WAHRER SCHMERZ

»Wo bin ich?«, fragte Jezal, aber sein Kiefer gehorchte ihm nicht.

Die Räder des Karrens quietschen bei jeder Umdrehung, alles war blendend hell und verschwommen, und Geräusche und Licht bohrten sich in seinen brummenden Schädel. Er versuchte zu schlucken, konnte es aber nicht. Er versuchte den Kopf zu heben. Ein wilder Schmerz schoss durch seinen Hals, und ihm drehte sich der Magen um.

»Hilfe!«, jammerte er, aber nichts war zu hören außer einem blubbernden Krächzen. Was war passiert? Schmerzender Himmel über ihm, schmerzende Bretter unter ihm. Er lag in einem Karren, den Kopf auf einem kratzigen Sack, und wurde gründlich durchgeschüttelt.

Es hatte einen Kampf gegeben, daran erinnerte er sich. Einen Kampf zwischen den Steinen. Jemand hatte etwas gerufen. Dann ein Krachen und gleißendes Licht, darauf nur noch Schmerz. Selbst daran zu denken tat weh. Er hob den Arm, um nach seinem Gesicht zu tasten, aber er stellte fest, dass das nicht ging. Er versuchte die Beine zu verlagern, sich aufzusetzen, aber das gelang ihm auch nicht. Er bewegte seine Kiefermuskeln, keuchte, stöhnte.

Seine Zunge fühlte sich fremd an, dreimal so groß wie sonst, und sie füllte ihm den Mund, dass er kaum atmen konnte. Die rechte Gesichtshälfte war eine Maske dumpfen Schmerzes. Mit jedem Rumpeln des Karrens schlugen seine Kiefer aufeinander und sandten brennend heiße Stiche von den Zähnen zu den Augen, dem Hals, sogar bis zu den Haarwurzeln. Über seinem Mund saß ein Verband, und er musste durch den linken Mundwinkel atmen, aber selbst die Luft, die durch seine Kehle streifte, tat weh. Panik griff mit eisernen Klauen nach ihm. Jeder Körperteil schrie. Ein Arm war ihm eng an die Brust gewickelt, aber mit dem anderen konnte er sich schwach an der einen Wagenseite festhalten, und er versuchte, irgendetwas zu tun, sich zu irgendwie rühren, während ihm die Augen aus dem Kopf quollen, das Herz wild klopfte und ihm der Atem hart durch die Nase fuhr.

»Guh!«, keuchte er, »gurrr!« Und je mehr er zu sprechen versuchte, desto stärker wurde die Qual, und noch stärker, bis sein Gesicht auseinanderzubrechen drohte, bis es ihm schien, der Schädel wolle ihm zerplatzen …

»Ganz ruhig.« Ein vernarbtes Gesicht tauchte verschwommen über ihm auf. Neunfinger. Jezal griff hastig nach ihm, und der Nordmann nahm seine Hand in seine große Pranke und drückte sie fest. »Ganz ruhig, und jetzt hör mir zu. Es tut weh, ich weiß. Es kommt dir so vor, als wäre es mehr, als du ertragen kannst, aber das stimmt nicht. Du glaubst, du müsstest sterben, aber das wirst du nicht. Das kannst du mir glauben, denn ich habe das erlebt, und ich weiß, wovon ich rede. Jede Minute. Jede Stunde. Jeden Tag wird es besser.«

Er fühlte Neunfingers andere Hand an seiner Schulter, wie sie ihn sanft wieder in den Wagen drückte. »Du musst nichts weiter tun außer daliegen, und es wird besser. Verstehst du? Du hast die leichte Aufgabe, du verdammter Glückspilz.«

Jezal ließ seine Glieder schwer werden. Er musste nichts weiter tun, außer dazuliegen. Er drückte die große Hand, und die Hand drückte zurück. Der Schmerz schien nachgelassen zu haben. Es war noch immer schlimm, aber er hatte es im Griff. Sein Atem wurde ruhiger. Seine Augen schlossen sich.

 

Der Wind fuhr über die kalte Ebene, zerrte an dem kurzen Gras, zerrte an Jezals zerrissenem Mantel, seinem fettigen Haar, den schmutzigen Verbänden, aber er achtete nicht darauf. Was konnte er tun gegen den Wind? Was konnte er überhaupt gegen irgendetwas tun?

Er saß aufrecht, hatte den Rücken an das Rad des Karrens gelehnt und sah mit geweiteten Augen auf sein Bein. Zwei abgebrochene Speerschäfte waren auf beiden Seiten mit Streifen zerrissenen Tuchs festgebunden worden und hielten es schmerzhaft fest in gerader Stellung. Sein Arm war in keiner besseren Verfassung, er war zwischen zwei Latten eines Schildes eingeklemmt und ihm fest gegen die Brust gebunden, die weiße Hand hing schlaff herunter, und die Finger waren taub und nutzlos wie ein paar Würstchen.

Es waren armselige Heilungsversuche aus dem Stegreif, von denen sich Jezal sicher war, dass sie nichts fruchten würden. Fast hätte er darüber lachen können, wäre er nicht der unglückliche Patient gewesen. So würde er niemals wieder gesund. Er war zermalmt, gebrochen, am Ende. War er nun ein Krüppel wie jene Unglücklichen, denen er an den Straßenecken Aduas stets aus dem Weg gegangen war? Die kriegsversehrt, zerlumpt und schmutzig den Passanten ihre Arm- oder Beinstümpfe entgegenhielten, die bettelnden Hände nach Kupfermünzen ausstreckten und unliebsame Erinnerungen daran darstellten, dass es eine dunkle Seite am Soldatenleben gab, an die man normalerweise lieber nicht dachte?

War er jetzt ein Krüppel wie … und eine fürchterliche Kälte überfiel ihn … wie Sand dan Glokta? Er versuchte sein Bein zu bewegen und stöhnte vor Schmerz. Würde er den Rest seines Lebens am Stock gehen? Ein elender Schrecken, den man mied und umging? Eine Fleisch gewordene Lektion für andere, auf die man mit dem Finger zeigte und von der man im Flüsterton sprach? Da kommt Jezal dan Luthar! Er war einst ein viel versprechender Offizier, ein gut aussehender Mann, er hatte ein Turnier gewonnen, und die Menge hatte ihm begeistert zugejubelt! Wer würde das heute noch glauben? Was für eine Verschwendung, was für eine Schande, hier kommt er, gehen wir besser …

Und dabei hatte er noch nicht einmal darüber nachgedacht, wie sein Gesicht aussehen mochte. Er versuchte die Zunge zu bewegen, und der Stich, der ihn dabei durchfuhr, ließ ihn zusammenzucken, aber er merkte, dass sich die Geographie der Innenseite seines Mundes schrecklich fremd anfühlte. Verdreht, zerschlagen, und nichts schien so zusammenzupassen wie zuvor. Zwischen seinen Vorderzähnen klaffte eine Lücke, die ihm eine Meile breit zu sein schien. Seine Lippen prickelten unangenehm unter dem Verband. Zerfetzt, zerstört, zerrissen. Er war ein Ungeheuer.

Ein Schatten fiel auf Jezals Gesicht, und er blinzelte gegen die Sonne. Neunfinger stand vor ihm, und ein Wasserschlauch hing aus einer seiner großen Fäuste herab. »Wasser«, grunzte er. Jezal schüttelte den Kopf, aber der Nordmann hockte sich vor ihn, zog den Stopfen aus dem Schlauch und hielt ihm das Wasser trotzdem hin. »Du musst was trinken. Das hält sauber.«

Jezal nahm ihm den Wasserschlauch schlecht gelaunt ab, hob ihn vorsichtig an die Seite seines Mundes, die weniger in Mitleidenschaft gezogen war, und versuchte ihn zu kippen, aber der Schlauch hing voll und schwer herunter. Einen Augenblick mühte er sich damit ab, bis er erkannte, dass er daraus mit nur einer gesunden Hand einfach nicht trinken konnte. Er ließ sich zurücksinken, schloss die Augen und stieß frustriert die Luft durch die Nase. Beinahe hätte er aus Hilflosigkeit und Zorn mit den Zähnen geknirscht, aber das überlegte er sich gerade noch rechtzeitig.

»Hier.« Er spürte eine Hand im Nacken, die ihm den Kopf mit festem Griff hob.

»Guh!«, keuchte er wütend und wollte sich beinahe wehren, aber schließlich ließ er sich einfach zurückfallen und ergab sich dem unwürdigen Zustand, wie ein Kleinkind umsorgt zu werden. Welcher Sinn lag auch darin, wenn er nun unbedingt den Eindruck zu vermitteln versuchte, nicht völlig hilflos zu sein? Abgestandenes, lauwarmes Wasser floss in seinen Mund, und er versuchte es die Kehle hinunterzuzwingen. Es war, als ob er Glassplitter schluckte. Er hustete und spuckte den Rest aus. Oder vielmehr versuchte er das, aber der Schmerz war zu stark. Stattdessen musste er sich vorbeugen und die Flüssigkeit von seinem Gesicht rinnen lassen, wobei das meiste seinen Hals hinunter und in den speckigen Kragen seines Hemds sickerte. Er lehnte sich stöhnend und kraftlos zurück und schob den Wasserschlauch mit seiner gesunden Hand weg.

Neunfinger zuckte die Achseln. »Na gut, aber später musst du es noch einmal probieren. Du musst was trinken. Erinnerst du dich daran, was passiert ist?« Jezal schüttelte den Kopf.

»Es gab einen Kampf. Ich und unser Sonnenschein«, er nickte zu Ferro hinüber, die böse zurückblickte, »haben die meisten Kerle bedient, aber drei sind uns wohl irgendwie entwischt. Du hast zwei davon erledigt, und das ziemlich gut, aber einen übersehen, und der hat dir mit einem Streitkolben direkt aufs Maul gehauen.« Er deutete auf Jezals bandagiertes Gesicht. »Ziemlich heftig, und das Ergebnis dürfte dir vertraut sein. Dann bist du umgekippt, und ich nehme an, er hat auf dich eingeschlagen, als du schon am Boden lagst, und dir dabei den Arm und das Bein gebrochen. Hätte viel schlimmer kommen können. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich den Toten dafür danken, dass Quai zugegen war.«

Jezal blinzelte zum Zauberlehrling hinüber. Was hatte der mit all dem zu tun? Aber Neunfinger beantwortete ihm die Frage bereits.

»Der ist nämlich losgerannt und hat dem Kerl eins mit der Bratpfanne übergezogen. Na, was heißt übergezogen. Ihr habt ihm das Hirn zu Mus gehauen, nicht wahr?« Er grinste zu dem Lehrling hinüber, der ausdruckslos auf die Ebene hinausblickte. »Für einen so dünnen Burschen schlägt er ganz schön hart zu. Um die Pfanne ist es natürlich schade.«

Quai zuckte nur die Achseln, als ob er jeden Morgen irgendeinem Kerl eine Bratpfanne über den Schädel schlüge. Jezal vermutete, dass er dem kränklichen Narren dafür danken sollte, dass er ihm das Leben gerettet hatte, aber er fühlte sich gar nicht so sehr gerettet. Stattdessen versuchte er, die Laute so deutlich herauszubringen, wie es ging, ohne dass es zu sehr wehtat, und fragte fast noch flüsternd: »Wie schwimm iffeff?«

»Mich hat es schon schlimmer erwischt.« Das war allerdings nur ein kleiner Trost. »Das wirst du ganz gut überstehen. Du bist noch jung. Arm und Bein werden schnell heilen.« Was so viel heißen sollte, schloss Jezal daraus, dass sein Gesicht das nicht tun würde. »Es ist immer hart, wenn man verletzt wird, und die erste Wunde ist die allerschlimmste. Ich habe bei jeder von diesen hier wie ein Wickelkind geheult.« Neunfinger deutete mit einer Handbewegung auf sein zernarbtes Gesicht. »Fast alle heulen, das ist Tatsache. Falls dir das ein bisschen hilft.«

Tat es nicht. »Wie schwimm?«

Neunfinger kratzte sich die dicken Bartstoppeln an der Wange. »Dein Kiefer ist gebrochen, du hast ein paar Zähne verloren, sie haben dir den Mund aufgerissen, aber wir haben dich ziemlich gut zusammengeflickt.« Jezal schluckte, er konnte kaum denken. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. »Es ist eine böse Verletzung, die du da abbekommen hast, noch dazu an einer üblen Stelle. Da es den Mund erwischt hat, kannst du nicht essen, nicht trinken, kaum ohne Schmerzen sprechen. Natürlich auch nicht küssen, aber das sollte hier draußen wohl nicht das große Problem sein, was?« Der Nordmann grinste, aber Jezal war nicht in der Stimmung, sich von seiner Heiterkeit anstecken zu lassen. »Eine ziemlich böse Verletzung. Eine Namenswunde nennt man es da, wo ich herkomme.«

»Eine waff?«, machte Jezal und bedauerte das sofort, als der Schmerz seinen Kiefer hinaufleckte.

»Eine Namenswunde, du weißt schon.« Neunfinger wackelte mit dem Stumpf seines Fingers hin und her. »Eine Wunde, nach der man seinen Namen erhält. Wahrscheinlich würde man dich Bruchkinn nennen, oder Schiefkopp oder Fehlzahn oder so was.« Er lächelte wieder, aber Jezal hatte seinen Humor auf dem Hügel zwischen den Steinen verloren, zusammen mit seinen ausgeschlagenen Zähnen. Am liebsten hätte er losgeheult, aber dabei verzog sich sein Mund, und die Stiche zerrten an seinen geschwollenen Lippen unter dem Verband.

Neunfinger versuchte es noch einmal. »Du musst es von der guten Seite sehen. Die Wunde wird dich jetzt wahrscheinlich nicht umbringen. Wenn sich da Wundbrand entwickeln wollte, dann wäre das schon längst passiert, glaube ich.« Jezal glotzte mit entsetztem Blick, und seine Augen weiteten sich noch, als ihm klar wurde, was diese Bemerkung eigentlich bedeutete. Ihm wäre die Kinnlade heruntergeklappt, wenn sie nicht in ihrem zerschmetterten Zustand so straff bandagiert gewesen wäre. Würde ihn wahrscheinlich nicht umbringen? Der Gedanke, dass die Wunde sich entzünden könnte, war ihm noch überhaupt nicht gekommen. Wundbrand? In seinem Mund?

»Ich mache dir die Sache gerade nicht leichter, was?«, murmelte Logen.

Jezal bedeckte die Augen mit seiner gesunden Hand und versuchte zu weinen, ohne dass es ihn schmerzte. Stille Schluchzer ließen seine Schultern erbeben.

 

Sie rasteten am Ufer eines großen Sees. Unruhiges graues Wasser unter einem dunklen Himmel, schwer wie voller blauer Flecken. Dräuendes Wasser, dräuender Himmel, alles scheinbar voller Geheimnisse, voller Bedrohungen. Trotzige Wellen schmatzten an den kalten Kieseln. Trotzige Vögel krächzten einander etwas über das Wasser zu. Trotziger Schmerz pulsierte durch jeden Winkel von Jezals Körper und wollte einfach nicht aufhören.

Ferro hatte sich vor ihm hingehockt und zog wie immer ein finsteres Gesicht, als sie die Verbände löste, während Bayaz hinter ihr stand und ihr dabei zusah. Der Erste der Magi war aus seiner lähmenden Starre erwacht, wie es schien. Er hatte keinerlei Erklärung dafür gegeben, was sie ausgelöst hatte oder wieso er so plötzlich gesundet war, aber er sah noch immer krank aus. Älter denn je, wesentlich knochiger, die Augen waren eingesunken, die Haut wirkte irgendwie dünn, blass, beinahe durchscheinend. Aber Jezal hatte kein Mitgefühl für andere übrig, schon gar nicht für jenen, den er als Drahtzieher hinter seinem Unglück ansah.

»Wo sind wir?«, murmelte er zwischen den stechenden Schmerzen. Es tat weniger weh als zuvor, aber er musste noch immer sehr ruhig und vorsichtig sprechen, und die Worte kamen belegt und ungelenk heraus wie bei einem Dorfdeppen.

Bayaz deutete mit dem Kopf auf die große Wasserfläche hinter sich. »Dies ist der erste der drei Seen. Wir sind ein großes Stück auf dem Weg nach Aulcus vorangekommen. Mehr als die Hälfte unserer Reise liegt nun hinter uns, schätze ich.«

Jezal schluckte. Die Hälfte, das klang so gar nicht nach der beruhigenden Information, die er sich gewünscht hätte. »Wie lang war …«

»Ich kann nicht arbeiten, wenn du hier mit deinen Lippen rumzuckst, du Narr«, zischte Ferro. »Soll ich dich einfach so lassen, oder hältst du mal die Klappe?«

Jezal hielt die Klappe. Vorsichtig löste sie den Verband von seinem Gesicht, betrachtete das braune Blut auf dem Tuch, schnupperte daran, rümpfte die Nase und warf den Lappen weg, dann sah sie zornig für einen Augenblick auf seinen Mund. Er schluckte und versuchte in ihrem dunklen Gesicht irgendein Zeichen dafür zu entdecken, was sie dachte. Er hätte seine Zähne dafür gegeben, wenn er sie noch alle gehabt hätte, um nur einen kurzen Moment in einen Spiegel sehen zu können. »Wie schlimm ist es?«, raunte er ihr zu und schmeckte dabei Blut auf seiner Zunge.

Sie verzog verächtlich das Gesicht. »Du verwechselst mich mit jemandem, dem so was wichtig ist.«

Ein Schluchzer entrang sich seiner Kehle. Tränen brannten in seinen Augen, und er musste den Blick abwenden und blinzeln, um nicht loszuheulen. Er war ein bedauernswertes Geschöpf. Und wie. Ein tapferer Sohn der Union, ein kühner Offizier der Königstreuen, ein Gewinner des Turniers, und hier saß er nun und schaffte es kaum, gegen die Tränen anzukämpfen.

»Halt das fest«, fauchte Ferro ihn an.

»Uh«, flüsterte er und versuchte, die Schluchzer zu unterdrücken, die aus seiner Brust emporstiegen, damit ihm nicht die Stimme brach. Er drückte sich ein Ende des frischen Verbands gegen das Gesicht, während sie das Tuch um seinen Kopf und unter sein Kinn schlang, immer wieder um sein Gesicht wickelte und ihm den Mund beinahe zuband.

»Du wirst das schon überleben.«

»Soll das ein Trost sein?«

Sie zuckte die Achseln, als sie sich abwandte. »Es gibt genug, die nicht überleben.«

Jezal beneidete diese Menschen beinahe, als er ihr nachsah, wie sie durchs wogende Gras davonschritt. Wie sehr wünschte er sich Ardee hierher. Er erinnerte sich an das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte, wie sie in dem weichen Regen mit diesem schiefen Lächeln zu ihm aufgesehen hatte. Sie hätte ihn nie so zurückgelassen, so hilflos und voller Schmerzen. Sie hätte sanfte Worte gefunden, sein Gesicht berührt und ihn mit seinen dunklen Augen angesehen, ihn zart geküsst und … Sentimentaler Quatsch. Wahrscheinlich hatte sie schon längst einen anderen Idioten gefunden, den sie necken, verwirren und in tiefe Traurigkeit stürzen konnte, und hatte nie einen zweiten Gedanken an ihn verschwendet. Er quälte sich selbst mit der Vorstellung, wie sie über die Witze eines anderen lachte, einem anderen zulächelte, einen anderen auf den Mund küsste. Jetzt würde sie ihn sowieso nicht mehr wollen, da war er sich sicher. Niemand würde ihn mehr wollen. Wieder fühlte er, wie seine Lippen zu beben begannen, und seine Augen brannten.

»Alle großen Helden der alten Zeit, wisst Ihr – die großen Könige, die großen Generäle – sie alle mussten sich irgendwann großen Widerständen stellen.« Jezal sah auf. Fast hatte er vergessen, dass Bayaz da war. »Es ist das Leiden, das einem Mann seine Stärke gibt, mein Junge, genau wie jener Stahl am härtesten wird, der am stärksten gehämmert wurde.«

Der alte Mann zog schmerzerfüllt die Luft ein, als er sich neben Jezal auf den Boden niederließ. »Jeder kann leichten Zeiten und Erfolg mit viel Zuversicht entgegensehen. Es ist vielmehr die Art, wie wir uns Schwierigkeiten und Unglück stellen, die unseren Charakter ausmacht. Selbstmitleid geht mit Selbstsucht einher, und für einen Anführer gibt es keine beklagenswertere Eigenschaft. Selbstsucht ist etwas für Kinder und Dummköpfe. Ein großer Anführer denkt erst an andere, dann an sich. Ihr wärt überrascht, wie viel leichter es einem fällt, sich den eigenen Widrigkeiten zu stellen, wenn man sich so verhält. Um sich königlich zu geben, muss man nur jeden anderen Menschen wie einen König behandeln.« Damit legte er Jezal die Hand auf die Schulter. Es sollte vielleicht eine väterliche und beruhigende Geste sein, aber Jezal fühlte durch sein Hemd hindurch, wie sehr sie zitterte. Bayaz ließ sie für einen Augenblick dort ruhen, als habe er nicht die Kraft, sie zu bewegen, dann richtete er sich langsam wieder auf, streckte die Beine aus und schlurfte davon.

Jezal sah ihm mit leerem Blick nach. Ein paar Wochen zuvor hätte er nach einem solchen Vortrag still vor sich hin gewütet. Jetzt saß er da und nahm es demütig hin. Er wusste kaum noch, wer er war. Es war schwierig, sich überlegen zu fühlen, wenn man so völlig von anderen Menschen abhängig war. Noch dazu von Menschen, von denen er bis vor kurzem eine sehr schlechte Meinung gehabt hatte. Er gab sich keinerlei Illusionen mehr hin. Hätte Ferro ihn nicht so ruppig verarztet und Neunfinger ihn nicht so tollpatschig gepflegt, wäre er inzwischen vermutlich tot.

Der Nordmann kam zu ihm herüber, seine Stiefel knirschten auf dem Kies. Zeit, wieder in den Wagen zu steigen. Wieder quietschende Räder und ruckelnde Bewegungen. Wieder mehr Schmerzen. Jezal stieß einen langen, selbstmitleidigen Seufzer aus, unterbrach ihn aber schnell. Selbstsucht war etwas für Kinder und Dummköpfe.

»Komm, du weißt ja, wie’s geht.« Jezal beugte sich vor, und Neunfinger schob ihm einen Arm hinter den Rücken, den anderen unter seine Knie, hob ihn über die Seitenwand des Karrens, ohne dass sein Atem auch nur die geringste Anstrengung erkennen ließ, und setzte ihn ohne viel Federlesens zwischen den Vorräten ab. Als er sich abwenden wollte, ergriff Jezal seine große, dreckige, dreifingrige Hand. Der Nordmann wandte sich um und blickte zu ihm hinunter, eine der dicken Augenbrauen fragend angehoben. Jezal schluckte. »Danke«, murmelte er.

»Was, für das da?«

»Für alles.«

Neunfinger sah ihn einen langen Augenblick an, dann zuckte er die Achseln. »Nicht der Rede wert, Jezal. Wenn man andere so behandelt, wie man von ihnen selbst behandelt werden möchte, kann man nicht viel falsch machen. Hat mein Vater mir immer gesagt. Diesen Rat hatte ich lange Zeit vergessen, und ich habe Dinge getan, die ich nie wiedergutmachen kann.« Er seufzte schwer. »Aber trotzdem schadet es nichts, sich darum zu bemühen. Weißt du, was ich festgestellt habe? Letzten Endes bekommt man genau das zurück, was man selbst ausgeteilt hat.«

Jezal blinzelte Neunfingers breitem Rücken hinterher, als der Hüne zu seinem Pferd hinüberging. Man behandelt andere so, wie man selbst behandelt werden möchte. Konnte Jezal ehrlich sagen, dass er je sehr viel für andere getan hatte? Als sich der Karren mit kreischenden Achsen in Bewegung setzte, dachte er darüber nach, zuerst noch ganz gelassen, dann aber immer besorgter.

Er hatte die Jüngeren drangsaliert und vor den Älteren gekatzbuckelt. Oft hatte er Geld von Freunden erschwindelt, die sich solche Ausgaben nicht leisten konnten, hatte Mädchen ausgenutzt und sie dann sitzen lassen. Nie hatte er seinem Freund West für seine viele Hilfe gedankt, und er wäre ohne weiteres hinter dessen Rücken mit seiner Schwester ins Bett gegangen, wenn sie ihn gelassen hätte. Mit wachsendem Entsetzen erkannte er, dass ihm kaum eine einzige selbstlose Tat einfiel, auf die er stolz sein konnte.

Unbehaglich rührte er sich zwischen den Futtersäcken auf dem Karren. Letzten Endes bekommt man genau das zurück, was man selbst ausgeteilt hat, und gute Manieren kosten nichts. Von jetzt an wollte er zuerst an andere denken. Er wollte jeden so behandeln, als sei er ihm gleichgestellt. Aber natürlich erst später. Es würde noch genug Zeit sein, um ein besserer Mensch zu werden, wenn er erst einmal wieder essen konnte. Mit einer Hand berührte er die Bandagen über seinem Gesicht, kratzte abwesend an ihnen und musste sich schließlich zwingen, damit aufzuhören. Bayaz ritt direkt neben dem Karren und sah über das Wasser.

»Ihr habt es gesehen?«, fragte Jezal ihn mit leiser Stimme.

»Was gesehen?«

»Das hier.« Er tippte mit dem Finger auf sein Gesicht.

»Ach das. Ja, ich habe es gesehen.«

»Wie schlimm ist es?«

Bayaz neigte den Kopf ein wenig. »Wisst Ihr was? Insgesamt gesehen glaube ich, mir gefällt es.«

»Euch gefällt es?«

»Jetzt im Moment vielleicht nicht, aber irgendwann werden die Fäden gezogen sein, die Schwellung klingt ab, die blauen Flecken verblassen, der Schorf heilt und fällt ab. Zwar vermute ich, dass Euer Kinn nie wieder dieselbe Form haben wird wie früher, und die Zähne werden Euch natürlich auch nicht nachwachsen, aber für die jungenhafte Anziehungskraft, die Ihr verliert, werdet Ihr später ganz sicher einen gewissen Hauch von Gefahr und Abenteuer mitbringen und ungeschliffen geheimnisvoll wirken. Die Menschen respektieren einen Mann, dem man ansieht, dass er schon gekämpft hat, und Euer Äußeres ist keinesfalls entstellt. Vermutlich wären die Mädchen noch immer bereit, sich in Euch zu verlieben, vorausgesetzt, dass Ihr etwas tätet, das des Verliebtseins wert wäre.« Er nickte gedankenverloren. »Ja. Insgesamt reicht das wohl, denke ich.«

»Es reicht?«, murmelte Jezal, der eine Hand gegen den Verband gedrückt hielt. »Reicht wozu?«

Aber Bayaz’ war mit seinen Gedanken schon woanders. »Harod der Große hatte eine Narbe auf der Wange, wie Ihr sicher wisst, und ihm hat das nie geschadet. Auf den Statuen sieht man sie natürlich nicht, aber die Menschen haben ihn zu seiner Zeit deswegen nur umso mehr geachtet. Ein wahrhaft großer Mann, Harod. Er stand in dem glänzenden Ruf, ein gerechter und vertrauenswürdiger Mensch zu sein, und oft war er das auch. Aber er hatte auch eine andere Seite und konnte durchaus sehr rücksichtslos sein, wenn es sein musste.« Der Magus lachte in sich hinein. »Habe ich Ihnen schon einmal die Geschichte erzählt, wie er zwei seiner größten Feinde einlud, um mit ihm zu verhandeln? Er sorgte dafür, dass sie sich bekriegten, bevor der Tag verging, und später vernichteten sie ihre Heere gegenseitig, sodass er sich zum Sieger über beide erklären konnte, ohne einen einzigen Streich getan zu haben. Er wusste natürlich, dass Ardlic eine sehr schöne Frau hatte …«

Jezal ließ sich zurücksinken. Bayaz hatte ihm die Geschichte tatsächlich schon einmal erzählt, aber es schien sinnlos, ihm das nun zu sagen. Im Grunde genoss er es sogar, sie noch ein zweites Mal zu hören, und es war schließlich auch nicht so, dass er im Augenblick etwas Besseres zu tun hatte. Es lag etwas Beruhigendes in dem gleichförmigen Geschwafel des alten Mannes mit seiner tiefen Stimme, vor allem jetzt, da die Sonne gerade durch die Wolken brach. Sein Mund tat kaum noch weh, wenn er ihn ruhig hielt.

Und so lag Jezal da, gegen einen Sack mit Stroh gelehnt, den Kopf zur Seite geneigt; er ließ sich von den Bewegungen des Karrens schaukeln und sah zu, wie das Land an ihm vorüberglitt. Sah den Wind im Gras. Sah die Sonne auf dem Wasser.