UNTERHALB DER RUINEN

»Lebst du noch, Rosig?«

Logen stöhnte, als er sein Gewicht verlagerte, und er fühlte eine Welle des Entsetzens über sich hinwegbranden, als sich die Steine unter ihm bewegten. Dann wurde ihm klar, dass er auf einem Schutthaufen lag und ihm die Ecke einer Steinplatte schmerzhaft in eine empfindliche Stelle seines Rückens drückte. Er sah eine Mauer, ganz verschwommen, eine harte Linie zwischen Licht und Schatten verlief darüber. Er blinzelte, verzog das Gesicht und spürte, wie Schmerz seinen Arm emporkroch, als er versuchte, sich den Staub aus den Augen zu reiben.

Ferro kniete gleich neben ihm. Ihr dunkles Gesicht war mit Blut verschmiert, das aus einer Wunde an ihrer Stirn sickerte, und das schwarze Haar war voller Staub. Hinter ihr erstreckte sich ein großer Saal mit gewölbter Decke, der sich in den Schatten verlor. Die Decke war über ihrem Kopf eingebrochen, eine zackige Linie ließ blassblauen Himmel dahinter erkennen. Logen wandte unter Schmerzen den Kopf und staunte. Nur einen Schritt von dort, wo er lag, waren die Steinplatten abgeschlagen worden und ragten in die leere Luft. Gegenüber, weit entfernt, sah er die andere Seite des Spalts, eine hohe Klippe aus abbröckelndem Stein, von der die Umrisse halb verfallener Gebäude aufragten.

Er begann zu begreifen. Sie waren in einem Gewölbe unter dem Tempel. Als sich die Spalte geöffnet hatte, war diese Halle aufgesprengt worden, und dabei war ein kleiner Mauervorsprung stehen geblieben, auf dem sie nun gelandet waren. Sie und jede Menge Trümmer. Sie konnten nicht sehr tief gefallen sein. Beinahe spürte er, wie sich ein Grinsen über sein Gesicht zog. Er war immer noch am Leben.

»Was ist pas…«

Ferros Hand schlug hart auf seinen Mund, ihre Nase war keine zwei Handbreit von seiner entfernt. »Ssss«, zischte sie leise, die gelben Augen glitten nach oben, und ein langer Finger zeigte auf die gewölbte Decke.

Logen fühlte, wie sich ein kaltes Prickeln auf seiner Haut breitmachte. Schanka. Sie wuselten und krochen herum, schnatterten und quiekten einander an, hoch über ihren Köpfen. Er nickte, und langsam nahm Ferro ihre dreckige Hand wieder von seinem Gesicht. Behutsam und steif richtete er sich nun inmitten der Trümmer auf und versuchte dabei so wenig Lärm wie möglich zu machen. Immer wieder verzog er vor Schmerz das Gesicht. Als er schließlich wieder auf den Beinen war, rieselte überall Gesteinsstaub von seinem Mantel. Er bewegte prüfend seine Glieder und wartete auf den stechenden Schmerz, der ihm anzeigen würde, dass er sich die Schulter, das Bein oder den Schädel gebrochen hatte.

Sein Mantel war zerrissen, sein Ellenbogen abgeschürft und pochte dumpf, und eine Blutspur zog sich über den ganzen Unterarm bis zu den Fingerspitzen. Als er die Finger an den schmerzenden Kopf hob, fühlte er auch hier Blut, ebenso wie unter dem Kinn an der Stelle, an der er beim Sturz auf den Boden aufgeschlagen war. Auch sein Mund schmeckte salzig. Wahrscheinlich hatte er sich auf die Zunge gebissen, wieder einmal. Es war ein Wunder, dass das Ding noch immer fest in seinem Mund saß. Ein Knie tat weh, sein Hals war steif, die Rippen von Prellungen übersät, aber er konnte alles bewegen. Wenn er sich dazu zwang.

Etwas war um seine Hand gewickelt. Der abgerissene Ärmel von Luthars Mantel. Er schüttelte den Fetzen ab und ließ ihn auf den Schuttberg neben sich fallen. Hatte jetzt keinen Nutzen mehr. Hatte auch schon vorhin ziemlich wenig Nutzen gehabt.

Ferro war bereits am anderen Ende der Halle und spähte in einen Durchgang. Logen schlich hinkend neben sie und gab sich trotz der Schmerzen Mühe, leise zu sein.

»Was ist mit den anderen?«, flüsterte er. Ferro zuckte die Achseln. »Vielleicht haben sie es geschafft zu fliehen?«, überlegte er hoffnungsvoll. Ferro warf ihm einen langen, bezeichnenden Blick zu, eine Augenbraue erhoben, und Logen presste die Lippen zu einem resignierten Strich zusammen und rieb sich den Arm. Sie hatte recht. Sie beide waren am Leben, jedenfalls noch. Das war schon so viel Glück, wie sie für den Augenblick erhoffen konnten, und es würde ein wenig dauern, bis sie mehr bekommen würden.

»Hier lang«, flüsterte Ferro und deutete in die Dunkelheit.

Logen schielte in die schwarze Öffnung, und ihm wurde schwer ums Herz. Er hasste es, unter der Erde zu sein. All das Gewicht von Stein und Erde, das über ihm lastete, das jeden Augenblick auf ihn niederstürzen konnte. Außerdem hatten sie keine Fackel. Finsterste Schwärze, mit kaum genug Luft zum Atmen, und sie wussten nicht einmal, wie weit sie würden gehen müssen, oder in welche Richtung. Er sah unruhig zu der gewölbten Decke über seinem Kopf und schluckte. Tunnel waren Orte für die Schanka oder für die Toten. Logen war keines von beiden, und er legte wenig Wert darauf, die einen oder die anderen hier unten zu treffen. »Bist du sicher?«

»Was, hast du etwa Angst im Dunkeln?«

»Mir ist es lieber, wenn ich etwas sehen kann, falls ich die Wahl habe.«

»Siehst du hier irgendwo eine Wahl?«, gab Ferro abfällig zurück. »Du kannst hier bleiben, wenn du willst. Vielleicht kommt in ein paar hundert Jahren das nächste Grüppchen Idioten vorbei. Zu denen wirst du dann schön passen!«

Logen nickte und saugte schicksalsergeben an seinem blutigen Zahnfleisch. Es schien eine lange Zeit her, dass sie beide zuletzt in einer solchen Klemme gesteckt hatten, als sie über den schwindelerregend hohen Dächern des Agrionts herumgeturnt waren, verfolgt von Männern mit schwarzen Masken. Es schien wirklich lange her, aber es hatte sich nichts geändert. Obwohl sie nun schon so lange gemeinsam ritten, gemeinsam aßen und gemeinsam dem Tod gegenübergetreten waren, war Ferro noch immer genauso bitter, genauso zornerfüllt und genauso anstrengend und nervtötend wie bei ihrer ersten Unternehmung. Er hatte versucht, Geduld für sie aufzubringen, aber es wurde allmählich ermüdend.

»Muss das sein?«, brummte er und sah ihr direkt in eines der gelben Augen.

»Was denn?«

»Dass du dich dauernd wie ein Arschloch benimmst. Muss das sein?«

Sie sah ihn einen Augenblick finster an, öffnete den Mund, unterbrach sich wieder, zuckte dann die Achseln. »Du hättest mich eben fallen lassen sollen.«

»Was?« Er hatte irgendeine wilde Beleidigung von ihr erwartet. Oder dass sie zumindest mit einem Finger, durchaus aber auch mit einer Klinge nach ihm stach. Das eben hatte sich beinahe bedauernd angehört. Aber falls es tatsächlich der Fall gewesen war, dann hielt diese Stimmung nicht lange an.

»Du hättest mich fallen lassen sollen, dann wäre ich allein hier unten, ohne dass du mir im Weg stündest!«

Logen schnaubte voll Abscheu. Manchen Leuten war wirklich nicht zu helfen. »Dich fallen lassen? Keine Sorge! Nächstes Mal tue ich das!«

»Gut!«, fauchte Ferro und marschierte in den Tunnel. Die Schatten verschluckten sie schnell. Logen überkam plötzlich ein Hauch von Panik bei dem Gedanken, allein zurückzubleiben.

»Warte«, zischte er und beeilte sich, ihr zu folgen.

Der Gang fiel sanft ab. Ferros Füße tappten geräuschlos dahin, Logens Stiefel knirschten auf Staub und Dreck, und das letzte Licht schimmerte auf dem nassen Stein. Er ließ die Fingerkuppen der linken Hand an der Wand entlanggleiten und versuchte nicht zu stöhnen, obwohl er jeden Schritt wie einen Stich in seinen geprellten Rippen, seinem abgeschürften Ellenbogen und dem blutigen Kinn spürte.

Es wurde dunkler und dunkler. Die Wände und der Boden waren nur noch zu erahnen und schließlich gar nicht mehr zu sehen. Ferros dreckiges Hemd wurde zum grauen Geist, der in der toten Luft vor ihm herumschwebte. Ein paar Schritte seiner weichen Knie weiter, und der Geist war verschwunden. Er bewegte eine Hand vor dem Gesicht. Nicht einmal ein Schatten war zu erkennen. Nur rabenschwarze, zischende Schwärze.

Er war begraben. Begraben in der Dunkelheit, allein. »Ferro, warte!«

»Was?« Er prallte im Dunkeln gegen sie, fühlte, wie ihm etwas gegen die Brust schlug, und fiel beinahe auf den Rücken, taumelte dann aber nur gegen die feuchte Mauer. »Was zur Hölle …«

»Ich kann nichts sehen!«, zischte er und hörte selbst, wie viel Entsetzen in seiner Stimme mitschwang. »Ich kann nichts … wo bist du?« Er fuhr mit den ausgestreckten Armen und weit geöffneten Händen durch die Luft. Jeglicher Richtungssinn war ihm abhanden gekommen, sein Herz klopfte, und sein Magen rebellierte. Was, wenn dieses bösartige Luder ihn hier zurückließ? Was, wenn …

»Hier.« Er fühlte, wie ihre Hand nach seiner griff und sich um seine Finger schloss, kühl und beruhigend. Ihre Stimme erklang nicht weit von seinem Ohr entfernt. »Glaubst du, du schaffst es, mir zu folgen, ohne auf die Fresse zu fallen, du Narr?«

»Ich … ich glaube schon.«

»Versuch aber, leise zu sein!« Und damit bewegte sie sich vorwärts und zog ihn ungeduldig hinter sich her.

Wenn ihn jetzt nur die alte Truppe hätte sehen können. Neunfinger-Logen, der meistgefürchtete Mann im ganzen Norden, der sich aus Angst vor der Dunkelheit fast in die Hosen machte und sich an der Hand einer Frau festhielt, die ihn hasste, wie ein Kind, das sich an die Mutterbrust klammert. Beinahe hätte er laut gelacht. Aber er hatte Angst, dass ihn dann die Schanka hörten.

 

Neunfingers große Pranke war heiß und klamm vor Angst. Ein unangenehmes Gefühl, wie sich seine klebrige Haut an ihre drückte. Beinahe Übelkeit erregend, aber Ferro zwang sich weiterzugehen. Sie konnte seine Atemzüge hören, schnell und abgehackt, und die tapsigen Schritte, mit denen er hinter ihr her stolperte.

Es war, als sei es erst gestern gewesen, dass sie beide das letzte Mal in einer solchen Klemme gesteckt hatten, als sie durch die Straßen des Agrionts rannten, sich durch die verdunkelten Gebäude schlichen und die ganze Zeit über gejagt wurden. Es war, als sei es gestern gewesen, aber alles hatte sich inzwischen verändert.

Damals war er ihr lediglich als eine Bedrohung erschienen. Ein weiterer Rosig, den sie im Auge behalten musste. Hässlich und seltsam, dämlich und gefährlich. Damals wäre er wahrscheinlich der letzte Mann auf der Welt gewesen, dem sie vertraut hätte. Jetzt war er beinahe der einzige. Er hatte sie nicht fallen lassen, obwohl sie ihn dazu aufgefordert hatte. Draußen auf der Ebene hatte er gesagt, dass er durchhalten und dabeibleiben würde, wenn sie es auch tat.

Jetzt hatte er es bewiesen.

Sie blickte über ihre Schulter, sah sein bleiches Gesicht ins Dunkel starren. Er hatte die Augen weit aufgerissen, sah aber dennoch nichts, streckte daher die freie Hand aus und tastete sich an den Wänden entlang. Sie hätte ihm dafür vielleicht danken sollen, dass er sie nicht fallen gelassen hatte, aber da hätte sie ja genauso gut zugeben können, dass sie die Hilfe gebraucht hatte. Hilfe brauchen die Schwachen, und die Schwachen sterben oder werden versklavt. Hoffe nie auf Hilfe, dann kannst du nicht enttäuscht werden, wenn keine kommt. Ferro war oft enttäuscht worden.

Und so zog sie, statt ihm zu danken, an seiner Hand und brachte ihn fast zu Fall.

Ein Schimmer kalten Lichts kroch allmählich wieder in den Tunnel, und ein ganz leichtes Dämmerlicht lag auf den roh behauenen Steinquadern. »Kannst du jetzt wieder sehen?«, flüsterte sie ihm über die Schulter hinweg zu.

»Ja.« Sie konnte die Erleichterung in seiner Stimme hören.

»Dann kannst du loslassen«, erklärte sie kurz angebunden, riss ihre Hand weg und wischte sie an der Vorderseite ihres Hemds ab. Dann drängte sie durch das Halbdunkel weiter vorwärts, dehnte dabei ihre Finger und sah sie an. Es war ein komisches Gefühl.

Jetzt, da seine Hand weg war, vermisste sie sie beinahe.

Das Licht wurde heller, es drang aus einem kleinen Torbogen, der vor ihnen lag. Sie schlich darauf zu, trat sanft auf den Fußballen auf und sah vorsichtig um die Ecke. Ein großes Gewölbe öffnete sich vor ihnen, dessen Wände aus glatt geschliffenen Blöcken bestanden, teilweise aus Naturstein, der hoch emporstrebte und seltsame, geschmolzen aussehende Ausbuchtungen hatte; die Decke verlor sich in den Schatten. Ein Lichtstrahl drang von hoch oben hinein und warf einen hellen länglichen Fleck auf den staubbedeckten Boden. Drei Schanka hatten sich dort zusammengerottet, brummten und stritten über etwas, das vor ihnen lag; um sie herum türmten sich überall in großen Haufen, mannshoch und an den Wänden des Gewölbes noch höher aufgeschichtet, Tausende und Abertausende von Knochen.

»Scheiße«, hauchte Logen direkt hinter ihr. Ein Schädel grinste ihnen von der Ecke des Torbogens entgegen. Menschenknochen, daran bestand kein Zweifel.

»Sie essen die Toten«, flüsterte sie.

»Sie tun was? Aber …«

»Hier verfault nichts.« Bayaz hatte gesagt, die Stadt sei voller Gräber. Zahllose Leichen, die man in Gräbern zu je hundert bestattet hatte. Und dort mussten sie über die langen Jahre gelegen und einander in kalter Umarmung umfangen haben.

Bis die Schanka kamen und sie herauszerrten.

»Wir müssen uns irgendwie an ihnen vorbeischleichen«, wisperte Logen.

Ferro sah in die Schatten und suchte nach einem Weg durch die Halle. Der Hügel aus Knochen war unmöglich zu ersteigen, ohne dass man dabei ein Geräusch machte. Sie ließ ihren Bogen von der Schulter gleiten.

»Bist du sicher?«, fragte Neunfinger und berührte sie sacht am Ellenbogen.

Sie stieß ihn zurück. »Mach mal ein bisschen Platz, Rosig.« Sie würde schnell arbeiten müssen. Sie wischte sich das Blut von der Augenbraue. Dann zog sie drei Pfeile aus dem Köcher und nahm sie zwischen die Finger ihrer rechten Hand, um sie schnell erreichen zu können. Einen vierten nahm sie in die Linke, richtete den Bogen aus, spannte die Sehne und zielte auf den Plattkopf, der am weitesten entfernt stand. Als der Pfeil in seinen Körper eindrang, zielte sie bereits auf den zweiten. Ihn erwischte das Geschoss in der Schulter, und er stürzte mit einem seltsamen Quieken zu Boden, als sich der letzte gerade umwandte. Ihr Pfeil erwischte ihn sauber im Hals, bevor er die Drehung vollzogen hatte, und er fiel. Ferro legte den letzten Pfeil auf die Sehne und wartete. Der zweite Plattkopf versuchte sich aufzurichten, aber er war keinen halben Schritt weit gekommen, als sie ihn im Rücken erwischte und er vornüberkippte.

Sie senkte den Boden und sah misstrauisch zu den Schanka hinüber. Keiner von ihnen rührte sich.

»Scheiße«, hauchte Logen. »Bayaz hat recht. Du bist ein Teufel.«

»Hatte recht«, verbesserte ihn Ferro. Es war höchst wahrscheinlich, dass ihn diese Geschöpfe inzwischen erwischt hatten, und dass sie Menschen aßen, war mehr als deutlich. So war es denn wohl auch Luthar und Langfuß und Quai ergangen, wie sie vermutete. Eine Schande.

Aber keine große.

Sie schulterte ihren Bogen und kroch vorsichtig und geduckt in die Halle. Ihr Stiefel setzte sich knirschend auf den Knochenberg. Unsicher machte sie einen weiteren Schritt, die Arme weit ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und dann ging sie weiter, watete teilweise bis zu den Knien in Knochen, die unter ihren Füßen knackten und sich um sie herumschoben. Schließlich hatte sie den Boden der Halle erreicht und kniete dort, sah sich um und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Nichts bewegte sich. Die drei Schanka lagen still da, und dunkles Blut sickerte unter ihren Leichen hervor über die Steine.

»Gah!« Neunfinger stolperte den Berg hinunter. Krachende Splitter flogen ihm dabei um die Ohren, als er schließlich herunterrollte und inmitten von rasselnden Knochen vornüberfiel. »Scheiße! Uh!« Er richtete sich wieder auf, schüttelte einen leicht angestaubten Brustkorb von seinem Arm und schleuderte ihn weg.

»Sei leise, du Narr!«, zischte Ferro und zog ihn neben sich. Sie beide blickten quer durch die Halle zu einem weiteren, roh gemauerten Torbogen und erwarteten förmlich, dass ganze Horden dieser Geschöpfe jeden Augenblick hereinstürmten, um schließlich ihre Knochen zu den anderen zu legen. Aber nichts geschah. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, doch er war zu sehr mit seinen blauen Flecken beschäftigt, also wandte sie sich lieber den drei Leichen zu.

Sie hatten sich um ein Bein geschart. Um das Bein einer Frau, wie Ferro angesichts der Haarlosigkeit vermutete. Ein Stück Knochen ragte aus dem trockenen, verdorrten Fleisch rund um den abgetrennten Oberschenkel. Einer von ihnen hatte sich mit einem Messer daran zu schaffen gemacht, das noch in der Nähe lag; die helle Klinge erglänzte in dem Lichtstrahl, der von der Decke fiel. Neunfinger bückte sich und hob es auf.

»Man kann nie zu viele Messer haben.«

»Nein? Und wenn du in einen Fluss fällst und mit dem ganzen Eisen nicht schwimmen kannst?«

Er blickte sie kurz verblüfft an, dann zuckte er die Achseln und legte es vorsichtig wieder hin. »Da ist was dran.«

Sie ließ ihre eigene Klinge aus dem Gürtel gleiten. »Ein Messer reicht völlig aus. Wenn man weiß, wo man reinstechen muss.« Mit einem Ruck stieß sie den Stahl in den Rücken eines Plattkopfs und begann, ihren Pfeil herauszuschneiden. »Was sind das überhaupt für Viecher?« Schon hatte sie den Pfeil völlig unbeschädigt in der Hand und drehte den Plattkopf mit dem Stiefel auf den Rücken. Er starrte zu ihr hoch, die schwarzen Schweinsäuglein blicklos unter der niedrigen, flachen Stirn; die zurückgezogenen Lippen offenbarten ein breites Maul voller blutiger Zähne. »Die sind sogar noch hässlicher als du, Rosig.«

»Vielen Dank. Es sind Schanka. Plattköpfe. Kanedias hat sie geschaffen.«

»Geschaffen?« Der nächste Pfeil brach ab, als sie versuchte, ihn herauszudrehen.

»Hat Bayaz gesagt. Als Waffe, um sie im Krieg einzusetzen.«

»Ich dachte, er sei tot.«

»Ein paar seiner Waffen leben wohl noch.«

Derjenige, den sie am Hals getroffen hatte, war auf den Pfeilschaft gefallen und hatte ihn kurz unter der Spitze abgebrochen. Nutzlos. »Wie erschafft ein Mensch diese Viecher?«

»Meinst du, ich wüsste das? Sie kamen früher übers Meer, jeden Sommer, wenn das Eis schmolz, und wir hatten alle Hände voll zu tun, gegen sie zu kämpfen. Jede Menge.« Sie bohrte den letzten Pfeil heraus, blutig zwar, aber heil. »Als ich noch jung war, kamen immer mehr, und sie kamen immer öfter. Mein Vater schickte mich nach Süden, über die Berge, um Hilfe beim Kampf gegen sie zu holen …« Er verstummte. »Na ja. Eine lange Geschichte. In den Hohen Höhen wimmelt es inzwischen vor Plattköpfen.«

»Ist ja eigentlich auch egal«, knurrte sie, während sie aufstand und die beiden unversehrten Pfeile sorgsam wieder in ihren Köcher schob, »solange sie sterben.«

»Oh, sie sterben. Das Problem ist nur, es kommen dann immer noch mehr, die man töten muss.« Er sah mit finsterem Gesicht auf die drei toten Geschöpfe und bedachte sie mit einem harten Blick. »Da ist jetzt nichts mehr geblieben, nördlich der Berge. Nichts und niemand.«

Ferro schien das nicht zu berühren. »Wir müssen weiter.«

»Alle wieder zu Schlamm geworden«, knurrte er, als hätte sie nichts gesagt, und seine Miene wurde immer versteinerter.

Sie stellte sich direkt vor ihn hin. »Hast du mich gehört? Wir müssen weiter, hab ich gesagt.«

»Hm?« Er blinzelte sie kurz an, dann verzog er das Gesicht. Die Muskeln seiner Kinnbacken spannten sich unter seiner Haut, die Narben dehnten und bewegten sich, der Kopf war geneigt, sodass die Augen in den harten Schatten des Lichts über ihnen verschwanden. »In Ordnung. Wir gehen weiter.«

Ferro sah ihn finster an, während ein dünner Blutfaden aus seinem Haar sickerte und über seine fettige, stopplige Wange rann. Jetzt sah er nicht länger aus wie jemand, dem sie vertrauen wollte.

»Du willst mir gegenüber jetzt aber nicht irgendwie komisch werden, oder, Rosig? Ich brauch dich hier mit einem kühlen Kopf.«

»Ich bin ganz kühl«, flüsterte er.

 

Logen war heiß. Seine Haut prickelte unter seinen dreckigen Kleidern. Er fühlte sich seltsam, schwindlig, sein Kopf war erfüllt vom Gestank der Schanka. Der Geruch war so durchdringend, dass er glaubte, kaum noch Luft zu bekommen. Der Korridor schien sich unter seinen Füßen zu bewegen und vor seinen Augen zu tanzen. Er verkrampfte sich und beugte sich nach vorn; Schweiß lief ihm über das Gesicht und tropfte auf den sich neigenden Steinboden.

Ferro flüsterte ihm etwas zu, aber er konnte den Worten keinen Sinn entlocken – sie hallten von den Wänden wider und umschwirrten sein Gesicht, gingen ihm jedoch nicht ein. Er nickte und machte mit der Hand eine zustimmende Bewegung, dann mühte er sich, ihr zu folgen. Der Korridor wurde immer heißer und heißer, der verschwommene Stein hatte ein orangefarbenes Glühen angenommen. Er prallte gegen Ferros Rücken und wäre beinahe gestürzt, kroch dann auf seinen wunden Knien vorwärts und zog scharf die Luft ein.

Vor ihnen lag ein großes Gewölbe. Vier schlanke Säulen strebten in der Mitte in die Höhe, hoch empor bis in die ungewisse Dunkelheit weit oben. Unter ihnen brannten Feuer. Viele Feuer, die weiße Flecken in Logens brennende Augen prägten. Kohlen knackten und knisterten und spuckten Rauch aus. Funken stieben in heißem Regen, Dampf quoll in zischenden Stößen empor. Klumpen geschmolzenen Eisens tropften aus Schmelztiegeln und spritzten glühend zu Boden. Geschmolzenes Metall lief durch Rinnen im Fußboden, leuchtende Linien aus Rot und Gelb und blendendem Weiß, die den schwarzen Stein durchzogen.

Die gähnende Höhle war voller Schanka, zerlumpten Gestalten, die sich in der siedend heißen Dunkelheit bewegten. Sie arbeiteten an den Feuern, an den Blasebälgen und an den Schmelzen gerade so wie Menschen – mindestens zwanzig, vielleicht aber auch noch mehr. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Hämmer schlugen hart auf Eisen, Ambosse dröhnten, Metall klapperte. Plattköpfe quiekten und kreischten einander etwas zu. Gestelle lehnten an den entfernten Wänden, dunkle Gestelle, auf denen glänzende Waffen ruhten, und Stahl schimmerte in allen Farben des Feuers und des Zorns.

Logen blinzelte und sah starr auf das Geschehen. Sein Kopf dröhnte, sein Arm pochte, die Hitze griff nach seinem Gesicht, und er fragte sich, ob er seinen Augen trauen konnte. Vielleicht waren sie in die Schmiede der Hölle geraten. Vielleicht hatte Glustrod unter der Stadt doch ein Tor geöffnet. Ein Tor zur Anderen Seite, und sie hatten es durchschritten, ohne es zu bemerken.

Sein Atem ging schnell, kam in harten Stößen, und es gelang ihm nicht, sie zu verlangsamen. Jeder Atemzug war voll beißendem Rauch und voll Gestank der Schanka. Ihm traten die Augen aus den Höhlen, seine Kehle brannte, er konnte nicht schlucken. Er war sich nicht sicher, wann er das Schwert des Schöpfers gezogen hatte, aber jetzt schimmerte und flackerte das orangefarbene Licht auf dem nackten, dunklen Metall, seine rechte Hand packte zur Faust geballt schmerzhaft fest den Griff. Er konnte die Finger nicht mehr öffnen. Er starrte sie an, wie sie orangerot und schwarz glühten, wie sie pulsierten, als ob sie selbst aus Feuer seien, wie die Adern und Sehnen unter der straffen Haut anschwollen, die Knöchel weiß vor wütendem Druck.

Nicht seine Hand.

»Wir müssen zurück«, sagte Ferro und zog an seinem Arm, »und einen anderen Weg suchen.«

»Nein.« Die Stimme war hart wie ein Hammerschlag, rau wie ein sich drehender Wetzstein, scharf wie eine gezogene Klinge in seiner Kehle.

Nicht seine Stimme.

»Geh hinter mich«, konnte er noch flüstern, als er nach Ferros Schulter griff und sie an sich vorbeischob.

Es konnte kein Zurück mehr geben …

 

… und er konnte sie riechen. Er legte den Kopf in den Nacken und sog die heiße Luft durch die Nase ein. Sein Kopf war erfüllt von ihrem Gestank, und das war gut. Hass war eine mächtige Waffe, jedenfalls in den richtigen Händen. Der Blutige Neuner hasste alles. Aber sein ältester Hass mit den tiefsten Wurzeln, der Hass, der am heißesten in ihm brannte, der richtete sich gegen die Schanka.

Er glitt in die Höhle, ein Schatten zwischen den Feuern, und der Lärm zornigen Stahls umfing ihn. Ein wunderschönes, vertrautes Lied. Er schwamm darin, aalte sich darin, saugte es ein. Die Klinge lag schwer in seiner Hand, Kraft floss von dem kalten Eisen in sein heißes Fleisch, von seinem heißen Fleisch in das kalte Eisen, erstarkte, schwoll an und wuchs in Wellen mit seinem aus- und einströmenden Atem.

Noch hatten ihn die Plattköpfe nicht gesehen. Sie arbeiteten. Waren mit irgendwelchen sinnlosen Tätigkeiten beschäftigt. Sie rechneten wohl nicht damit, dass die Rache sie dort treffen würde, wo sie lebten und atmeten und sich abplagten, aber er würde es ihnen zeigen.

Der Blutige Neuner baute sich hinter einem der Geschöpfe auf und hob das Schwert des Schöpfers hoch in die Luft. Er lächelte, als er sah, wie sich der lange Schatten über den kahlen Kopf legte – wie ein Versprechen, das sich bald schon erfüllen würde. Flüsternd gab die lange Klinge ihr Geheimnis preis, und der Schanka wurde sauber in der Mitte zerteilt, wie eine Blume, die sich gerade öffnet. Blut spritzte hervor, warm und beruhigend, benetzte den Amboss, den Steinboden und das Gesicht des Blutigen Neuners mit feuchten kleinen Gaben.

Jetzt sah ihn ein zweiter, und der Neuner griff ihn an, schneller und wütender als kochend heißer Dampf. Das Geschöpf hob einen Arm und sprang zurück. Aber nicht weit genug. Das Schwert des Schöpfers durchtrennte seinen Arm am Ellenbogen, und Hand und Unterarm flogen sich überschlagend durch die Luft. Bevor sie zu Boden fielen, hatte der Blutige Neuner dem Schanka beim Zurückschwingen den Kopf abgeschlagen. Blut brutzelte auf geschmolzenem Eisen, glühte orangerot auf dem stumpfen Metall der Klinge, auf der bleichen Haut seiner Hand, auf dem rohen Steinboden unter seinen Füßen, und er rief nun die anderen zu sich.

»Kommt«, flüsterte er. Sie waren ihm alle willkommen.

Sie hasteten hinüber zu den Gestellen an der Wand und griffen nach ihren dornbewehrten Schwertern und den scharfen Äxten, und der Blutige Neuner sah ihnen lachend zu. Bewaffnet oder nicht, ihr Tod war bereits beschlossen. Es stand in der Höhle geschrieben, in Zeilen aus Feuer und Zeilen aus Schatten. Er würde eine Zeile aus Blut hinzufügen. Sie waren Tiere, weniger noch als Tiere. Ihre Waffen stachen und verletzten ihn, aber der Blutige Neuner war aus Feuer und Dunkelheit gemacht, und er glitt zwischen ihren groben Schlägen hin und her, umging ihre ungeschickt geworfenen Speere, überhörte ihre sinnlosen Schreie und ihre nutzlose Wut.

Es wäre leichter gewesen, eine flackernde Flamme zu erschlagen. Leichter, einen zuckenden Schatten zu töten. Ihre Schwäche war eine Beleidigung seiner Stärke.

»Stirb!«, brüllte er, und die Klinge bewegte sich in großen Kreisen, wild und wunderschön, der Buchstabe auf dem Blatt brannte rot und hinterließ eine hellrote Spur. Und wo die Kreise gewesen waren, wandte sich alles zum Rechten. Die Schanka schrien und schnatterten, sie wurden in kleine Stücke gehauen, so sauber zerstückelt wie Fleisch auf dem Schlachtblock, wie Teig auf dem Backbrett, wie die Stoppeln auf dem Feld, zurückgelassen von des Bauern Sense, alles so, wie es sein sollte.

Der Blutige Neuner zeigte seine Zähne; er lächelte darüber, dass er wieder frei war, und darüber, dass gute Arbeit so ordentlich verrichtet wurde. Eine Klinge blitzte auf, und er zuckte zurück, fühlte aber noch, dass sie ihm einen längeren Kuss an der Seite versetzte. Er schlug einem Plattkopf ein zackenbewehrtes Schwert aus der Hand, packte seinen Gegner am Kragen und drückte ihn mit dem Gesicht in die Rinne, durch die der Strom geschmolzenen Eisens floss, in wütendem Gelb, und sein Kopf zischte und blubberte. Stinkender Dampf stieg auf.

»Brenne!«, lachte der Blutige Neuner, und die zerstückelten Leichen und ihre klaffenden Wunden und ihre auf den Boden gefallenen Waffen und das kochend helle Eisen lachten mit ihm.

Nur die Schanka lachten nicht. Sie wussten, dass ihre Stunde gekommen war.

Der Blutige Neuner sah einen von ihnen in die Höhe springen, über einen Amboss, eine Keule hoch erhoben, um sie ihm über den Schädel zu ziehen. Bevor er den Schanka erschlagen konnte, schlug ein Pfeil in den geöffneten Mund seines Gegners, und er kippte nach hinten, tot wie Schlamm. Der Blutige Neuner sah sich finster um. Jetzt bemerkte er weitere Pfeile bei den Leichen. Irgendjemand verdarb seine gute Arbeit. Er würde ihn dafür bezahlen lassen, später, aber nun kam aus der Mitte der vier Säulen etwas auf ihn zu.

Es war von Kopf bis Fuß von einer hellen Rüstung umhüllt, die mit schweren Nieten zusammengehalten wurde. Ein runder Helm bedeckte die obere Hälfte des Schädels, die Augen glitzerten durch einen dünnen Schlitz. Es grunzte und schnaubte so laut wie ein Bulle, die Füße in ihren Eisenstiefeln stampften mit dumpfem Aufschlag über den Stein, und eine schwere Axt lag in den eisenbehandschuhten Fäusten. Ein Riese unter den Schanka. Oder ein ganz neues Geschöpf, aus Eisen und Fleisch geschaffen, hier unten in der Dunkelheit.

Seine Axt beschrieb einen sauberen Bogen, und der Blutige Neuner rollte sich weg, die schwere Klinge prallte auf den Boden und ließ einen Trümmerschauer aufspritzen. Wieder brüllte es ihm entgegen, den Schlund unter dem geschlitzten Visier weit aufgerissen, eine Wolke Spucke drang aus dem offenen Maul. Der Blutige Neuner wich zurück, tänzelte gleitend mit den wabernden Schatten und den zuckenden Flammen.

Er duckte sich weg, dann wieder, und ließ die Schläge auf der einen und auf der anderen Seite ins Leere gehen, ließ sie über den Kopf und unter seinen Füßen hinweggleiten. Ließ sie auf das Metall und den Stein um ihn herum prallen und die Luft mit einem wütenden Schauer aus Staub und Splittern füllen. Er duckte sich weg, bis das Geschöpf unter dem Gewicht des vielen Eisens müde wurde.

Der Blutige Neuner sah es stolpern und spürte, dass sein Augenblick gekommen war. Er stürmte vor, riss das Schwert über den Kopf, öffnete den Mund und stieß einen Schrei aus, der sich gegen seinen Arm presste, gegen seine Hand, seine Klinge und sogar die Wände der Höhle. Der große Schanka hob den Stiel seiner Axt mit beiden Fäusten, um den Schlag abzuwehren. Guter, glänzender Stahl, geboren in diesen heißen Feuern, hart und stark und so gewaltig, wie ihn die Plattköpfe hatten schmieden können.

Aber dem Werk des Meisterschöpfers konnten sie nichts entgegensetzen. Die matte Klinge durchschlug den Schaft mit dem Geräusch eines schreienden Kindes und riss eine handbreite Scharte in die schwere Rüstung, vom Hals bis zum Schritt. Blut spritzte durch das glänzende Metall und auf den dunklen Stein. Der Blutige Neuner lachte und grub seine Faust in die Wunde, riss eine Hand voll Eingeweide heraus, während sein Gegner auf den Rücken kippte und die beiden Stücke der Axt scheppernd aus seinen zuckenden Klauen fielen.

Er lächelte die Übrigen an. Sie lauerten dort, drei an der Zahl, noch mit Waffen in den Händen, aber sie trauten sich nicht hervor. Sie lauerten in den Schatten, aber die Dunkelheit war ihnen kein Freund. Sie gehörte ihm, und ihm allein. Der Blutige Neuner machte einen Schritt nach vorn, noch einen, das Schwert in der einen Hand, ein Stück blutiger Eingeweide in der anderen, und trennte sich langsam vom Leichnam des großen Plattkopfs. Die Geschöpfe wichen vor ihm zurück, schnatterten und klickerten miteinander, und der Blutige Neuner lachte ihnen ins Gesicht.

Die Schanka mochten noch so sehr voll wilder Wut sein, aber selbst sie mussten ihn fürchten. Selbst die Toten, die keinen Schmerz fühlen. Selbst der kalte Stein, der nicht träumt. Selbst das geschmolzene Eisen fürchtete den Blutigen Neuner. Selbst die Dunkelheit.

Er brüllte und sprang vor, schleuderte das Gekröse weg. Die Spitze seines Schwertes schlug einem Schanka quer über die Brust und warf ihn aufquiekend herum. Einen Augenblick später traf die Klinge seine Schulter und spaltete sie bis zum Brustbein.

Die letzten zwei wollten fliehen, wuselten über den Stein, aber kämpfen oder fliehen, wo war der Unterschied? Noch ein Pfeil traf in den Rücken des einen, bevor er drei Schritte weit gekommen war, und er fiel vornüber. Der Blutige Neuner spurtete vor; seine Finger schlossen sich um den Knöchel des Letzten, so hart wie ein Schraubstock, und zogen ihn zu sich heran, während seine Klauen über den rußgeschwärzten Boden schabten.

Seine Faust war der Hammer, der Boden war der Amboss, und der Kopf des Schanka war das Metall, das bearbeitet werden musste. Ein Schlag, und seine Nase platzte auf, abgebrochene Zähne fielen heraus. Zwei, und er zertrümmerte ihm den Backenknochen. Drei, und der Kiefer gab unter seinen Knöcheln nach. Seine Faust war aus Stein, aus Stahl, aus Diamant. Sie war so schwer wie ein fallender Berg, und mit einem Schlag nach dem anderen zerschmetterte er den dicken Schädel des Schanka zu einer formlosen Masse.

»Platt…kopf«, zischte der Blutige Neuner, und er lachte, riss den verstümmelten Körper hoch und schleuderte ihn weg, dass er nach einer Umdrehung gegen die Gestelle an der Wand krachte. Er fuhr herum, machte eine ausladende Armbewegung, das Schwert des Schöpfers in der Hand, wobei die Spitze Funken auf den Steinen schlug, an die es dabei krachte. Er starrte in die Dunkelheit, drehte sich um, aber nur die Feuer bewegten sich, und die Schatten tanzten mit ihnen. Die Höhle war leer.

»Nein!«, fauchte er. »Wo seid ihr?« Seine Beine zitterten, sie wollten ihn kaum noch tragen. »Wo seid ihr, ihr Arschlöcher …« Er stolperte und sank auf dem heißen Stein auf ein Knie, rang nach Luft. Es musste noch mehr zu tun geben. Der Blutige Neuner konnte nie genug tun. Aber auf seine Kraft war kein Verlass, und jetzt floss sie aus ihm hinaus.

Dann sah er, wie sich etwas bewegte, und blinzelte in die Richtung. Ein Strich Dunkelheit, der langsam und ruhig zwischen den pulsierenden Feuern und den gestürzten Leichen dahinglitt. Kein Schanka. Eine andere Art von Feind. Gerissener und gefährlicher. Rußig dunkle Haut in den Schatten, sanfte Schritte durch die Blutlachen, die seine Arbeit hinterlassen hatte. Sie hatte einen Bogen in den harten Händen, die Sehne halb gespannt, und die Pfeilspitze glänzte hell. Ihre gelben Augen leuchteten wie geschmolzenes Metall, wie heißes Gold, und verspotteten ihn. »Bist du wieder bei dir, Rosig?« Ihre Stimme dröhnte und flüsterte in seinem brummenden Kopf. »Ich will dich nicht töten, aber ich bin dazu bereit.«

Drohungen? »Verfickte Hure«, zischte er sie an, aber seine Lippen waren seltsam ungeschickt und brachten nichts weiter hervor als einen langen Faden Speichel. Er kippte nach vorn, stützte sich auf das Schwert, versuchte wieder aufzustehen, und die Wut brannte in ihm so heiß wie nie zuvor. Sie würde es auch noch zu spüren bekommen. Der Blutige Neuner würde ihr eine solche Lektion erteilen, dass sie nie wieder eine zweite brauchen würde. Er würde sie in Stücke schneiden und sie dann unter seinen Stiefeln zertrampeln. Wenn er doch nur aufstehen konnte …

Er taumelte blinzelnd, und der Atem kam stoßweise aus seiner Brust, langsam, ganz langsam. Die Flammen wurden kleiner und begannen zu verlöschen, die Schatten wurden länger, verschwammen, verschluckten ihn und stießen ihn herab.

Noch einer, nur noch einer. Immer noch einer …

Aber seine Zeit war vorüber …

 

… Logen hustete und erschauerte, zitterte schwach. Seine Hände nahmen im dämmrigen Licht Gestalt an, sie stützten sich zu Fäusten geballt auf dem dreckigen Boden, blutig wie die eines ungeschickten Schlachtergesellen. Er erriet, was passiert sein musste, und er stöhnte, als ihm die Tränen in die Augen traten.

Ferros narbiges Gesicht sah ihm aus der heißen Dunkelheit entgegen. Immerhin hatte er sie nicht umgebracht. Das war schon einmal etwas.

»Bist du verletzt?«

Das konnte er nicht beantworten. Er wusste es nicht. Ein bisschen fühlte es sich an, als ob er eine Wunde an der Seite abbekommen hatte, aber es war so viel Blut an ihm, dass das schwer zu sagen war. Als er aufzustehen versuchte, taumelte er gegen einen Amboss und hätte unversehens beinahe in einen glühenden Schmelzofen gefasst. Er blinzelte und spuckte aus, ihm zitterten die Knie. Sengende Feuer flackerten vor seinen Augen. Überall lagen Leichen, ausgestreckte Körper auf dem rußigen Boden. Er blickte sich verständnislos nach etwas um, woran er seine Hände abwischen konnte, aber alles war mit Blut besudelt. Sein Magen rebellierte, und er stolperte auf wackligen Beinen zwischen den heißen Essen zu einem Durchgang in der gegenüberliegenden Wand, eine blutige Hand auf den Mund gepresst.

Dort lehnte er sich gegen den warmen Stein, ließ bitteres Blut und Spucke auf den Boden rinnen, während der Schmerz nach seiner Seite fasste, nach seinem Gesicht, nach seinen geschundenen Knöcheln. Aber wenn er auf Mitleid gehofft hatte, dann war er bei Ferro an die Falsche geraten.

»Weiter geht’s«, fauchte sie. »Los, Rosig, hoch mit dir.«

Er konnte nicht sagen, wie lange er durch die Dunkelheit gestolpert war, wie lange er keuchend versucht hatte, Ferro auf den Fersen zu bleiben, während sein eigener Atem in seinem Schädel dröhnte. Sie krochen durch die Eingeweide der Erde. Durch uralte Säle voller Staub und Schatten, vorbei an steinernen, von Rissen durchzogenen Wänden. Durch Torbogen in gewundene Tunnel, mit lehmigen Decken, gestützt von baufälligen Balken.

Einmal kamen sie an eine Kreuzung, und Ferro schubste ihn wieder in die Dunkelheit an der Mauer, und sie beide hielten den Atem an, als zerlumpte Gestalten den Gang hinunterschlurften, der ihren Weg kreuzte. Weiter und weiter … Gänge, Hallen, Höhlen. Er konnte ihr nur folgen, sich weiterschleppen, bis er wusste, dass er jeden Augenblick umfallen würde vor Müdigkeit. Bis er sicher war, dass er nie wieder das Tageslicht sehen würde …

»Warte«, zischte Ferro. Sie legte ihm die Hand gegen die Brust, um ihn zu bremsen, und warf ihn dabei fast um, weil seine Beine so schwach waren. Ein Bach floss träge neben dem Gang dahin, und sein Wasser schwappte und kräuselte sich in den Schatten. Ferro kniete sich auf den Boden und spähte in den kleinen Tunnel, aus dem das Wasser kam.

»Wenn er flussabwärts in den großen Strom mündet, dann muss seine Quelle außerhalb der Stadt liegen.«

Logen war sich da nicht so sicher. »Was, wenn er … irgendwo … unterirdisch entspringt?«

»Dann finden wir einen anderen Weg. Oder wir ertrinken.« Ferro schulterte ihren Bogen und ließ sich ins Wasser gleiten, das ihr bis an die Brust reichte, die dünnen Lippen fest zusammengepresst. Logen beobachtete, wie sie mit erhobenen Armen weiter watete. Wurde sie niemals müde? Er war so zerschlagen und erledigt, er wollte sich nur noch hinlegen und nie wieder aufstehen. Kurz dachte er darüber nach. Dann wandte Ferro sich um und sah ihn an der Böschung sitzen. »Komm schon, Rosig!«, zischte sie ihm zu.

Logen seufzte. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab sie nicht mehr nach. Er schob zögernd ein zitterndes Bein ins kalte Wasser. »Ich bin hinter dir«, brummte er. »Direkt hinter dir.«