ANGST

Es war ein langer Weg bis zum Rand der Welt, daran war kein Zweifel mehr. Ein langer, einsamer, angespannter Weg. Der Anblick der Toten auf der Ebene hatte sie alle nervös gemacht. Die Gruppe von Reitern, die an ihnen vorbeigezogen war, hatte dieses Gefühl noch verstärkt. Die Unbequemlichkeiten dieser Reise hatten zudem auch nicht abgenommen. Jezal hatte immer noch ständig Hunger, die meiste Zeit fror er oder war völlig durchnässt, und vermutlich würde er für den Rest seines Lebens wund geritten sein. Jede Nacht streckte er sich auf dem harten und unebenen Boden aus, döste ein und träumte von zu Hause, nur um am Morgen noch müder und zerschlagener aufzuwachen, als er es beim Einschlafen gewesen war. Seine Haut juckte, schälte sich und brannte, weil er es nicht gewöhnt war, sich nicht zu waschen, und er musste zugeben, dass er inzwischen beinahe ebenso übel roch wie die anderen. All das reichte schon, um einen zivilisierten Menschen verrückt zu machen, und nun kam auch noch das nagende Gefühl ständig drohender Gefahr hinzu.

Gerade in dieser Hinsicht war das Gelände nicht gerade auf Jezals Seite. In der Hoffnung, etwaige Verfolger abzuschütteln, hatte Bayaz sie vor ein paar Tagen wieder vom Fluss weggeführt. Die alte Straße wand sich nun durch tiefe Einschnitte in der Ebene, durch steinige Rinnen, schattenumlagerte Schluchten und an plätschernden Bächen in tiefen Tälern entlang. Inzwischen sehnte Jezal sich beinahe wieder nach der endlosen, ermüdenden Weite. Dort hatte man zumindest nicht jeden Stein oder Busch oder Abhang angesehen und sich gefragt, ob sich dahinter vielleicht eine Horde blutrünstiger Feinde verbarg. Bei jedem Geräusch biss er sich auf die Zunge und fuhr im Sattel herum, griff nach seinen Eisen und erwartete einen mordlustigen Räuber zu sehen, der sich dann als Vogel in einem Gebüsch entpuppte. Er hatte natürlich keine Angst, denn Jezal dan Luthar, so sagte er sich selbst immer wieder, lachte der Angst geradewegs ins Gesicht. Einem Hinterhalt, einem Kampf oder auch einer atemlosen Verfolgungsjagd über die Ebene – all diesen Dingen wäre er zweifelsohne gewachsen gewesen, glaubte er. Aber diese endlose Warterei, diese geisttötende Anspannung, dieses gnadenlose Verstreichen langsamer Minuten war beinahe mehr, als er ertragen konnte. Es hätte ihm vielleicht geholfen, wenn er seine Besorgnis mit irgendjemandem hätte teilen können, aber die Gesellschaft, in der er sich befand, war schließlich nach wie vor dieselbe. Quai saß grimmig und schweigend auf dem Bock und lenkte den rumpelnden Karren weiter über die unebene alte Straße. Bayaz sprach nicht, von gelegentlichen Vorträgen über die Eigenschaften großer Anführer einmal abgesehen – Eigenschaften, die ihm selbst deutlich allesamt abgingen. Langfuß war ihnen vorausgeeilt, um den Weg zu erkunden, und ließ sich nur einmal am Tag oder auch nur alle zwei Tage einmal sehen, um ihnen zu erzählen, mit welch ungeheurem Geschick er vorging. Ferro bedachte alles um sie herum mit bösen Blicken, als sei die ganze Umgebung ihr persönlicher Feind – Jezal, wie es manchmal schien, ganz besonders. Sie hielt ihre Hände stets nah bei ihren Waffen und redete kaum, allenfalls mit Neunfinger. Dem knurrte sie gelegentlich kurz angebunden entgegen, dass sie Hinterhalte zu befürchten hatten und ihre Spuren besser verwischen mussten, weil ihnen schließlich jemand folgen konnte.

Der Nordmann selbst war Jezal irgendwie ein Rätsel. Als er ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, wie er mit offenem Mund am Tor des Agrionts alles um sich herum angeglotzt hatte, hatte er geradezu wie ein Tier gewirkt. Hier draußen in der Wildnis herrschten jedoch andere Regeln. Man konnte jemanden, den man nicht mochte, nicht einfach stehen lassen und ihn dann zu meiden suchen, während man ihn in der Gesellschaft von Freunden lächerlich machte oder ihn hinter seinem Rücken beleidigte. Hier musste man mit den Gefährten, die man nun einmal hatte, auskommen, und seit er das versuchte, war Jezal langsam zu der Einsicht gekommen, dass Neunfinger ein ganz normaler Mensch war. Ein dummer und brutaler und fürchterlich hässlicher zwar, das stand fest. Was Geist und Kultur betraf, stand er noch ein Stück unter dem niedrigsten Bauern der Union. Aber Jezal musste zugeben, dass er von der ganzen Gruppe, mit der er gesegnet war, den Nordmann inzwischen am wenigsten verabscheute. Er war nicht so aufgeblasen wie Bayaz, nicht so eigentümlich wachsam wie Quai, nicht so angeberisch wie Langfuß und auch nicht so gemeingefährlich wie Ferro. Jezal hätte sich nicht geziert, einen Bauern nach seinen Ansichten über die Kornernte zu befragen oder einen Schmied zu bitten, ihm etwas über die Herstellung einer Rüstung zu erzählen, auch wenn diese Menschen dreckig, hässlich und von niederer Geburt waren. Wieso also sollte er nicht einen ausgebufften Totschläger nach seinen Erfahrungen mit Gewalttaten fragen?

»Wenn ich recht weiß, habt Ihr bereits Männer in die Schlacht geführt«, versuchte es Jezal also.

Der Nordmann wandte ihm seine dunklen, langsamen Augen zu. »Mehr als einmal.«

»Und Duelle ausgefochten.«

»Joh.« Neunfinger kratzte sich an den gezackten Narben auf seiner stoppligen Wange. »Die hier hab ich mir ja nicht beim Rasieren zugefügt, weil ich eine so unruhige Hand habe.«

»Wenn das der Fall wäre, würdet Ihr Euch wahrscheinlich auch dafür entschieden haben, Euch einen Bart stehen zu lassen.«

Neunfinger lachte leise. Jezal hatte sich daran inzwischen schon gewöhnt. Es wirkte immer noch abstoßend, erinnerte ihn aber jetzt eher an einen gutmütigen Affen als an einen durchgedrehten Mörder. »Das hätte ich vielleicht.«

Jezal dachte einen Augenblick nach. Er wollte nicht schwach erscheinen, aber möglicherweise konnte er durch Ehrlichkeit am ehesten das Vertrauen eines schlichten Gemüts gewinnen. Was sich bei Hunden bewährt hatte, funktionierte vielleicht auch bei Nordmännern. »Ich selbst«, begann er also, »habe noch nie in einer echten Schlacht gekämpft.«

»Ach, tatsächlich?«

»Nein, wirklich nicht. Meine Freunde sind alle in Angland und kämpfen gegen Bethod und seine Wilden.« Neunfingers Augen glitten zur Seite. »Ich meine … ich wollte sagen … sie kämpfen gegen Bethod. Ich wäre ja bei ihnen, wenn Bayaz mich nicht gebeten hätte, auf diese … Abenteuerfahrt mitzukommen.«

»Da haben wir ja Glück gehabt.«

Jezal warf ihm einen scharfen Blick zu. Bei einem klügeren Gesprächspartner hätte man fast Sarkasmus vermuten können. »Es war ja nun einmal Bethod, der diesen Krieg begonnen hat – ein höchst ehrloser Überfall, dem keinerlei Provokation seitens der Union vorausging.«

»In diesem Punkt werde ich Euch sicher nicht widersprechen. Bethod hat ein besonderes Talent dafür, Kriege anzufangen. Es gibt nur noch eines, was er besser kann, und zwar, Kriege zu beenden.«

Jezal lachte. »Ihr glaubt doch nicht etwa, er könnte die Union besiegen?«

»Er hat schon Kriege gewonnen, bei denen es zu Beginn für ihn noch schlechter aussah, aber Ihr wisst sicherlich besser Bescheid. Schließlich haben wir alle nicht Eure Erfahrung.«

Das Lachen blieb Jezal im Hals stecken. Er war beinahe sicher, dass diese Bemerkung ironisch gemeint gewesen war, und das ließ ihn einen Augenblick nachdenken. Sah Neunfinger ihn jetzt an und dachte hinter dieser vernarbten, schwerfälligen, kampferprobten Maske: Was für ein Narr? Hatte Bayaz vielleicht recht gehabt, als er gemeint hatte, dass man von diesem Nordmann tatsächlich etwas lernen konnte? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

»Wie ist denn eine Schlacht eigentlich so?«, erkundigte er sich.

»Schlachten sind wie Menschen. Nicht eine gleicht der anderen.«

»Wie meint Ihr das?«

»Stellt Euch vor, Ihr wacht nachts auf und hört lautes Getöse und Gebrüll, stolpert aus dem Zelt in den Schnee, während Euch die Hosen runterrutschen, und Ihr seht lauter Männer, die sich gegenseitig totschlagen. Das einzige Licht ist der Mond, Ihr könnt kaum etwas erkennen und wisst nicht, wer Freund und wer Feind ist, und Ihr habt keine Waffe zur Hand.«

»Das ist sicher sehr verwirrend«, sagte Jezal.

»Ganz bestimmt. Oder stellt Euch vor, Ihr kraucht auf dem Boden zwischen lauter trampelnden Stiefeln herum, versucht abzuhauen, wisst aber nicht, wohin, mit einem Pfeil im Rücken und einem Schwertstreich quer über den Hintern, und Ihr quiekt wie ein abgestochenes Schwein und erwartet jeden Augenblick, von einem Speer durchbohrt zu werden, den Ihr nicht einmal kommen sehen werdet.«

»Das ist sicher sehr schmerzhaft.«

»Und wie. Oder stellt Euch vor, Ihr steht in einem Kreis von nicht einmal zehn Schritt im Durchmesser, umgeben von lauter Schilden, hinter denen Männer stehen, die aus Leibeskräften brüllen. Und es ist noch ein anderer Mann in diesem Kreis, ein Mann, der in dem Ruf steht, der härteste Drecksack im ganzen Norden zu sein, und man weiß, dass nur einer überleben kann.«

»Hmmm«, machte Jezal.

»Ganz genau. Gefällt Euch eine dieser Vorstellungen?« Das taten sie nicht, und Neunfinger lächelte. »Hätte ich auch nicht erwartet, und soll ich ehrlich sein? Mir auch nicht. Ich habe alle möglichen Schlachten, Scharmützel und Kämpfe erlebt. Die meisten begannen in völligem Durcheinander, sie alle endeten auch so, und es gab keine Auseinandersetzung, bei der ich mir nicht irgendwann einmal beinahe in die Hosen gemacht hätte.«

»Ihr?«

Der Nordmann lachte wieder leise. »Nur ein Narr prahlt mit seiner Furchtlosigkeit, wenn Ihr mich fragt. Die einzigen Männer ohne Angst sind die Toten, oder vielleicht auch jene, die es bald sein werden. Furcht lehrt Euch die Vorsicht, den Respekt vor Eurem Feind, und wie man scharfen Gegenständen, die im Zorn geschwungen werden, aus dem Weg geht. Das alles ist zur rechten Zeit sehr förderlich, das könnt Ihr mir glauben. Furcht kann Euch überleben lassen, und das ist das Beste, was man sich bei jedem Kampf erhoffen kann. Jeder Mann, der etwas taugt, fühlt Angst. Es kommt darauf an, wie man sie einsetzt.«

»Man sollte also Angst haben? Ist das Euer Rat?«

»Mein Rat wäre: Sucht Euch eine gute Frau und haltet Euch möglichst fern von diesem blutigen Geschäft. Es ist ein Jammer, dass mir das vor zwanzig Jahren niemand gesagt hat.« Er sah Jezal von der Seite an. »Aber wenn man, sagen wir mal, auf einer weiten, großen Ebene mitten im großen Nichts in einen Kampf gerät, der sich nicht vermeiden lässt, dann versuche ich, drei Regeln zu folgen. Erstens: Tut Euer Bestes, wie ein Feigling, ein Schwächling und ein Narr zu wirken. Schweigen ist die beste Rüstung eines Kriegers, heißt es. Ein hartes Äußeres und schlagkräftige Worte haben noch nie eine Schlacht gewonnen, aber einige verloren.«

»Wie ein Narr aussehen, wie? Ich verstehe.« Jezal hatte sein ganzes Leben darauf aufgebaut, immer wie der Schlauste, Stärkste und Edelste daherzukommen. Es war eine faszinierende Idee, dass ein Mann versuchen könnte, geringer zu erscheinen, als er eigentlich war.

»Zweitens: Betrachtet niemanden als einen leichten Gegner, ganz gleich, wie ungeschlacht er wirken mag. Behandelt jeden Mann, als sei er zweimal so klug, so stark und so schnell wie Ihr, und dann werdet Ihr möglicherweise angenehm überrascht. Respekt kostet nichts, und nichts bringt einen Mann schneller um als Selbstbewusstsein.«

»Niemals einen Feind unterschätzen. Eine kluge Vorsichtsmaßnahme.« Jezal begann zu begreifen, dass er diesen Nordmann unterschätzt hatte. Er war nicht halb so dämlich, wie er aussah.

»Drittens: Beobachtet Euren Gegner so genau, wie Ihr könnt, und hört auf die Meinung anderer, aber wenn Ihr einmal einen Plan gefasst habt, dann haltet an ihm fest und lasst Euch durch nichts davon abbringen. Wenn die Zeit kommt, um zuzuschlagen, dann solltet Ihr das tun, ohne zurückzublicken. Verzögerung ist aller Katastrophen Anfang, pflegte mein Vater immer zu sagen, und glaubt mir, ich habe ein paar Katastrophen miterlebt.«

»Nicht zurückblicken«, murmelte Jezal und nickte langsam. »Natürlich.«

Neunfinger blies die vernarbten Backen auf. »Es ist kein Ersatz dafür, so etwas wirklich einmal gesehen und miterlebt zu haben, aber wenn Ihr Euch daran halten könnt, dann habt Ihr den Sieg schon zur Hälfte in der Tasche.«

»Zur Hälfte? Und was braucht man für die andere Hälfte?«

Der Nordmann zuckte die Achseln. »Glück.«

 

»Mir gefällt das nicht«, knurrte Ferro und bedachte die steilen Wände der Schlucht mit einem finsteren Blick. Jezal fragte sich, ob es überhaupt etwas gab, das ihr gefiel.

»Glaubst du, wir werden verfolgt?«, fragte Bayaz. »Hast du jemanden gesehen?«

»Wie könnte ich das wohl von hier unten? Das ist es ja gerade!«

»Dieses Gelände ist ideal für einen Hinterhalt«, brummte auch Neunfinger. Jezal sah sich nervös um. Felsbrocken, Büsche, niedrige Bäumchen, überall gab es zahllose Verstecke.

»Nun, dies ist der Weg, den Langfuß uns vorgegeben hat«, grollte Bayaz, »und es hat ja keinen Sinn, jemanden zum Saubermachen anzustellen und dann die Latrinen selbst zu putzen. Wo zur Hölle ist der verdammte Wegkundige überhaupt? Nie ist er da, wenn man ihn braucht, er erscheint nur zum Essen und prahlt dann stundenlang von seinen Taten! Wenn ihr wüsstet, was mich dieser Dreckskerl kostet …«

»Verdammt.« Neunfinger zügelte sein Pferd und stieg steif aus dem Sattel. Ein umgestürzter Baum, das Holz grau und gesprungen, lag quer über der Schlucht und versperrte die Straße.

»Das gefällt mir nicht.« Ferro ließ ihren Bogen von der Schulter gleiten.

»Mir auch nicht«, knurrte Neunfinger und ging einen Schritt auf den Baumstamm zu. »Aber man muss real …«

»Keinen Schritt weiter!« Die Stimme hallte frech und selbstbewusst durch das Tal. Quai zog die Zügel an und brachte den Karren zum Stehen. Jezal sah am Rand der Schlucht entlang, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Jetzt sah er den Sprecher. Ein breitschultriger Mann, der einen altmodischen Lederpanzer trug, saß direkt an der Abbruchkante und ließ nachlässig ein Bein baumeln, während sein langes Haar sanft im Wind flatterte. Soweit Jezal auf die Entfernung feststellen konnte, machte er einen netten und freundlichen Eindruck und hatte ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.

»Mein Name ist Finnius, bescheidener Diener des Kaisers Cabrian!«

»Cabrian?«, brüllte Bayaz. »Nach dem, was ich hörte, hat er den Verstand verloren!«

»Er hat einige sehr interessante Einfälle.« Finnius zuckte die Achseln. »Aber für uns hat er immer gut gesorgt. Wenn ich Euch kurz über Eure Lage aufklären darf: Wir haben Euch umzingelt!« Ein ernst dreinblickender Mann mit Kurzschwert und Schild trat hinter dem abgestorbenen Baumstamm hervor. Dann tauchten zwei weitere auf, und noch drei, die hinter Felsblöcken und Büschen gelauert hatten, allesamt ebenso ernst dreinblickten und auch äußerst ernst zu nehmende Waffen trugen. Jezal fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er hätte jeder Gefahr ins Gesicht gelacht, natürlich, aber jetzt, da es so weit war, schien es wenig Grund zum Lachen zu geben. Er sah über die Schulter. Noch mehr Männer erhoben sich hinter den Felsen, an denen sie gerade vorbeigekommen waren, und versperrten ihnen den Rückweg.

Neunfinger verschränkte die Arme. »Nur einmal«, brummte er, »wäre ich gern derjenige, der andere überrascht.«

»Es sind noch ein paar mehr Leute da«, rief Finnius, »hier oben bei mir! Gute Leute mit Bogen, die mit ihren Pfeilen sehr genau zielen können.« Jezal sah deren Umrisse gegen den weißen Himmel, mitsamt den gebogenen Linien ihrer Waffen. »Ihr seht also, dass Ihr auf dieser Straße nicht mehr weiterreisen werdet!«

Bayaz breitete die Hände aus. »Vielleicht können wir zu einer Übereinkunft kommen, die beiden Seiten dient! Ihr braucht nur Euren Preis zu nennen und …«

»Euer Geld interessiert uns nicht, alter Mann, und den Vorschlag allein empfinde ich bereits als Beleidigung! Wir sind Soldaten, keine Diebe! Wir haben den Befehl, eine bestimmte Gruppe von Leuten zu finden, eine Gruppe, die durch das große Nichts wandert, abseits der viel bereisten Straßen! Ein alter kahler Drecksack und ein kränklich aussehender Jüngling, ein hochnäsiger Unionistentrottel, eine vernarbte Hure und ein Affe von einem Nordländer. Habt Ihr vielleicht jemanden gesehen, auf den diese Beschreibung passen würde?«

»Wenn ich die Hure bin«, brüllte Neunfinger, »wer ist dann der Nordländer?«

Jezal zuckte zusammen. Keine Witze, bitte jetzt keine Witze, aber Finnius lachte nur in sich hinein. »Sie haben mir nicht gesagt, dass Ihr Humor habt. Das ist natürlich eine hübsche Dreingabe. Zumindest, bis wir Euch umbringen. Wo ist der andere, hä? Der Wegkundige?«

»Keine Ahnung«, grollte Bayaz, »leider. Wenn hier einer stirbt, sollte er das sein.«

»Nehmt es nicht zu schwer. Wir werden ihn später noch einholen.« Finnius stieß ein gut gelauntes Lachen aus, und seine Männer grinsten und hantierten mit ihren Waffen. »Wenn Ihr dann bitte so freundlich wärt, Eure Waffen den Herren vor Euch zu überreichen, dann können wir euch verschnüren und noch vor Anbruch der Dunkelheit nach Darmium zurückkehren!«

»Und wenn wir dann dort ankommen?«

Finnius hob fröhlich die Schultern. »Das geht mich nichts an. Ich stelle dem Kaiser keine Fragen, und Ihr solltet mir besser auch keine stellen. So wird niemandem bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen. Versteht Ihr, was ich meine, Alter?«

»Das kann man wohl nicht missverstehen, aber ich fürchte, Darmium liegt überhaupt nicht auf unserem Weg.«

»Was ist mit Euch«, rief Finnius, »seid Ihr nicht bei Verstand?«

Der Mann, der ihnen am nächsten stand, trat vor und griff nach Bayaz’ Zaumzeug. »Das reicht jetzt«, knurrte er.

Jezal fühlte jenes furchtbare Ziehen im Bauch. Die Luft um Bayaz’ Schultern begann zu flimmern wie die heiße Luft über einer Schmiede. Der Vorderste der Männer runzelte die Stirn, öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Sein Gesicht schien plötzlich ganz flach zu werden, dann platzte sein Kopf, und er wurde so plötzlich weggeschleudert, als habe ihn ein unsichtbarer Riese mit dem Finger weggeschnippt. Er hatte nicht einmal Zeit zu schreien.

Ebenso wenig wie die vier Männer, die hinter ihm gestanden hatten. Ihre gebrochenen Körper, die geborstenen Überbleibsel des grauen Baumstamms und jede Menge Erde und Steine um sie herum wurden vom Boden in die Höhe gerissen und durch die Luft gewirbelt, bevor sie hundert Schritte entfernt mit dem Geräusch eines einstürzenden Hauses gegen die steilen Wände der Schlucht prallten.

Jezal stand der Mund weit offen, und er stand da wie gelähmt. Es hatte nur einen winzigen, schrecklichen Augenblick gedauert. Eben noch hatten dort fünf Männer gestanden, und jetzt waren sie totes Fleisch auf einem Haufen Schutt und Dreck. Irgendwo hinter sich hörte er eine Bogensehne surren. Dann ertönte ein Schrei: Ein Mann stürzte in die Schlucht hinunter, prallte von den steilen Felswänden ab und flog wie eine Lumpenpuppe mit dem Gesicht nach unten in den Bach.

»Los, reitet!«, brüllte Bayaz, aber Jezal konnte nichts tun, er saß starr in seinem Sattel und starrte mit offenem Mund vor sich hin. Die Luft rund um den Magus flimmerte immer noch, stärker als zuvor. Die Felsen hinter ihm bröckelten und bewegten sich wie Steinchen auf einem Flussbett. Der alte Mann verzog das Gesicht und sah starren Blickes auf seine Hände. »Nein …«, murmelte er und drehte sie hin und her.

Die braunen Blätter, die den Boden bedeckt hatten, wirbelten durch die Luft wie nach einem Windstoß. »Nein«, sagte Bayaz, und seine Augen weiteten sich. Sein ganzer Körper hatte zu zittern begonnen. Jezal sah mit aufgerissenen Augen zu, wie die losen Steinchen in ihrer Nähe vom Boden aufstiegen und aufs Unmöglichste nach oben zu wirbeln begannen. Zweige knickten von den Büschen, Grasbüschel lösten sich von den Steinen, sein Mantel raschelte und flatterte, als ob eine unsichtbare Macht ihn emporzöge.

»Nein!«, schrie Bayaz, dann zogen sich seine Schultern in einem plötzlichen Krampf zusammen. Ein Baum in der Nähe spaltete sich mit ohrenbetäubendem Krachen, und Holzsplitter rieselten in die aufgewühlte Luft. Jemand schrie, aber Jezal hörte ihn kaum. Sein Pferd scheute, und ihm fehlte die Geistesgegenwart, um sich im Sattel zu halten. Mit einem Ruck fiel er rücklings auf den Boden, während das ganze Tal um ihn herum schimmerte, zitterte und vibrierte.

Bayaz’ Kopf fiel zurück, ganz starr, und eine Hand schoss nach oben und krallte sich ins Nichts. Ein Steinbrocken von der Größe eines Männerkopfes flog an Jezals Gesicht vorbei und zerbarst an einem Felsen. Die Luft war erfüllt von herumwirbelndem Unrat, von Holzstücken, Stein, Erde und zerbrochener Ausrüstung. In Jezals Ohren dröhnte ein schreckliches Klappern, Rasseln und Heulen. Er warf sich auf den Bauch, riss schützend die Arme über den Kopf und kniff die Augen zusammen.

Er dachte an seine Freunde. An West und Jalenhorm und Kaspa, sogar an Leutnant Brint. Er dachte an seine Familie und an sein Zuhause, an seinen Vater und seine Brüder. Er dachte an Ardee. Wenn er das hier überleben und sie je wieder sehen würde, dann wollte er ein besserer Mensch werden. Er schwor es sich mit tonlosen, zitternden Lippen, während der unnatürliche Wind das Tal um ihn her auseinanderriss. Er würde nie wieder selbstsüchtig sein, nie wieder eitel, nie wieder faul. Er würde ein besserer Freund, ein besserer Sohn, ein besserer Geliebter sein, wenn er das hier nur überstand. Wenn er nur …

Er hörte den eigenen verängstigten Atem mit seinen schnellen Stößen, und das Blut rauschte in seinem Kopf.

Der Lärm war verebbt. Jezal öffnete die Augen. Er nahm die Hände vom Kopf, und Zweige und Erdklumpen rieselten auf ihn herunter. Um ihn herum segelten überall Blätter zu Boden, und die Schlucht hing voller Staub, der in der Kehle kratzte. Neunfinger stand in der Nähe, und rotes Blut rann von einer Schnittwunde an der Stirn über das dreckige Gesicht. Irgendjemand stand ihm gegenüber. Einer der Männer, die ihnen den Rückweg versperrt hatten, ein großer Kerl mit einem dichten, roten Schopf. Sie umkreisten einander. Jezal sah ihnen zu, er kniete noch auf dem Boden, und der Mund stand ihm offen. Irgendetwas sagte ihm, dass er eingreifen musste, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte.

Der Rothaarige bewegte sich plötzlich, sprang nach vorn und schwang das Schwert über seinen Kopf. Er war schnell, aber Neunfinger war schneller. Er trat zur Seite, sodass die zischende Klinge sein Gesicht um einige Zoll verfehlte, dann traf er seinen Gegner mit einem Streich quer über den Bauch. Der Mann keuchte und stolperte ein oder zwei Schritte weit. Neunfingers schwere Klinge biss mit einem hohlen, klickenden Geräusch in seinen Hinterkopf. Er stolperte über die eigenen Füße und fiel vornüber, während Blut aus der klaffenden Kopfwunde strömte. Jezal sah, wie es sich langsam über den Boden rund um den Toten ausbreitete. Ein großer, dunkler See, der sich allmählich mit dem Staub und der losen Erde vermischte. Hier gewann nicht der, der die meisten von drei Treffern erzielte. Und es gab keine zweite Runde.

Das Geräusch einer Rangelei und lautes Keuchen drangen an sein Ohr, und als er aufsah, kämpfte Neunfinger mit einem anderen Mann, einem großen, breitschultrigen Kerl. Die zwei knurrten sich an, versuchten sich zu packen und rangen um ein Messer. Jezal starrte sie an. Wann hatten sie damit begonnen?

»Stich ihn ab!«, brüllte Neunfinger, während er seinen Gegner weiter anging. »Verdammt noch mal, stich ihn ab!« Jezal kniete einfach nur da und sah zu. Eine Hand griff nach dem Heft seines langen Eisens, als sei er im Begriff, von einer Klippe zu stürzen und umklammere nun das letzte Grasbüschel, um sich zu retten. Der andere Arm hing schlaff herab.

Ein sanfter Aufschlag war zu hören. Der große Kerl stöhnte laut auf. Ein Pfeil stak in seiner Seite. Noch ein Aufschlag. Zwei Pfeile. Ein dritter bildete eine hübsche Gruppe mit den beiden anderen. Der Mann entglitt langsam Neunfingers Umklammerung, brach in die Knie, hustete und stöhnte. Er kroch auf Jezal zu, ließ sich langsam zu Boden sinken, verzog das Gesicht und gab ein seltsames, katzenhaftes Jammern von sich. Dann lag er auf der Straße, und die Pfeile ragten aus seinem Rücken wie Lampenputzer aus einem flachen See. Er bewegte sich nicht mehr.

»Was ist mit diesem Arschloch Finnius?«

»Der ist entkommen.«

»Er wird Verstärkung holen!«

»Ich musste mich entscheiden – entweder ihn da oben runterzuholen oder aber den da fertigzumachen.«

»Den hier hatte ich schon so gut wie erledigt!«

»Aber sicher doch. Wenn du ihn noch ein Jahr so festgehalten hättest, dann hätte Luthar es vielleicht auch irgendwann mal geschafft, seinen Degen zu ziehen, was?«

Seltsame Stimmen, die nichts mit ihm zu tun hatten. Jezal kam schwankend auf die Beine. Sein Mund war trocken, die Knie weich, und seine Ohren dröhnten. Bayaz lag ein paar Schritte entfernt auf der Straße, und sein Lehrling kniete neben ihm. Der Zauberer hatte ein Auge geschlossen, das andere war leicht geöffnet, und unter dem zuckenden Lid war ein schmaler Streifen seines weißen Augapfels zu erkennen.

»Ihr könnt das jetzt loslassen.« Jezal sah nach unten. Seine Hand krallte sich immer noch um das Heft seines Degens, so sehr, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er zwang sich, die Finger zu lösen, und ganz langsam, ganz weit weg, öffneten sie sich auch. Seine Handfläche tat weh, so sehr hatte er sich verkrampft. Jezal fühlte eine schwere Hand auf seiner Schulter. »Alles in Ordnung?« Neunfingers Stimme.

»Hm?«

»Seid Ihr verletzt?«

Jezal sah an sich selbst hinunter und drehte blödsinnig seine Hände hin und her. Dreck, aber kein Blut. »Ich glaube nicht.«

»Gut. Die Pferde sind davon galoppiert. Das kann ihnen wohl auch niemand übel nehmen … Wenn ich vier Beine hätte, wäre ich schon auf halbem Weg bis zum Meer.«

»Was?«

»Versucht doch, ob Ihr sie wieder einfangen könnt.«

»Wer hat denn Euch zum Anführer erklärt?«

Neunfingers buschige Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. Jezal wurde sich bewusst, dass sie sehr nahe beieinanderstanden und dass die Hand des Nordmanns noch immer auf seiner Schulter ruhte. Sie lag einfach nur da, aber er fühlte ihre Kraft durch seinen Mantel hindurch, und sie wirkte stark genug, um ihm den Arm herauszudrehen. Seine verdammte große Klappe, dauernd brachte sie ihn in Schwierigkeiten. Er erwartete zumindest einen Schlag ins Gesicht, wenn nicht gleich eine tödliche Kopfwunde, aber Neunfinger schürzte nur nachdenklich die Lippen und begann dann zu sprechen.

»Wir sind sehr unterschiedlich, Ihr und ich. Verschieden in jeder Hinsicht. Ich merke wohl, dass Ihr wenig Respekt für mein Volk habt, und für mich selbst schon gar nicht, und das kann ich Euch nicht übel nehmen. Bei den Toten, ich habe meine Fehler, und es ist nicht so, dass ich das nicht auch wüsste. Ihr mögt Euch für einen klugen Menschen halten und mich für einen dummen, und vermutlich hättet Ihr Recht. Es gibt sicherlich sehr viele Dinge, über die Ihr mehr wisst als ich. Aber wenn es ums Kämpfen geht, dann muss ich Euch leider sagen, da gibt es wenige Männer, die mehr Erfahrung haben als ich. Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, wir wissen wohl beide, dass Ihr nicht dazugehört. Niemand hat mich zum Anführer erklärt, aber dies ist eine Aufgabe, die erledigt werden muss.« Er trat noch etwas näher an Jezal heran, und seine große Pranke umfasste Jezals Schulter mit väterlicher Festigkeit, die halb aufbauend, halb bedrohlich wirkte. »Ist das ein Problem?«

Jezal dachte einen Moment darüber nach. Er befand sich hier draußen auf völlig unvertrautem Boden, und die Ereignisse der letzten Minuten hatten ihm überdeutlich vor Augen geführt, wie sehr. Er sah zu dem Mann hinunter, den Neunfinger nur wenige Augenblicke zuvor getötet hatte und in dessen Kopf noch immer das große Loch klaffte. Vielleicht war es im Augenblick besser, wenn er einfach tat, was man ihm sagte.

»Überhaupt nicht«, antwortete er.

»Schön!« Neunfinger grinste, klopfte ihm auf die Schulter und ließ ihn gehen. »Die Pferde müssen immer noch eingefangen werden, und ich würde mal sagen, das ist eine Aufgabe für Euch.«

Jezal nickte und stolperte von dannen, um nach den Tieren zu suchen.