KALTER TROST

West spähte aus dem Gebüsch durch die treibenden Schneeflocken den Abhang hinunter und beobachtete die unionistischen Posten. Die Wachleute saßen auf der anderen Seite des Baches halbwegs im Kreis um eine dampfende Pfanne herum, die auf einem mickrigen Feuer stand. Sie trugen dicke Mäntel, der Atem dampfte vor ihren Gesichtern, und ihre Waffen lagen fast vergessen um sie herum im Schnee. West wusste, was in ihren Köpfen vorging. Bethod konnte diese Woche aufkreuzen, vielleicht auch nächste Woche, aber gegen die Kälte musste man ständig ankämpfen, jeden Tag, jede Minute.

»Also schön«, flüsterte Dreibaum. »Du gehst am besten allein dort hinunter. Wenn ich mit meinen Jungs so, wie wir aussehen, von den Bäumen aus auf sie zurenne, erschrecken sie sich möglicherweise.«

Der Hundsmann grinste. »Und dann erschießen sie vielleicht einen von uns.«

»Und das wäre ja wirklich eine Schande«, zischte Dow, »nachdem wir so weit gekommen sind.«

»Ruf uns, wenn du sie drauf vorbereitet hast, dass ein Grüppchen Nordmänner aus dem Wald kommt, ja?«

»Mach ich«, sagte West. Er zog das schwere Schwert aus seinem Gürtel und reichte es Dreibaum. »Das bewahrst du besser für mich auf.«

»Viel Glück«, sagte der Hundsmann.

»Viel Glück«, sagte Dow, dessen Lippen sich zu einem wölfischen Grinsen verzogen. »Wildzorn.«

Langsam kam West nun unter den Bäumen hervor und ging den Abhang hinunter auf den Bach zu. Seine gestohlenen Stiefel knirschten auf dem Schnee, und er hielt die Hände über den Kopf, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Dennoch hätte er den Posten keinen Vorwurf gemacht, wenn sie ihn sofort erschossen hätten, denn inzwischen sah er, wie er sehr wohl wusste, durch und durch wie ein gefährlicher Wilder aus. Die letzten Fetzen seiner Uniform waren unter einer Schicht aus Pelzen und abgerissenen Tuchstreifen verborgen, die er sich mit Bindfaden um den Körper gewickelt hatte, und darüber trug er einen Mantel, den er einem toten Nordmann abgenommen hatte. Seit mehreren Wochen wucherte ein fusseliger Bart über sein schorfiges Gesicht, und seine vor Hunger und Erschöpfung eingesunkenen Augen waren gerötet und tränten ständig. Er sah aus wie ein Mann, der mit dem Rücken zur Wand steht, und er wusste, genau das war er auch. Ein Mörder. Der Mann, der Kronprinz Ladisla getötet hatte. Der schlimmste aller Verräter.

Einer der Wachposten sah auf und entdeckte ihn, erhob sich stolpernd und kippte die zischende Pfanne ins Feuer, als er seinen Speer aus dem Schnee riss. »Halt!«, schrie er in verwaschenem Nordisch. Die anderen sprangen ebenfalls auf und griffen nach ihren Waffen, und einer machte sich schon mit klammen Fingern an der Sehne seines Flachbogens zu schaffen.

West blieb stehen, Schneeflocken legten sich auf sein wirres Haar und auf seine Schultern. »Keine Sorge«, rief er in der Gemeinen Sprache zurück. »Ich bin auf Ihrer Seite!«

Sie starrten ihn einen Augenblick an. »Das werden wir ja sehen!«, schrie einer. »Komm rüber über den Bach, aber ganz langsam!«

Er ließ sich die Böschung hinunterfallen, sprang planschend ins Wasser und biss die Zähne zusammen, als ihn das eiskalte Wasser bis zu den Oberschenkeln umfing. Er kämpfte sich zum anderen Ufer, und die vier Wachen schlossen einen nervösen Halbkreis um ihn, die Waffen erhoben.

»Behalte ihn im Auge!«

»Es könnte eine Falle sein!«

»Es ist keine Falle«, sagte West langsam, während er die verschiedenen Klingen beobachtete und ruhig zu bleiben versuchte. Ruhe bewahren, das war jetzt lebenswichtig. »Ich bin einer von Ihnen.«

»Wo, zur Hölle, kommen Sie denn jetzt her?«

»Ich war bei der Division von Prinz Ladisla.«

»Bei Ladisla? Und dann sind Sie bis hierher zu Fuß gelaufen?«

West nickte. »Ich bin gelaufen.« Die Wachposten entspannten sich allmählich, die Speerspitzen schwankten ein wenig und richteten sich nach oben. Sie waren fast so weit, ihm zu glauben. Immerhin sprach er die Gemeine Sprache, als ob er damit aufgewachsen sei, und er sah in der Tat so aus, als ob er einen derartig langen Fußmarsch durch die Wildnis hinter sich hatte. »Wie heißen Sie denn?«, fragte der mit dem Flachbogen.

»Oberst West«, murmelte er mit brechender Stimme. Er fühlte sich wie ein Lügner, obwohl es ja stimmte. Nur war er inzwischen nicht mehr derselbe wie jener, der einst nach Angland aufgebrochen war.

Die Wachposten tauschten besorgte Blicke. »Ich dachte, der sei tot«, murmelte der mit dem Speer.

»Nicht ganz, mein Junge«, sagte West. »Nicht ganz.«

 

Lord Marschall Burr brütete über einem Tisch, der über und über mit zerknitterten Landkarten bedeckt war, als West die Zeltplane des Eingangs beiseitezog. Im Schein der Lampen hatte er den Eindruck, als ob die Belastungen des Oberbefehls über die Truppen noch mehr an Burr gezehrt hätten. Er sah älter aus, bleicher, schwächer, Haar und Bart waren zerzaust und ungekämmt. Auch hatte er abgenommen, und seine zerknitterte Uniform hing schlaff an ihm, aber er kam West sofort mit dem vertrauten Schwung entgegen.

»Oberst West, ist es denn die Möglichkeit! Ich hätte nie gehofft, Sie je wiederzusehen!« Er ergriff Wests Hand und drückte sie fest. »Ich bin so froh, dass Sie es geschafft haben. Verdammt froh! Ich habe Ihren kühlen Kopf hier wirklich vermisst, das sage ich Ihnen ganz offen.« Er sah West prüfend in die Augen. »Sie sehen erschöpft aus, alter Freund.«

Das war nicht zu leugnen. West hatte nie zu den hübschesten Burschen im Agriont gezählt, das war ihm selbst durchaus bewusst, aber er war doch stets stolz darauf gewesen, ein ehrliches, freundliches, angenehmes Gesicht zu haben. Allerdings hatte er sich kaum wiedererkannt, als er in den Spiegel sah, nach dem ersten Bad seit Wochen, in einer geliehenen Uniform und endlich wieder glatt rasiert. Alles sah verändert aus, härter, ausgeblichen. Die hervorstehenden Wangenknochen hatten scharfe Konturen bekommen, das schüttere Haar und die Brauen waren eisengrau, das Kinn ausgemergelt und wölfisch. Zornige Falten hatten sich tief in die Haut der bleichen Wangen eingegraben, über der schmalen Nasenwurzel, in den Augenwinkeln. Die Augen waren das Schlimmste. Zusammengekniffen. Hungrig. Eisgrau, als ob sich die bittere Kälte in seinen Schädel hineingefressen hätte und dort noch immer lauerte, selbst jetzt, da ihm wieder warm war. Er hatte versucht, an alte Zeiten zu denken, zu lächeln und zu lachen, all jene Ausdrücke zu benutzen, die er früher auch benutzt hatte, aber mit diesem wie aus Stein gemeißelten Gesicht wirkte das idiotisch. Ein harter Mann hatte ihm aus dem Glas entgegengeblickt und wollte nicht wieder gehen.

»Es war eine schwierige Reise, Herr Marschall.«

Burr nickte. »Ja, das kann ich mir denken. Eine höllisch schwere Reise, noch dazu zur falschen Jahreszeit. Es war schon ganz gut, dass ich Ihnen diese Nordmänner mitgegeben hatte, oder?«

»Das war wirklich gut, Herr Marschall. Sie sind in der Tat sehr mutig und wissen sich zu helfen. Sie haben mir das Leben gerettet, und das mehr als einmal.« Er warf einen Seitenblick auf Pike, der sich hinter ihm in respektvollem Abstand in den Schatten hielt. »Unser aller Leben.«

Burr folgte seinem Blick und betrachtete das zerschmolzene Gesicht des Sträflings. »Und wer ist das?«

»Das ist Pike, Herr Marschall, ein Korporal der Einberufenen aus Starikland, der in der Schlacht von seiner Kompanie abgeschlagen wurde.« Die Lügen flossen West mit überraschender Leichtigkeit aus dem Mund. »Er und eine Frau, ich glaube, die Tochter eines Kochs, der zum Tross gehörte, stießen auf unserem Weg nach Norden zu uns. Er hat uns sehr geholfen, Herr Marschall, und er ist ein findiger Mann, wenn es brenzlig wird. Ohne ihn hätten wir es nicht geschafft.«

»Hervorragend!«, sagte Burr, ging auf den Sträfling zu und drückte ihm die Hand. »Gut gemacht. Ihr Regiment wurde aufgerieben, Pike. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass kaum jemand überlebt hat. Höchstens eine verdammte Hand voll, aber hier kann ich verlässliche Leute immer gebrauchen. Vor allem solche, die sich in brenzligen Situationen als findig erwiesen haben.« Er seufzte schwer. »Davon habe ich hier viel zu wenige. Ich würde mich freuen, wenn Sie bereit wären, bei uns zu bleiben.«

Der Sträfling schluckte. »Natürlich, Herr Marschall, es wäre mir eine Ehre.«

»Was geschah mit Prinz Ladisla?«

West holte tief Luft und sah zu Boden. »Prinz Ladisla …« Er brach ab und schüttelte langsam den Kopf. »Wir wurden von Reitern überrascht, die das Hauptquartier überrannten. Es geschah alles so schnell … anschließend habe ich nach ihm gesucht, aber …«

»Ich verstehe. Tja. So ist es nun einmal. Er hätte nie das Kommando übernehmen dürfen, aber was konnte ich tun? Und das, obwohl ich eigentlich die Verantwortung für diese ganze verdammte Armee am Hals habe!« Er legte West väterlich die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich weiß, dass Sie alles getan haben, was in Ihrer Macht stand.«

West sah nicht auf. Er fragte sich, was Burr wohl gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, was wirklich geschehen war, draußen in der Wildnis. »Gab es Überlebende?«

»Nur sehr wenige. Und die wenigen sind in wirklich elendigem Zustand.« Burr rülpste, zog eine Grimasse und rieb sich den Bauch. »Entschuldigen Sie. Diese verdammte Magengeschichte geht einfach nicht weg. Dann noch das Essen hier und so … ups.« Er rülpste wieder.

»Aber sagen Sie, Herr Marschall, wie ist denn nun unsere Lage?«

»Sie kommen immer gleich zur Sache, was, West? Das hat mir immer an Ihnen gefallen. Immer gleich zur Sache. Nun, ich will ehrlich sein. Als ich Ihren Brief erhielt, wollten wir zunächst nach Süden ziehen, um Ostenhorm zu schützen, aber das Wetter war scheußlich, und wir sind bisher kaum vorangekommen. Die Nordmänner scheinen überall zu sein! Bethod mag die Hälfte seiner Truppen an den Ufern des Cumnur aufgestellt haben, aber er hat genügend Männer zurückgelassen, um uns hier große Schwierigkeiten zu machen. Unsere Versorgungszüge wurden dauernd überfallen, es gab mehr als ein sinnloses und blutiges Scharmützel und außerdem eine chaotische nächtliche Aktion, bei der Kroys Division beinahe in Panik geraten ist.«

Poulder und Kroy. Unangenehme Erinnerungen drängten in Wests Gedächtnis zurück, und im Vergleich dazu wirkten die Strapazen der Reise nach Norden, die lediglich körperlich gewesen waren, plötzlich direkt verlockend. »Wie läuft es mit den Generälen?«

Burr sah unter seinen buschigen Augenbrauen auf. »Würden Sie mir glauben, wenn ich sagte, schlimmer als je zuvor? Man kann die beiden kaum in denselben Raum beordern, ohne dass sie anfangen, übereinander herzufallen. Ich musste die Besprechungen mit beiden auf verschiedene Tage legen, damit es in meinem Hauptquartier nicht zu einem Handgemenge kam. Das sind doch lächerliche Verhältnisse!« Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging grimmig im Zelt auf und ab. »Aber der Schaden, den sie mit ihrem Verhalten anrichten, verblasst neben den Schäden durch die verdammte Kälte. Viele Männer leiden an Frostbeulen, an Fieber, an Skorbut, und die Krankenlager quellen über. Auf jeden, der durch den Feind getötet wird, kommen zwanzig, die der Winter umbringt, und die Männer, die noch auf ihren Füßen stehen, haben kaum noch Mumm zum Kämpfen. Und was die Erkundung des Geländes angeht, ach, fragen Sie gar nicht erst!« Er schlug zornig auf die über den Tisch ausgebreiteten Karten. »Die Karten der Gegend hier wurden offenbar rein nach Phantasie gezeichnet! Die taugen gar nichts, und wir haben kaum erfahrene Kundschafter. Jeden Tag herrscht dieser Nebel, es schneit, und wir können nicht mal von einer Seite des Lagers zur anderen sehen. Ehrlich gesagt, West, wir haben im Augenblick nicht die geringste Ahnung, wo sich der größte Teil von Bethods Truppe befindet …«

»Er ist im Süden, Herr Marschall, vielleicht zwei Tagesmärsche von uns entfernt.«

Burrs Brauen schossen nach oben. »Tatsächlich?«

»Ja. Dreibaum und seine Nordmänner haben sie genau beobachtet, während wir hierherkamen, und haben zudem für seine Kundschafter einige unschöne Überraschungen vorbereitet.«

»Wie jene, mit der sie uns damals erwischt haben, was, West? Ein Seil über der Straße und so?« Er lachte in sich hinein. »Zwei Tagesmärsche hinter uns, sagen Sie? Das ist eine sehr nützliche Information. Verdammt nützlich!« Burr verzog das Gesicht und presste eine Hand auf seinen Leib, während er zum Tisch zurückging, ein Lineal zur Hand nahm und Entfernungen ausmaß. »Zwei Tagesmärsche. Dann wäre er ungefähr hier irgendwo. Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher, Herr Marschall.«

»Wenn er auf Dunbrec zuhält, wird er nahe an der Stellung von General Poulder vorüberkommen. Vielleicht könnten wir ihn sogar schon in eine Schlacht verwickeln, bevor er zu uns aufrückt, vielleicht könnten wir sogar ihm eine Überraschung bereiten, die er nicht so schnell vergessen wird. Gut gemacht, West, gut gemacht!« Er warf das Lineal hin. »Jetzt sollten Sie sich ein wenig ausruhen.«

»Ich würde lieber wieder an die Arbeit gehen, Herr Marschall …«

»Ich weiß, und ich könnte Sie auch gut gebrauchen, aber gönnen Sie sich einen oder zwei Tage, davon wird die Welt nicht untergehen. Sie haben genug Schlimmes mitgemacht.«

West schluckte. Tatsächlich fühlte er sich mit einem Mal fürchterlich müde. »Natürlich. Ich sollte einen Brief schreiben … an meine Schwester.« Es war ein komisches Gefühl, das zu sagen. Er hatte seit Wochen nicht mehr an sie gedacht. »Ich sollte sie wissen lassen, dass ich … noch lebe.«

»Gute Idee. Ich werde Sie rufen lassen, Herr Oberst, wenn ich Sie brauche.« Damit beugte Burr sich wieder über seine Karten.

»Das werde ich Ihnen nicht vergessen«, raunte Pike West zu, als er die Zelttür zurückklappte und wieder in die Kälte trat.

»Nicht der Rede wert. Man wird Sie beide in dem Lager nicht vermissen. Jetzt sind Sie einfach wieder Korporal Pike. Sie können Ihre Fehler hinter sich lassen.«

»Das werde ich Ihnen nicht vergessen. Jetzt bin ich Ihr Mann, Herr Oberst, was immer auch geschieht. Ich bin Ihr Mann!« West nickte, als er sich mit düsterer Miene einen Weg durch den Schnee bahnte. Der Krieg tötete viele Männer, das stimmte. Aber einigen gab er auch die Möglichkeit für einen Neuanfang.

 

Auf der Schwelle hielt West inne. Von drinnen hörte er Stimmen, Gelächter. Alte, vertraute Stimmen. Sie hätten ihm ein sicheres, warmes, willkommenes Gefühl geben sollen, aber das taten sie nicht. Sie machten ihn nervös. Sie ängstigten ihn sogar. Die drinnen, die würden es ganz sicher bemerken. Sie würden auf ihn zeigen und rufen: »Mörder! Verräter! Schurke!« Er wandte das Gesicht wieder der Kälte entgegen. Sanft legte sich frischer Schnee über das Lager. Die Zelte, die am nächsten standen, hoben sich schwarz vom weißen Boden ab, die dahinter grau. Jene, die noch weiter weg standen, bildeten nur noch unscharfe Schatten, und dann waren nur noch düstere Andeutungen durch das Schneetreiben zu erkennen. Nichts bewegte sich. Alles war still. Er holte tief Luft und schob die herabhängende Zelttür beiseite.

Die drei Offiziere saßen um einen wackligen Klapptisch, der nahe an einen glühenden Ofen geschoben worden war. Jalenhorms Bart hatte die Ausmaße einer Schaufel angenommen. Kaspa hatte sich einen roten Schal um den Kopf gewickelt. Brint war in einen dunklen Mantel gehüllt und verteilte Karten an die anderen beiden.

»Machen Sie die verdammte Tür wieder zu, es ist draußen arschk…« Jalenhorm klappte die Kinnlade herunter. »Nein! Das ist doch nicht möglich! Oberst West!«

Brint sprang auf, als ob ihn etwas in den Hintern gebissen hätte. »Ach du Scheiße!«

»Ich hab’s immer gesagt!«, rief Kaspa, warf sein Blatt auf den Tisch und grinste wie ein Irrer. »Ich habe immer gesagt, der kommt wieder!«

Sie umringten ihn, klopften ihm auf den Rücken, drückten ihm die Hand, zogen ihn ins Zelt. Keine Handfesseln, keine gezogenen Schwerter, keine Anklage wegen Verrats. Jalenhorm führte ihn zum besten Stuhl, also jenem, der am wenigsten zusammenzubrechen drohte, Kaspa hauchte in ein Glas und wischte es mit dem Finger sauber, während Brint mit sanftem Plopp den Korken aus einer Flasche zog.

»Wann sind Sie hier angekommen?«

»Wie haben Sie es bis hierher geschafft?«

»Waren Sie bei Ladisla?«

»Waren Sie in der Schlacht?«

»Warten Sie doch«, sagte Jalenhorm, »lassen Sie ihm Zeit.«

West winkte ihn zurück. »Ich bin heute Morgen hier angekommen, und ich hätte Sie auch sofort aufgesucht, aber ich hatte zunächst eine wichtige Verabredung mit einer Badewanne und einem Rasiermesser, danach mit Marschall Burr. Ja, ich war bei Ladisla, in der Schlacht, und ich bin quer durch die Wildnis hierhergelangt, mit Hilfe von fünf Nordmännern, einer jungen Frau und einem Mann ohne Gesicht.« Er nahm das Glas und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter, verzog das Gesicht und saugte an seinen Zähnen, während die hochprozentige Flüssigkeit in seinen Magen glitt. Jetzt begann er sich tatsächlich darüber zu freuen, dass er beschlossen hatte, zu seinen alten Kameraden zu gehen. »Nur nicht so schüchtern«, sagte er und hielt sein leeres Glas hin.

»Ein Marsch quer durch die Wildnis«, hauchte Brint und schüttelte den Kopf, während er wieder einschenkte, »mit fünf Nordmännern. Und einer jungen Frau, sagen Sie?«

»So ist es.« West runzelte die Stirn und fragte sich, was Cathil wohl gerade tat. Ob sie wohl Hilfe brauchte … Unsinn, sie konnte auf sich selbst aufpassen. »Sie haben es also geschafft, meinen Brief zu überbringen, Herr Leutnant?«, wandte er sich nun an Jalenhorm.

»Ich hatte ein paar kalte und anspannungsreiche Nächte unterwegs«, grinste der massige Mann, »aber ich habe es geschafft.«

»Allerdings heißt es inzwischen Herr Hauptmann«, sagte Kaspa und lehnte sich ein wenig zurück.

»Tatsächlich?«

Jalenhorm zuckte bescheiden die Achseln. »Das verdanke ich im Grunde Ihnen. Der Lord Marschall berief mich in seinen Stab, als ich zurückkehrte.«

»Obwohl Hauptmann Jalenhorm trotzdem noch die Zeit findet, sich mit so einfachen Leuten abzugeben, wie wir es sind.« Brint fuhr sich mit der Zunge über die Fingerspitzen und gab jetzt die Karten für vier Spieler.

»Ich habe leider keinen Einsatz für ein Spiel«, murmelte West.

Kaspa grinste. »Keine Sorge, Herr Oberst, wir spielen nicht mehr um Geld. Ohne Luthar, der uns alle an den Bettelstab bringt, schien sich das irgendwie nicht zu lohnen.«

»Er ist dann also nicht mehr aufgetaucht?«

»Es kam ein Bote und holte ihn vom Schiff. Hoff hatte wohl nach ihm geschickt. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.«

»Der hat Freunde in den höchsten Kreisen«, sagte Brint bitter. »Wahrscheinlich kümmert er sich in Adua um irgendwelche Kleinigkeiten und hat freie Bahn bei den Frauen, während wir uns hier den Arsch abfrieren.«

»Aber wir wollen mal ehrlich sein«, warf Jalenhorm ein, »er hatte auch schon freie Bahn bei den Frauen, als wir alle noch da waren.«

West blickte grimmig drein. Das entsprach unglücklicherweise der Wahrheit.

Kaspa nahm sein Blatt auf. »Deswegen spielen wir jedenfalls nur um die Ehre.«

»Obwohl Sie hier davon auch nicht allzu viel finden werden«, grinste Brint. Die anderen beiden brachen in Gelächter aus, Kaspa sabberte Schnaps in seinen Bart. West hob die Augenbrauen. Sie waren offenbar betrunken, und je schneller er selbst in denselben Zustand gelangte, desto besser. Er stürzte das nächste Glas hinunter und griff nach der Flasche.

»Tja, eins kann ich Ihnen versichern«, sagte Jalenhorm, der ungeschickt seine Karten sortierte, »ich bin ja so was von froh, dass ich Ihrer Schwester nichts von Ihnen ausrichten muss. Die letzten Wochen habe ich kaum geschlafen, weil ich immer dran denken musste, wie ich das hätte anstellen sollen, und noch immer war mir nichts Schlaues dazu eingefallen.«

»Ihnen ist noch nie irgendetwas Schlaues eingefallen«, sagte Brint, und die anderen beiden prusteten wieder los. Selbst West gelang es zu lächeln, aber nicht für lange.

»Wie war die Schlacht?«, fragte Jalenhorm.

West blickte lange auf sein Glas. »Es war schlimm. Die Nordmänner hatten Ladisla eine Falle gestellt, und er ist prompt hineingetappt und hat die gesamte Kavallerie geopfert. Dann stieg ganz plötzlich dieser Nebel auf, und man konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. Ihre Reiterei kam über uns, bevor wir wussten, wie uns geschah. Ich kriegte wohl einen Schlag gegen den Kopf. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Dreck, und ein Nordmann beugte sich zu mir hinunter – mit dem hier.« Er zog das schwere Schwert aus seinem Gürtel und legte es auf den Tisch.

Die drei Offiziere starrten die Waffe gebannt an. »Verdammt noch eins«, murmelte Kaspa.

Brint machte große Augen. »Wie haben Sie ihn überwältigt?«

»Gar nicht. Diese Frau, von denen ich Ihnen erzählt habe …«

»Ja?«

»Sie hat ihm mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen. Hat mir das Leben gerettet.«

»Puh.« Brint sank gegen die Stuhllehne. »Das scheint ja eine ungewöhnliche Frau zu sein!«

West sah nachdenklich auf das Glas in seiner Hand. »Das kann man wohl sagen.« Er erinnerte sich an das Gefühl, wie Cathil neben ihm geschlafen und ihr Atem seine Wange gestreift hatte. Eine ungewöhnliche Frau. »Das kann man wohl sagen.« Er leerte sein Glas und stand auf, steckte das Schwert des Nordmanns wieder in den Gürtel.

»Gehen Sie schon?«, fragte Brint.

»Da gibt es noch etwas, um das ich mich kümmern muss.«

Jalenhorm stand ebenfalls auf. »Ich muss Ihnen danken, Herr Oberst. Dafür, dass Sie mich mit der Nachricht hierhergeschickt haben. So, wie sich’s anhört, hatten Sie ganz recht. Es gab nichts, was ich hätte tun können.«

»Nein.« West holte tief Luft und atmete wieder aus. »Niemand hätte irgendetwas tun können.«

 

Die Nacht war ruhig und klar, und Wests Stiefel rutschten und schmatzten auf dem halb gefrorenen Boden. Hier und da brannten Feuer, und in der Dunkelheit hatten sich Männer um sie geschart, den Atem dampfend vor den Mündern, die verkniffenen Gesichter gelb flackernd erhellt. Ein Feuer brannte heller als die anderen, an einem Abhang oberhalb des Lagers, und West hielt nun darauf zu, mit vom Alkohol leicht schwankendem Schritt. Er sah zwei dunkle Gestalten daran sitzen, die langsam deutlicher zu erkennen waren, als er näher kam.

Der Schwarze Dow gönnte sich eine Pfeife, und der Tschagga-Rauch ringelte sich vor seinem wilden Grinsen in die Luft. Er hatte eine offene Flasche zwischen die gekreuzten Beine geklemmt, und einige weitere lagen im Schnee in seiner Nähe verstreut. West hörte, dass jemand auf Nordisch sang. Eine laute, tiefe Stimme, die nur sehr schlecht die Töne hielt. »Er traf ihn bis ins Maaaaaaark. Nein. Bis ins Maaaark. Bis ins … warte mal.«

»Alles klar?«, fragte West und hielt seine behandschuhten Finger näher an die knisternden Flammen.

Dreibaum grinste glücklich zu ihm empor und schwankte leicht vor und zurück. West fragte sich, ob es das erste Mal war, dass er den alten Krieger hatte lachen sehen, der nun mit dem Daumen den Hügel hinunterzeigte. »Tul ist mal pinkeln. Und singt. Ich bin besoffen wie ein Schwein.« Er sackte langsam nach hinten und fiel knirschend in den Schnee, Arme und Beine weit von sich gestreckt. »Und ich hab auch was geraucht. Ich bin klitschnass. Ich bin so nass wie die Scheiß-Crinna. Wo sind wir, Dow?«

Dow sah mit zusammengekniffenen Augen und weit offenem Mund über das Feuer hinweg, als ob er in der Ferne etwas suchte. »Irgendwo am verdammten Arsch der Welt«, sagte er und wedelte mit der Pfeife herum. Dann fing er an, gackernd zu lachen, schnappte sich Dreibaums Stiefel und schüttelte ihn. »Wo denn sonst? Willst du auch was, Wildzorn?« Er warf West die Pfeife zu.

»Gerne.« West saugte den Rauch ein und fühlte, wie er in der Lunge biss. Er hustete braunen Rauch in die frostige Luft und nahm einen weiteren Zug.

»Gib mir mal«, sagte Dreibaum, der sich wieder aufrichtete und ihm die Pfeife aus der Hand nahm.

Tuls tiefe Stimme schwoll in der Dunkelheit an, immer noch furchtbar schräg. »Er schwang die Axt wie … wie heißt das? Er schwang die Axt wie … Scheiße. Nein. Warte mal.«

»Wisst ihr, wo Cathil steckt?«, fragte West.

Dow grinste ihn anzüglich an. »Och, die ist hier auch irgendwo.« Er bewegte die Hand in Richtung einiger Zelte, die etwas höher am Abhang standen. »Irgendwo da oben, glaub ich.«

»Irgendwo«, wiederholte Dreibaum und kicherte leise, »irgendwo da oben.«

»Er war … der blutige … Neeeeeuner!«, kam es gurgelnd aus dem Wald.

West folgte den Fußspuren den Berg hinauf zu den Zelten. Die Pfeife machte sich bereits bei ihm bemerkbar. Sein Kopf fühlte sich ganz leicht an, und seine Füße schwebten dahin. Seine Nase kam ihm nicht mehr kalt vor, sondern prickelte nur noch angenehm. Er hörte eine Frauenstimme sanft lachen. Er grinste und näherte sich den Zelten mit weiteren knirschenden Schritten. Warmes Licht drang durch eine schmale Lücke in den Planen des vordersten heraus. Das Gelächter wurde lauter.

»Uh … uh … uh …«

West runzelte die Stirn. Das klang gar nicht wie Lachen. Er kam näher, so leise er konnte. Ein anderes Geräusch drängte sich in seine verwirrten Gedanken. Ein sporadisches Knurren, wie von einem Tier. Er kam noch näher, beugte sich hinunter, um durch die Lücke zu spähen, und wagte dabei kaum zu atmen.

»Uh … uh … uh …«

Er sah den nackten Rücken einer Frau, der sich auf und nieder bewegte. Einen schmalen Rücken, und er sah, wie sich die Sehnen und die Erhebungen ihrer Wirbelsäule unter der Haut bewegten. Als er sich noch weiter vorbeugte, sah er auch ihr Haar, schmutzig braun und wirr. Cathil. Ein Paar sehniger Beine ragte unter ihr zu West hinüber, beinahe nahe genug, dass er sie hätte berühren können. Die breiten Zehen zuckten.

»Uh … uh … uh …«

Eine Hand glitt unter ihrer Achselhöhle durch, eine andere hinter ihrem Knie. Es gab ein lautes Stöhnen, und die Liebenden, wenn man sie denn so nennen wollte, tauschten geschmeidig die Plätze, sodass sie nun unten lag. West klappte der Mund auf. Jetzt konnte er seitlich den Kopf des Mannes sehen, und er starrte ihn an. Das kantige, stopplige Kinn war unverkennbar. Der Hundsmann. Sein Hintern streckte sich West entgegen und schob sich vor und zurück. Cathils Hand krallte sich um eine haarige Hinterbacke, und ihre Finger zogen sich im Gleichklang mit den Bewegungen zusammen.

»Uh … uh … uh!«

West hielt sich die Hand vor den Mund, während ihm die Augen aus den Höhlen traten, halb entsetzt, halb seltsam erregt. Er war hoffnungslos hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, zuzusehen oder aber davonzulaufen, und er entschied sich ohne nachzudenken für Letzteres. Hastig machte er einen Schritt zurück, verfing sich mit der Hacke in einer Zeltleine und fiel mit unterdrücktem Schrei der Länge nach hin.

»Was, zur Hölle …?«, hörte er aus dem Zelt. Schnell richtete er sich wieder auf und wandte sich ab, dann begann er in der Dunkelheit durch den Schnee zu stolpern, als er hörte, wie der Zeltstoff zurückgeschlagen wurde. »Wer von euch Arschlöchern ist das?«, bellte die Stimme des Hundsmanns auf Nordisch. »Bist du das, Dow? Ich bring dich verdammt noch mal um!«