog das Gesicht. »Und das ist der Plan?«

»Das ist der Plan, wenn Ihr es so auszudrücken beliebt. Seit Menschengedenken wird das Alte Kaiserreich von Bürgerkriegen geschüttelt. Es war einst eine einzige Nation mit einem einzigen Kaiser, und für die Einhaltung seiner Gesetze sorgten ein mächtiges Heer und treue Staatsdiener, aber über die Jahre verkam es zu einer kochenden Suppe kleiner Fürstentümer, verrückter Republiken, Stadtstaaten und winziger Herrschaftsbezirke, bis kaum noch jemand einen Regenten anerkannte, der ihm nicht gleich das Schwert an die Kehle setzte. Die Grenzen zwischen Steuern und Ausplünderung, zwischen gerechtem Krieg und blutigem Mord, zwischen rechtmäßigem Anspruch und reiner Phantasie sind inzwischen verwischt und nicht mehr zu erkennen. Es vergeht kaum ein Jahr, ohne dass irgendein machthungriger Bandit sich selbst zum König der Welt ernennt. Wenn ich recht weiß, gab es eine Zeit, vor fünfzig Jahren ungefähr, in der es ganze sechzehn Kaiser zur gleichen Zeit gab.«

»Hm. Fünfzehn mehr, als nötig wären.«

»Sechzehn mehr, würden einige sagen, und keiner von ihnen war Reisenden wohl gesonnen. Wenn man es darauf anlegt, sich ermorden zu lassen, dann bietet das Alte Kaiserreich dem Opfer eine Vielzahl guter Möglichkeiten. Und man muss sich nicht mal unbedingt von anderen Menschen töten lassen.«

»Nein?«

»Aber nicht doch! Die Natur hat uns bereits einige Furcht einflößende Hindernisse in den Weg gelegt, vor allem angesichts der Tatsache, dass allmählich der Winter naht. Westlich von Calcis erstreckt sich eine weite Ebene, die auf Hunderte von Meilen aus offenem Grasland besteht. In der Alten Zeit war das Land zum großen Teil besiedelt und wurde bestellt, und zahlreiche gerade Straßen aus gutem Stein durchzogen es in jede Richtung. Jetzt sind aus fast allen Städten schweigende Ruinen geworden, das Land wurde zu einer von Stürmen heimgesuchten Wüstenei, und die Straßen haben sich in Pfade aus wackligen Steinen verwandelt, die ahnungslose Reisende in gefährliche Moore locken.«

»Moore«, brummte Logen und schüttelte langsam den Kopf.

»Und es gibt noch Schlimmeres. Der Aos, der größte Fluss des ganzen Weltenrunds, hat ein tiefes, gewundenes Tal in die Mitte dieser Ödnis gegraben. Wir werden ihn überqueren müssen, aber es gibt nur noch zwei bestehende Brücken, eine in Darmium, die für uns wohl die beste Möglichkeit bietet, und eine weitere in Aostum, etwa hundert Meilen weiter westlich. Es gibt auch Furten, aber der Aos ist ein mächtiger Fluss mit schneller Strömung, und das Tal ist tief und gefährlich.« Langfuß schnalzte mit der Zunge. »Und dann erst erreichen wir die Geborstenen Höhen.«

»Die sind wohl sehr hoch, was?«

»Ja, sehr. Sehr hoch und sehr gefährlich. Ihren Namen haben sie wegen der steilen Felswände, der zerklüfteten Schluchten und ihrer gähnenden Abgründe erhalten. Gerüchteweise gibt es Pässe, um sie zu überwinden, aber alle Karten, wenn es denn je welche gab, gingen vor Jahren verloren. Nachdem wir die Höhen überquert haben, werden wir uns an Bord begeben …«

»Ihr wollt ein Schiff über die Berge schleppen?«

»Unser Dienstherr hat mir versichert, dass er auf der anderen Seite eines auftreiben wird, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie er das anstellen will, denn das Land dort ist völlig unbekannt. Wir werden dann weiter westwärts zur Insel Schabulyan segeln, die sich, wie es heißt, am Rand der Welt aus dem Meer erhebt.«

»So heißt es?«

»Es gibt nur Gerüchte über dieses Eiland. Selbst unter den Mitgliedern des erlauchten Ordens der Wegkundigen ist, soweit ich weiß, niemand, der sich rühmen kann, einmal den Fuß auf diese Insel gesetzt zu haben, und die Brüder meines Ordens sind bekannt für ihre … unwahrscheinlichen Behauptungen, wenn wir es einmal so ausdrücken wollen.«

Logen kratzte sich gemächlich am Kinn und wünschte sich, dass ihm Bayaz diese Pläne schon früher offenbart hätte. »Das klingt, als sei es ziemlich weit weg.«

»Tatsächlich könnte man sich wohl kaum ein entlegeneres Ziel ausdenken.«

»Und was gibt es da?«

Langfuß zuckte die Achseln. »Da müsst Ihr unseren Dienstherrn fragen. Ich finde Wege, keine Gründe. Bitte folgt mir, Meister Neunfinger, und ich möchte Euch bitten, nicht zu trödeln. Wir haben noch sehr viel zu tun, wenn wir als Kauffahrer durchgehen wollen.«

»Kauffahrer?«

»So lautet Bayaz’ Plan. Händler nehmen es öfters auf sich, von Calcis aus westlich nach Darmium zu reisen, manchmal sogar bis nach Aostum. Beides sind heute noch große Städte und von der Außenwelt weitgehend abgeschlossen. Wenn man sie mit seltenen ausländischen Gütern versorgt – mit Gewürzen aus Gurkhul, Seide aus Suljuk, Tschagga aus dem Norden –, kann man himmelhohe Gewinne erzielen. Man kann seinen Einsatz in nur einem Monat verdoppeln, wenn man denn überlebt. Solche Karawanen – natürlich gut bewacht und verteidigt – sind ein vertrauter Anblick.«

»Was ist mit den Räubern und Plünderern, die diese Ebene durchstreifen? Sind Kauffahrer denn nicht genau das, worauf sie warten?«

»Natürlich«, sagte Langfuß. »Es muss eine andere Bedrohung geben, vor der uns diese Verkleidung bewahren soll. Eine, die sich ganz speziell gegen uns richtet.«

»Gegen uns? Eine andere Bedrohung? Brauchen wir denn noch eine?« Aber Langfuß war bereits außer Hörweite.

 

Zumindest in einem Teil von Calcis war die Herrschaftlichkeit vergangener Zeiten noch nicht völlig verblasst. Die Halle, in die ihre Wächter – oder Entführer – sie brachten, war in der Tat mehr als überwältigend.

Zwei Säulenreihen, so hoch wie Waldbäume, verliefen zu beiden Seiten des widerhallenden hohen Raums; sie waren aus poliertem grünem Stein gehauen und mit schimmernden Silberadern durchzogen. Hoch über ihnen war die Decke in sattem Blauschwarz gestrichen und mit einem Universum leuchtender Sterne bedeckt, die goldene Linien zu einzelnen Sternbildern verbanden. Vor der Tür erstreckte sich ein tiefes Becken voll dunklem Wasser, das völlig still dalag und die gesamte Umgebung spiegelte. Noch eine schattenumlagerte Halle unten. Noch ein schattenumlagerter Nachthimmel oben.

Der kaiserliche Legat lag ausgestreckt auf einer Ottomane, die sich auf einem Podest an der Rückseite des Raums befand; vor ihm stand ein mit allerlei Leckereien beladener Tisch. Er war ein massiger Mann mit rundem, fleischigem Gesicht. Mit schweren Goldringen geschmückte Finger wählten kleine Leckerbissen aus und warfen sie in seinen wartenden Mund, ohne dass er die Augen auch nur für einen Augenblick von seinen zwei Gästen oder Gefangenen abwandte.

»Ich bin Salamo Narba, kaiserlicher Legat und Statthalter der Stadt Calcis.« Er kaute ein wenig und spuckte dann einen Olivenkern aus, der mit sanftem Klingen auf einem Teller landete. »Ihr seid der, den man den Ersten der Magi nennt?«

Der Magus neigte den kahlen Kopf. Narba hob einen Kelch, indem er den Stiel elegant zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, nahm einen Schluck Wein und ließ ihn langsam im Mund hin und her fließen, während er die Männer ihm gegenüber betrachtete. Dann schluckte er. »Bayaz.«

»Eben jener.«

»Hm. Ich möchte Euch nicht zu nahe treten«, sagte der Legat, nahm eine zierliche Gabel zur Hand und spießte eine kleine Auster auf, die auf ihrer Schale gelegen hatte, »aber Eure Anwesenheit in meiner Stadt bereitet mir Sorgen. Die politische Lage im Kaiserreich ist … instabil.« Erneut hob er den Kelch. »Noch mehr als gewöhnlich.« Wieder nahm er einen Mundvoll Wein, kostete ihn gemächlich aus, bis er schließlich schluckte. »Das Letzte, was ich brauche, ist jemand, der … das Gleichgewicht durcheinanderbringt.«

»Noch instabiler als gewöhnlich?«, fragte Bayaz. »Ich dachte, Sabarbus habe die Lage nun endlich wieder beruhigt.«

»Für eine Weile hielt er alles unter seiner Knute.« Der Legat zupfte sich einige dunkle Trauben von einer Rebe und lehnte sich wieder gegen seine Kissen, bevor er sie sich eine nach der anderen in den Mund schob. »Aber Sabarbus … ist tot. Gift, heißt es. Seine Söhne, Scario … und Goltus … stritten um sein Erbe … dann bekriegten sie einander. Ein ausgesprochen blutiger Krieg, selbst in diesem ausgebluteten Land.« Damit spuckte er die Kerne auf die Tischplatte. »Goltus hielt die Stadt Darmium, die inmitten der großen Ebene liegt. Scario nahm den erfolgreichsten General seines Vaters, Cabrian, in seine Dienste, und ließ die Stadt belagern. Vor nicht allzu langer Zeit, nach fünf Monaten der Belagerung und ohne Nahrungsmittel und Hoffnung auf Hilfe … ergab sich Darmium.« Narba biss in eine reife Pflaume; der Saft rann ihm über das Kinn.

»Scario steht also kurz vor dem Sieg.«

»Tja.« Der Legat wischte sich mit der Spitze des kleinen Fingers über die Saftspur und warf die angebissene Frucht achtlos auf den Tisch. »Cabrian hatte Darmium kaum eingenommen, ihre Schätze geplündert und sie dem brutalen Wüten seiner Truppen überlassen, als er sich auch schon im altehrwürdigen Palast einrichtete und sich selbst zum Kaiser ernannte.«

»Ah. Ihr scheint davon nicht sehr berührt.«

»Ich weine innerlich, aber ich habe all das bereits erlebt. Scario, Goltus und nun Cabrian. Drei selbst ernannte Kaiser, in tödlichem Kampf verstrickt, während ihre Soldaten plündernd durch das Land ziehen, und die wenigen Städte, die sich ihre Unabhängigkeit bewahren konnten, sehen entsetzt zu und versuchen, diesen Albtraum halbwegs unbeschadet zu überstehen.«

Bayaz runzelte die Stirn. »Ich beabsichtige, nach Westen zu reisen. Ich muss den Aos überqueren, und in Darmium befindet sich die nächstgelegene Brücke.«

Der Legat schüttelte den Kopf. »Man sagt, dass Cabrian, der stets als sehr exzentrisch galt, nun völlig den Verstand verloren hat. Dass er seine Frau ermordet und seine drei Töchter geheiratet hat. Die Stadttore wurden versiegelt, und nun lässt er die Stadt nach Hexen, Teufeln und Verrätern durchsuchen. Täglich baumeln neue Leichen an den öffentlichen Galgen, die er an allen Straßenecken hat aufstellen lassen. Niemand darf die Stadt betreten oder verlassen. Das sind die Nachrichten aus Darmium.«

Jezal war mehr als nur ein bisschen erleichtert, als er Bayaz sagen hörte: »Dann müssen wir es mit Aostum probieren.«

»Bei Aostum wird niemand mehr den Fluss überqueren. Scario floh vor den rachelüsternen Truppen seines Bruders über die Brücke und ließ sie hinter sich von seinen Truppen einreißen.«

»Er hat sie zerstört?«

»Ja. Ein Wunder aus der Alten Zeit, das zweitausend Jahre lang gestanden hat. Nichts ist übrig geblieben. Und für Euch verschlimmert sich die Lage noch, da es dort oben heftige Regenfälle gegeben hat und der große Fluss mit starker Strömung und hohem Wasserstand dahinfließt. Die Furten sind unpassierbar. In diesem Jahr werdet Ihr den Aos nicht mehr überqueren, fürchte ich.«

»Ich muss.«

»Es wird Euch aber nicht gelingen. Wenn ich Euch einen Rat geben kann – ich würde das Kaiserreich seinem Elend überlassen und dorthin zurückkehren, woher Ihr kamt. Hier in Calcis haben wir immer versucht, den Kopf einigermaßen über Wasser zu halten, uns auf keine Seite zu schlagen und den Katastrophen auszuweichen, die den Rest des Landes heimgesucht haben. Hier halten wir immer noch an den althergebrachten Traditionen unserer Vorväter fest.« Er deutete auf sich selbst. »Die Stadt wird nach wie vor von einem kaiserlichen Legaten regiert, wie es auch in der Alten Zeit schon war, und nicht von einem Räuberhauptmann oder Häuptling oder falschem Kaiser.« Mit schlaffer Geste wies er auf die üppig ausgestattete Halle, in der sie sich befanden. »Hier ist es uns auch in schweren Zeiten gelungen, ein wenig vom Ruhm und der Größe vergangener Tage zu bewahren, und das will ich nicht aufs Spiel setzen. Euer Freund Zacharus war hier, vor nicht einmal vier Wochen.«

»Hier?«

»Er sagte mir, Goltus sei der rechtmäßige Kaiser, und er verlangte, dass ich ihn unterstütze. Ich schickte ihn mit derselben Antwort davon, die ich auch Euch geben werde. Wir in Calcis sind zufrieden mit dem, was wir haben. Wir wollen kein Teil Eurer eigensüchtigen Pläne sein. Mischt Euch hier nicht ein, Magus, und zieht von dannen. Ich gebe Euch drei Tage, um die Stadt zu verlassen.«

Als der letzte Widerhall von Narbas Worten verklungen war, entstand eine Pause. Ein langer, atemloser Augenblick, währenddessen Bayaz’ Gesicht sich immer mehr verfinsterte. Ein langes, erwartungsvolles Schweigen, doch es war nicht leer, sondern voller wachsender Angst.

»Verwechselt Ihr mich vielleicht?«, donnerte Bayaz, und Jezal fühlte den unstillbaren Drang, sich von ihm wegzubewegen und sich hinter einer der wunderschönen Säulen zu verstecken. »Ich bin der Erste der Magi! Der erste Lehrling des großen Juvens höchstselbst!« Sein Zorn schob sich wie ein großer Felsblock über Jezals Brust, drückte ihm die Luft aus den Lungen und presste alle Kraft aus seinem Körper. Bayaz hielt seine schwere Faust hoch. »Dies ist die Hand, die Kanedias fällte! Die Hand, die Harod krönte! Ihr wagt es, mir zu drohen? Ist es das, was Ihr den Ruhm und die Größe alter Zeiten nennt? Eine Stadt, die in ihren verfallenden Mauern versinkt wie ein verdorrter alter Krieger, der sich in der nun übergroßen Rüstung seiner Jugendzeit versteckt?« Narba kauerte sich hinter seinem silbernen Tafelzeug zusammen, und Jezal kniff die Augen zusammen, da er fürchtete, den Legaten jeden Augenblick zerbersten und den Raum mit Blut besprühen zu sehen.

»Ihr glaubt, mir sei auch nur irgendetwas an Eurem Pisspott von einer Stadt gelegen?«, brüllte Bayaz. »Ihr gebt mir drei Tage? Ich werde schon nach einem verschwunden sein!« Und damit drehte er sich auf dem Absatz um und stolzierte über den polierten Fußboden zum Eingang, während das Echo seiner Stimme noch von den schimmernden Wänden und der glänzenden Decke hallte.

Jezal zauderte einen Augenblick, schwach und zitternd, dann schlurfte er schuldbewusst davon und folgte dem Ersten der Magi, vorbei an den entsetzten, sprachlosen Wachen des Legaten und wieder hinaus ans Tageslicht.