DIE FRÜCHTE DER KÜHNHEIT
Die Nordmänner standen auf dem Berg, eine dünne Reihe dunkler Gestalten, die sich vor dem weißen Himmel abhoben. Es war noch früh, die Sonne war erst ein heller Punkt hinter dichten Wolken. Flecken halb geschmolzenen Schnees lagen kalt und schmutzig in den Senken der Hänge, und eine dünne Nebelbank hielt sich am Grund des Tals.
West sah zu den schwarzen Gestalten hinüber und runzelte die Stirn. Das alles gefiel ihm nicht. Es waren zu viele, um auf Kundschafterritt zu sein oder Vorräte beschaffen zu wollen, aber viel zu wenige, um eine ernst zu nehmende Bedrohung darzustellen, und dennoch blieben sie dort oben auf der Höhe und sahen in aller Ruhe zu, wie Ladislas Armee ihren endlosen, ungeschickten Marsch durch das Tal zu ihren Füßen fortsetzte.
Der Stab des Prinzen und eine kleine Abordnung seiner Wachen hatten ihr Hauptquartier auf einem grasbewachsenen Hügel aufgeschlagen, der dem Berg, auf dem die Nordmänner lauerten, gegenüberlag. Als die Kundschafter ihn am frühen Morgen entdeckt hatten, war es noch ein idealer, trockener Flecken gewesen, der zwar unterhalb der Feindeslinie lag, aber doch immer noch hoch genug war, um einen guten Ausblick auf das Tal zu bieten. Seitdem waren Tausende von Stiefeln, Hufen und schweren Wagenrädern über ihn hinweggewalzt und hatten die nasse Erde in klebrigen, schwarzen Morast verwandelt. Wests Stiefel und die der anderen Männer waren dick damit überzogen, und auch die Uniformen trugen Schlammspritzer. Selbst das makellose Weiß von Prinz Ladislas Kleidung hatte Flecken abbekommen.
Ein paar hundert Schritte weiter, etwas tiefer gelegen, war nun der Großteil des Unionsheers aufgestellt. Sein Rückgrat bildeten vier Infanteriebataillone der Königstreuen, jedes davon ein ordentlicher Block aus leuchtend rotem Tuch und mattem Stahl, die aus dieser Entfernung aussahen, als hätte man sie mit einem riesigen Lineal in Position gebracht. Vor ihnen befanden sich einige dünne Reihen Flachbogenschützen mit Lederwams und Stahlhauben, hinter ihnen die Kavallerie, die im Augenblick noch nicht aufgesessen war; die Reiter wirkten in voller Rüstung seltsam ungelenk. Die Flanken bildeten die ungeordneten Bataillone der Einberufenen mit ihrer zusammengesuchten Ausrüstung. Die dazugehörigen Offiziere bellten Befehle und wedelten mit den Armen bei dem Versuch, die Lücken zu schließen und die Schlangenlinien zu Reihen zu formen, wie Hütehunde, die eine Herde ungebärdiger Schafe ankläfften.
Zehntausend Mann vielleicht, alle zusammengenommen. Jeder von ihnen, das wusste West, sah zu dieser dünnen Reihe von Nordmännern empor, zweifelsohne mit derselben Mischung aus Angst und Aufregung, Neugier und Zorn, die er beim ersten Anblick des Feindes selbst empfand.
Durch sein Fernrohr machten sie keinen besonders Furcht erregenden Eindruck. Männer mit wilden Haarmähnen, in zerlumpte Häute und Pelze gehüllt, die primitiv wirkende Waffen in Händen hielten. Genau das, was die mit weniger Vorstellungskraft gesegneten Männer im Stab des Prinzen erwarteten. Sie sahen überhaupt nicht nach dem Heer aus, das Dreibaum ihm beschrieben hatte, und West gefiel das gar nicht. Man konnte nicht wissen, was sich jenseits des Berges befand, und es gab keinen anderen Grund für diese Männer, dort oben zu sein, als dass sie die Unionsarmee ablenken oder aber in eine Falle locken sollten. Seine Zweifel wurden jedoch nicht von allen geteilt.
»Sie verspotten uns!«, fauchte Smund, der durch sein eigenes Fernglas linste. »Wir sollten ihnen die Lanzen der Union zu schmecken geben! Ein schneller Ausfall, und unsere Reiterei würde diesen wüsten Haufen zerstreuen und den Berg für uns einnehmen!« Er klang gerade so, als werde damit der ganze Feldzug zu einem schnellen und ruhmreichen Ende gebracht, dabei war dieser Berg völlig unbedeutend, wenn man einmal davon absah, dass die Nordmänner dort oben warteten.
West konnte nichts anderes tun, als die Zähne zusammenzubeißen und den Kopf zu schütteln, wie er es schon etwa hundertmal an diesem Tag getan hatte. »Sie haben den Vorteil, dass sie auf der Höhe stehen«, erklärte er und gab sich Mühe, langsam und geduldig zu sprechen. »Das ist ein ungünstiges Gelände für einen Ausfall, und sie haben vielleicht auch Verstärkung. Nach all dem, was wir wissen, könnte der Großteil von Bethods Heer hinter diesem Berg lauern.«
»Sie sehen aus, als seien sie nur Kundschafter«, meinte Ladisla.
»Das mag täuschen, Euer Hoheit, und der Berg an sich ist bedeutungslos. Die Zeit ist auf unserer Seite. Marschall Burr wird uns zu Hilfe eilen, während Bethod keine weitere Unterstützung erwarten kann. Wir haben keinen Grund, jetzt schon auf eine Schlacht zu drängen.«
Smund schnaubte. »Keinen Grund, abgesehen davon, dass wir im Krieg sind und der Feind sich vor uns auf dem Boden der Union befindet! Sie reiten ständig auf der schlechten Moral unserer Truppen herum, Herr Oberst!« Er deutete mit heftigen Handbewegungen auf den gegenüberliegenden Höhenrücken. »Was wäre denn wohl schlimmer für den Kampfgeist unserer Soldaten, als faul im Angesicht des Feindes herumsitzen zu müssen?«
»Eine schnelle und sinnlose Niederlage vielleicht?«, knurrte West.
Es war ein unglücklicher Zufall, dass ausgerechnet in diesem Moment einer der Nordmänner einen Pfeil in das Tal hinunterschickte. Ein winziger schwarzer Splitter segelte durch die Luft. Er war nur von einem Kurzbogen abgeschossen worden. Obwohl er von der Höhe kam und daher hinsichtlich der Reichweite im Vorteil war, trudelte der Pfeil harmlos einige hundert Schritte vor den vordersten Reihen zu Boden. Es war eine einzigartig sinnlose Geste, die aber ihre Wirkung auf Prinz Ladisla nicht verfehlte.
Er sprang von seinem zusammenklappbaren Feldhocker. »Verdammt sollen sie sein!«, fluchte er. »Sie verspotten uns!« Er ging auf und ab und schwenkte die Faust. »Veranlassen Sie sofort einen Ausfall der Kavallerie!«
»Euer Hoheit, ich bitte Sie zu bedenken …«
»Verdammt noch mal, West!« Der Thronerbe schleuderte seinen Hut auf den schlammigen Boden. »Sie widersprechen mir bei jeder Gelegenheit! Hätte Ihr Freund Oberst Glokta im Angesicht des Feindes gezögert?«
West schluckte. »Oberst Glokta wurde von den Gurkhisen gefangen genommen und brachte jedem Mann unter seinem Kommando den Tod.« Er bückte sich langsam und hob den Hut wieder auf, hielt ihn dem Prinzen achtungsvoll hin und fragte sich die ganze Zeit, ob er gerade das abrupte Ende seiner Karriere eingeleitet hatte.
Ladisla knirschte mit den Zähnen, zog hart die Luft durch die Nase ein und riss West den Hut aus der Hand. »Ich habe meine Entscheidung getroffen! Nur mir obliegt die Verantwortung für dieses Kommando, mir allein!« Er wandte sich wieder zum Tal. »Blasen Sie zum Angriff!«
West fühlte sich plötzlich schrecklich müde. Es kam ihm vor, als ob er kaum noch die Kraft zum Stehen hätte, während die lebhafte Fanfare die klare Luft durchdrang, die Reiter sich mühsam in die Sättel schwangen und mit aufgestellten Lanzen zwischen den Infanterieblöcken den Abhang hinunterritten. Unten angekommen, fielen sie in Galopp, und halb verschluckte sie die Nebelbank, während das Donnern der Hufe im Tal widerhallte. Einige einzelne Pfeile gingen zwischen ihnen nieder und prallten wirkungslos von ihren schweren Rüstungen ab, als sie weiter vordrangen. Sie begannen langsamer zu werden, als es wieder aufwärtsging, und ihre Reihen lösten sich auf, als sie sich über den unebenen Boden quälten, aber der Anblick des gewichtigen Stahls und der vielen Pferde verfehlte seine Wirkung auf die Nordmänner nicht. Ihre lückenhafte Aufstellung begann zu wanken und schließlich auseinanderzubrechen. Sie wandten sich um und flohen, einige warfen ihre Waffen weg, als sie von der Kuppe des Berges verschwanden.
»Das war genau das richtige Rezept!«, schrie Lord Smund. »Treibt sie vor euch her, verdammt! Macht sie fertig!«
»Reitet sie nieder!«, lachte Prinz Ladisla, der sich wieder den Hut vom Kopf riss und damit durch die Luft wedelte. Vereinzelte Bravorufe waren von den Einberufenen über das Donnern der Hufe hinweg zu hören.
»Treibt sie vor euch her«, murmelte West und ballte die Fäuste. »Bitte.«
Die Reiter hatten den Bergrücken erreicht und verschwanden allmählich aus dem Blickfeld. Schweigen breitete sich über das Tal. Ein langes, seltsames, unerwartetes Schweigen. Einige Krähen kreisten über ihren Köpfen und krächzten einander ihre harschen Rufe zu. West hätte alles dafür gegeben, ihren Überblick über das Schlachtfeld zu haben. Die Spannung war beinahe unerträglich. Er tigerte vor und zurück, während lange Minuten verstrichen, ohne dass sich etwas zeigte.
»Die lassen sich aber Zeit, was?«
Pike stand direkt neben ihm, gleich dahinter seine Tochter. West zuckte zusammen und sah weg. Er fand es immer noch seltsam schmerzvoll, lange in dieses verbrannte Gesicht zu schauen, vor allem, wenn es sich ihm so plötzlich und unangekündigt näherte. »Was machen denn Sie beide hier?«
Der Sträfling zuckte die Achseln. »Für einen Schmied gibt es in einer Schlacht genug zu tun. Und danach noch viel mehr. Während der Kampf im Gange ist, allerdings eher weniger.« Er grinste, und die Schichten verbrannten Fleisches schoben sich an der einen Seite seines Gesichts wie Leder zusammen. »Ich dachte, ich guck mir mal die Unionstruppen in Aktion an. Und überhaupt, es gibt doch keinen sichereren Platz als das Hauptquartier des Prinzen, oder?«
»Beachten Sie uns gar nicht«, sagte Cathil leise mit dünnem Lächeln, »wir werden aufpassen, dass wir nicht im Wege sind.«
West runzelte die Stirn. Falls das eine kleine Anspielung darauf sein sollte, dass er ihr ständig im Weg gestanden hatte, dann konnte er im Augenblick gar nicht darüber lachen. Von der Kavallerie war noch immer nichts zu sehen.
»Wo, zum Teufel, stecken die?«, presste Smund hervor.
Der Prinz hörte kurz damit auf, an den Fingernägeln herumzukauen. »Geben Sie ihnen ein wenig Zeit, Smund.«
»Wieso klart dieser Nebel eigentlich nicht auf?«, brummte West. Inzwischen brach die Sonne stark genug durch die Wolken, aber der Nebel schien sich sogar noch zu verdichten und kroch aus dem Tal auf die Bogenschützen zu. »Verdammte graue Suppe, die wird uns Probleme machen.«
»Da sind sie!«, rief nun jemand aus dem Stab des Prinzen mit vor Aufregung schriller Stimme und streckte den Finger zum Kamm des Berges hin aus.
West hob atemlos sein Fernrohr, suchte schnell die grüne Linie ab. Er sah die Speerspitzen hoch aufgerichtet und ordentlich über den Berggrat kommen. Ihn überkam eine Welle der Erleichterung. Er war noch nie so glücklich gewesen, einmal nicht recht gehabt zu haben.
»Sie sind es!«, schrie nun auch Smund und grinste von einem Ohr zum anderen. »Sie sind zurück! Was habe ich Ihnen gesagt? Sie …« Helme erschienen unter den Speerspitzen, dann kettenhemdgeschützte Schultern. West fühlte die Erleichterung verebben, und Panik stieg in seiner Kehle auf. Eine feste Formation gut gerüsteter Männer, deren runde Schilde mit Gesichtern, Tieren, Bäumen und Hunderten von anderen Mustern bemalt waren, sodass nicht einer wie der andere aussah. Noch mehr Männer erschienen links und rechts von ihnen auf dem Berg. Noch mehr gepanzerte Gestalten.
Bethods Carls.
Sie hielten knapp unterhalb der Bergkuppe. Ein Grüppchen weiterer Männer trat aus den ordentlich aufgestellten Reihen und kniete sich in das kurze Gras.
Ladisla senkte sein Fernrohr. »Sind das …?«
»Flachbogen«, sagte West tonlos.
Die erste Salve ging nun nieder, beinahe sanft, eine dahinschwebende graue Wolke aus Bolzen, wie eine Schar abgerichteter Vögel. Für einen Augenblick waren sie still, dann drang das zornige Surren der Bogensehnen an Wests Ohren. Die Bolzen regneten auf die Unionsreihen nieder. Sie trafen die Königstreuen, prallten auf ihre schweren Schilde und ihre schweren Rüstungen. Es gab einige Schreie und danach einige Lücken in den Linien.
Die Stimmung im Hauptquartier hatte sich im Verlauf von nur einer Minute völlig gewandelt und war von lautem Selbstbewusstsein zu stummer Überraschung und schließlich gelähmtem Entsetzen geworden. »Sie haben Flachbogen?«, stieß jemand hervor. West sah durchs Fernrohr zu den Bogenschützen auf dem Berg hinüber, wie sie langsam die Sehnen spannten, die kurzen Bolzen aus ihren Köchern zogen und sie anlegten. Die Reichweite war gut berechnet. Sie hatten nicht nur Flachbogen, sie wussten auch mit ihnen umzugehen. West eilte zu Prinz Ladisla hinüber, der mit offenem Mund zusah, wie ein Verwundeter aus den Reihen der Königstreuen mit schlaff herabhängendem Kopf weggetragen wurde.
»Euer Hoheit, wir müssen entweder vorrücken und die Entfernung verringern, damit unsere Bogenschützen zurückschießen können, oder aber uns auf die Höhe zurückziehen!« Ladisla starrte ihn nur an und ließ mit keiner Regung erkennen, ob er ihn gehört, geschweige denn verstanden hatte. Eine zweite Salve regnete auf die Infanterie vor ihnen nieder. Dieses Mal traf sie die Einberufenen, eine Einheit ohne Schilde oder Rüstungen. Überall klafften plötzlich Löcher in der unordentlichen Formation, Löcher, die der aufsteigende Nebel schloss, und das ganze Bataillon schien zu stöhnen und zu wanken. Ein Verwundeter stieß ein dünnes, animalisches Geheul aus, das gar nicht mehr aufhören wollte. »Euer Hoheit, rücken wir vor oder ziehen wir uns zurück?«
»Ich … wir …« Ladisla glotzte Lord Smund an, aber dieses eine Mal war der junge Edelmann um eine Antwort verlegen. Er sah sogar noch verwirrter aus als der Prinz, falls das möglich war. Ladislas Oberlippe bebte. »Wie … ich … Oberst West, was meinen Sie?«
Die Versuchung, den Kronprinzen daran zu erinnern, dass ihm und ihm allein die Verantwortung für das Kommando oblag, war beinahe unwiderstehlich, aber West biss sich auf die Zunge. Ohne eine zielgerichtete Aktion würde sich die ungeordnete Truppe in kürzester Zeit völlig auflösen. Besser, man tat etwas Falsches, als untätig herumzustehen. Er wandte sich an den nächsten Trompeter: »Blast zum Rückzug!«, brüllte er.
Die Fanfare für den Rückzug erscholl, grell und dissonant. Es war kaum zu glauben, dass die gleichen Instrumente nur wenige Minuten zuvor so kühn zum Angriff geblasen hatten. Die Bataillone bewegten sich zögerlich und ruckartig rückwärts. Wieder prasselte ein Pfeilhagel auf die Einberufenen nieder und noch einer. Ihre Formation brach bereits auseinander, die ersten Männer rannten weg, um dem mörderischen Regen zu entgehen, stolperten übereinander, die Reihen verwandelten sich in Knäuel, und die Luft war voller Schreie und Verwirrung. West konnte kaum sagen, wo der nächste Schauer traf, den die Flachbogen aussandten, so hoch war der Nebel inzwischen. Die Bataillone der Union waren nur noch an einigen wankenden Speerspitzen und dem einen oder anderen Helm auszumachen, die über die graue Wolke lugten. Selbst hier, hoch über dem ganzen Durcheinander, kräuselte sich der Nebel schon um Wests Knöchel.
Oben auf dem Berg setzten sich nun die Carls in Bewegung. Sie reckten die Waffen in die Luft und schlugen sie gegen die bemalten Schilde. Dann folgte ein lautes Geschrei, aber nicht das tiefe Brüllen, das West erwartet hätte. Stattdessen schwebte ein seltsames Heulen durch das Tal, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, ein klagendes Jammern. Es übertönte das Rasseln und Klappern von Metall und bohrte sich in die Ohren der Männer, die unten im Tal dem Spektakel zusahen. Es war ein geistloser, wilder, primitiver Laut. Ein Laut von Ungeheuern, nicht von Menschen.
Prinz Ladisla und seine Gefolgsleute starrten einander an, stotterten Worte und sahen dann mit starren Blicken zu, wie die Carls den Hügel hinuntertrampelten, eine Reihe nach der anderen, und auf den sich weiter verdichtenden Nebel zuhielten, der die Talsenke bedeckte, wo die Unionstruppen noch immer blindlings auf dem Rückzug waren. West drängte sich durch die wie gelähmt dastehenden Offiziere zum Trompeter durch.
»Schlachtordnung!«
Der Bursche wandte seinen entsetzten Blick von den vorrückenden Nordmännern zu West, während ihm die Trompete schlaff in den kraftlosen Fingern hing.
»Aufstellung!«, schrie eine Stimme hinter ihnen. »In Reih und Glied!« Es war Pike, der so laut brüllte, dass er jedem Korporal Ehre gemacht hätte. Der Trompeter hob sein Instrument an die Lippen und blies, was seine Lungen hergaben. Durch den Nebel, der sie nun ganz umgab, hallten Antwortfanfaren zurück. Gedämpfte Fanfaren, gedämpfte Schreie.
»Stehen bleiben und Aufstellung nehmen!«
»In Reih und Glied jetzt, Jungs!«
»Seid bereit!«
»Achtung!«
Rasseln und Klappern drang aus der grauen Suppe. Männer in Rüstungen, die sich bewegten, Speere aufpflanzten, Schwerter zogen, und Rufe, die von Mann zu Mann oder Einheit zu Einheit weitergegeben wurden. Über all diesen Geräuschen war nun immer lauter das unheimliche Heulen zu hören, unter dem die Nordmänner, die den Abhang hinunter und ins Tal strömten, die Unionssoldaten angriffen. West fühlte, wie ihm das Blut gefror, obwohl zwischen ihm und dem Feind einige hundert Schritte und einige tausend Bewaffnete lagen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sich die Männer in den ersten Reihen fühlten, vor denen nun die Carls allmählich aus dem Nebel auftauchten, ihre wilden Kriegsschreie ausstießen und die Waffen in Anschlag brachten.
Kein besonderes Geräusch markierte den Augenblick, in dem beide Heere endlich aufeinandertrafen. Das Klappern wurde nur lauter und lauter, und zu den Rufen und dem Gebrüll gesellten sich immer mehr hohes Geschrei und tiefes Knurren, Schmerzensschreie oder Wutgeheul. Im Hauptquartier sprach keiner ein Wort. Jeder, auch West, versuchte die graue Suppe um sie herum mit Blicken zu durchdringen und mit allen Sinnen auf irgendeine Art und Weise zu erfassen, was vor ihnen im Tal geschah.
»Da!«, schrie jemand. Eine kaum erkennbare Gestalt bewegte sich im Nebel vor ihnen. Alle Augen wandten sich ihr zu, während sie sich immer deutlicher abzeichnete. Ein junger, atemloser, schlammbespritzter und völlig verwirrter Leutnant. »Wo, zur Hölle, ist das Hauptquartier?«, brüllte er, als er sich den Hügel hinaufmühte.
»Hier.«
Der Mann grüßte West auf beinahe übertriebene Weise. »Euer Hoheit …«
»Ich bin Ladisla«, fauchte der echte Prinz. Der Mann wandte sich hastig um und grüßte erneut. »Überbringen Sie Ihre Nachricht, Mann!«
»Natürlich, sicher, Euer Hoheit, Major Bodzin schickt mich, um Ihnen mitzuteilen, dass sein Bataillon sehr stark bedrängt wird, und …«, noch immer rang er nach Luft, »er braucht Verstärkung.«
Ladisla sah den jungen Mann an, als habe er in einer fremden Sprache gesprochen. Er sah West an. »Wer ist Major Bodzin?«
»Der Befehlshaber des ersten Bataillons der Einberufenen aus Starikland, Euer Hoheit, auf unserer linken Flanke.«
»Die linke Flanke, ich verstehe … äh …«
Schnell bildete sich ein Halbkreis grell gekleideter Stabsoffiziere um den atemlosen Leutnant. »Sagen Sie dem Major, er soll die Stellung halten!«, rief einer von ihnen.
»Ja«, sagte Ladisla, »sagen Sie Ihrem Major, er soll die Stellung halten, und, ähm, den Feind zurückschlagen. Ja, genau!« Allmählich freundete er sich mit seiner Rolle an. »Er soll ihn zurückschlagen und bis zum letzten Mann kämpfen! Sagen Sie Major Klodzin, die Verstärkung sei auf dem Weg. Garantiert … auf dem Weg!« Und damit marschierte der Prinz erhobenen Hauptes davon.
Der junge Leutnant wandte sich um und spähte in den dichten Nebel. »In welcher Richtung befindet sich meine Einheit?«, fragte er sich halblaut.
Nun wurden noch mehr Gestalten sichtbar. Laufende Gestalten, die sich durch den Morast kämpften und nach Atem rangen. Einberufene, wie West sofort entdeckte, die von ihren auseinanderbrechenden Einheiten getrennt worden waren, kaum dass sie Feindberührung gehabt hatten. Als ob es je eine Aussicht gegeben hätte, dass sie länger standhalten würden.
»Feige Hunde!«, fluchte Smund ihnen hinterher. »Kommt sofort hierher zurück!« Genauso gut hätte er dem Nebel Befehle erteilen können. Jeder war nun in Bewegung: Deserteure, Adjutanten, Boten, die Hilfe, neue Anweisungen oder Verstärkung anforderten. Auch die ersten Verwundeten. Einige humpelten aus eigener Kraft oder benutzten abgebrochene Speere als Krücken, andere wurden halb von ihren Kameraden getragen. Pike stürzte nach vorn, um einem bleichen Mann zu helfen, dem der Bolzen eines Flachbogens vorn aus der Schulter sah. Ein weiterer Verletzter, der leise vor sich hin brabbelte, wurde auf einer Bahre vorbeigetragen. Sein linker Arm war knapp unterhalb des Ellenbogens abgehauen worden, und Blut sickerte durch ein straff um den Stumpf gewickeltes, dreckiges Tuch.
Ladisla war aschfahl geworden. »Ich habe Kopfschmerzen. Ich muss mich setzen. Was ist aus meinem Feldhocker geworden?«
West nagte an seiner Lippe. Jetzt hatte er keine Ahnung mehr, was er tun sollte. Burr hatte ihn wegen seiner großen Erfahrung an Ladislas Seite beordert, aber er fühlte sich nun ebenso hilflos wie der Prinz. Jeder Plan beruhte darauf, den Feind sehen oder zumindest erahnen zu können, wie es um dessen Position bestellt war. Er stand wie gelähmt da, so nutzlos und verwirrt wie ein Blinder in einem Faustkampf.
»Was geht hier vor, verdammt!« Die Stimme des Prinzen erhob sich über das Getümmel, schrill und launisch. »Woher kommt dieser verdammte Nebel? Ich verlange zu erfahren, was hier geschieht! Oberst West! Wo ist der Oberst? Was passiert dort draußen?«
Wenn er darauf nur eine Antwort hätte geben können. Männer stolperten herum, schossen von hier nach dort, eilten durch das Hauptquartier, scheinbar ohne Ziel. Gesichter tauchten aus dem Nebel auf und verschwanden wieder, ängstliche, verwirrte, entschlossene Gesichter. Boten mit verstümmelten Nachrichten oder bruchstückhaften Befehlen, Soldaten mit blutenden Wunden oder ohne Waffen. Körperlose Stimmen schwebten durch die kalte Luft, überlagerten einander, nervös, hastig, panisch, gequält.
»… Unser Regiment hat Feindberührung gehabt und wir fallen zurück, beziehungsweise, wir fielen zurück, glaube ich jedenfalls …«
»Mein Knie! Verdammt, mein Knie!«
»… Seine Hoheit der Prinz? Ich habe eine dringende Mitteilung von …«
»Schicken Sie … äh … irgendjemanden! Wer auch immer gerade verfügbar ist … ist irgendjemand verfügbar?«
»… die Königstreuen sind in schwere Gefechte verwickelt! Sie bitten um Erlaubnis, den Rückzug antreten zu dürfen …«
»Was ist mit der Kavallerie passiert? Wo ist die Kavallerie?«
»… Teufel, keine Menschen! Der Hauptmann ist tot und …«
»Wir werden zurückgeschlagen!«
»… kämpfen hart am rechten Flügel und brauchen dringend Verstärkung! Unbedingt Verstärkung …«
»Helfen Sie mir! Bitte, helfen Sie mir!«
»… und dann der Gegenangriff! Wir greifen über die gesamte Linie an …«
»Ruhe!« West konnte in der grauen Düsternis etwas hören. Das Läuten von Pferdegeschirr. Der Nebel war nun so dicht, dass er höchstens noch dreißig Schritte weit sehen konnte, aber das Geräusch von Hufschlag war unverkennbar. Seine Hand schloss sich um das Heft seines Schwertes.
»Die Kavallerie, sie kommt zurück!« Lord Smund sprang hastig vor.
»Warten Sie!«, zischte West, aber Smund hörte nicht auf ihn. Der Oberst versuchte, das Grau mit den Augen zu durchdringen. Er sah die Umrisse von Reitern, die immer deutlicher zu erkennen waren. Die Umrisse ihrer Rüstungen, ihrer Sättel und ihrer Helme waren die der Königstreuen, und dennoch war da etwas an der Art, wie sie ritten – leicht gebeugt, viel zu locker. West zog sein Schwert. »Schützt den Prinzen«, stieß er hervor und machte einen Schritt auf Ladisla zu.
»Sie da!«, rief Lord Smund dem vordersten Reiter zu. »Bereiten Sie Ihre Männer auf eine neue …« Das Schwert des Reiters fuhr mit einem hohlen, klackenden Geräusch in seinen Schädel. Eine Blutfontäne schoss hervor, schwarz im weißen Nebel, und die Reiter setzten zum Angriff an und brüllten, was ihre Lungen hergaben. Es waren entsetzliche, unheimliche, unmenschliche Laute. Smunds schlaffer Körper wurde von dem ersten Pferd aus dem Weg gestoßen und unter den Hufen des Tiers daneben zertrampelt. Es waren Nordmänner, kein Zweifel, die auf entsetzliche Weise immer klarer zu erkennen waren, als sie hoch aufragend aus dem Nebel auftauchten. Der vorderste Reiter trug einen dichten Bart, und langes Haar quoll unter einem schlecht sitzenden Unionistenhelm hervor. Er fletschte die gelben Zähne, und Pferd und Reiter hatten die Augen in wilder Raserei weit aufgerissen. Das schwere Schwert des Nordmanns fuhr nach unten und traf einen der Leibwächter des Prinzen zwischen die Schulterblätter, gerade als der seinen Speer fallen ließ und sich zur Flucht wenden wollte.
»Beschützen Sie den Prinzen!«, schrie West. Dann brach Chaos aus. Ringsum donnerten Pferde an ihm vorbei, Reiter brüllten, schlugen mit Schwertern und Äxten um sich, Männer rannten in alle Richtungen, rutschten aus, fielen hin, wurden dort niedergestochen, wo sie gerade standen, oder dort niedergetrampelt, wo sie gerade lagen. Die schwere Luft war erfüllt vom Wind, den die vorbeipreschenden Reiter verursachten, von herumspritzendem Schlamm, Schreien, Angst und Schrecken.
West tauchte schnell weg, um nicht unter die Hufe zu geraten, und fiel mit dem Gesicht voran in den Morast, schlug wirkungslos nach einem vorbeieilenden Pferd, keuchte, rollte und drehte sich im Nebel. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er nun blickte; alles hörte sich gleich an und sah gleich aus. »Beschützen Sie den Prinzen!«, rief er völlig sinnlos wieder mit heiserer Stimme, wurde von dem Lärm übertönt und drehte sich verwirrt um die eigene Achse.
»Ihr da links!«, kreischte jemand. »Aufstellung in Reih und Glied!« Es gab keine Reihen und Glieder mehr. Es gab kein Links. West stolperte über einen Körper, eine Hand griff nach seinem Bein, und er schlug mit dem Degen danach.
»Ah.« Er war gestürzt. Sein Kopf schmerzte fürchterlich. Wo war er? Vielleicht beim Fechttraining. Hatte Luthar ihn schon wieder überwältigt? Dieser Bursche wurde allmählich zu gut für ihn. Er reckte sich nach dem Griff seines Degens, der zertreten im Dreck lag. Eine Hand schlängelte sich durchs Gras, ganz weit weg, die Finger streckten sich aus. Schmerzhaft laut hörte er sein eigenes Atmen, das in seinem dröhnenden Kopf widerhallte. Alles war verschwommen, bewegte sich, Nebel vor seinen Augen, Nebel in seinen Augen. Zu spät. Er konnte seinen Degen nicht erreichen. Sein Kopf dröhnte. Dreck war in seinem Mund. Er rollte sich auf den Rücken, ganz langsam, atmete schwer und richtete sich schließlich auf den Ellenbogen auf. Er sah einen Mann auf sich zukommen. Einen Nordmann, dem zerzausten Umriss nach. Natürlich. Sie waren ja in einer Schlacht. West sah zu, wie der andere langsam vorwärtskam. In seiner Hand war ein dunkler, dünner Gegenstand. Eine Waffe. Schwert, Axt, Streitkolben, was machte das für einen Unterschied? Der Mann kam weiter auf ihn zu, ohne große Eile, stemmte den Fuß auf Wests Jacke und drückte seinen schlaffen Körper in den Schlamm.
Keiner von ihnen sagte etwas. Keine letzten Worte. Keine albernen Redensarten. Kein Ausdruck von Wut, Bedauern, Sieg oder Niederlage. Der Nordmann hob seine Waffe.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er machte einen Satz nach vorn. Er blinzelte und schwankte. Halb wandte er sich ab, langsam und wie blöde. Sein Kopf zuckte ebenfalls.
»Hab da was im …«, sagte er und seine Lippen formten mühsam die Worte. Mit der freien Hand fasste er an seinen Hinterkopf. »Wo ist mein …« Dann drehte er sich herum, stürzte seitlich mit einem Bein in der Luft und krachte auf den schlammigen Boden. Jemand stand hinter ihm, der nun näher kam und sich vorbeugte. Ein Frauengesicht. Irgendwie bekannt.
»Sind Sie noch am Leben?«
Ganz plötzlich war Wests Verstand wieder da. Er holte hustend tief Luft, rollte sich zur Seite und ergriff seinen Degen. Nordmänner, Nordmänner waren hinter ihren Linien! Er kam stolpernd auf die Beine, rieb sich mit groben Bewegungen das Blut aus den Augen. Man hatte sie übertölpelt! Sein Kopf dröhnte, alles drehte sich um ihn. Bethods Kavallerie war getarnt ins Hauptquartier des Prinzen vorgedrungen und hatte sie überrannt. Mit aufgerissenen Augen sah er sich ruckartig um, suchte im Nebel nach Feinden und konnte niemanden entdecken. Nur ihn und Cathil. Das Dröhnen der Hufe war verhallt, die Reiter davongezogen, zumindest für den Augenblick.
Er sah auf das Eisen in seiner Hand. Die Klinge war ein paar Zoll unter dem Heft abgebrochen. Nutzlos. Er ließ sie fallen, bog die Finger des Nordmanns auf, die den Schwertgriff umklammerten, und riss die Waffe an sich, während sein Kopf weiter dröhnte. Eine schwere Klinge, ungeschlacht und schartig, aber durchaus zu gebrauchen.
Er blickte zu dem Leichnam hinunter, der auf der Seite lag. Der Mann, der versucht hatte, ihn umzubringen. Sein Hinterkopf war eingedrückt und voller roter Splitter. Cathil hielt einen Schmiedehammer in der Hand. Der Hammerkopf war rot mit Blut verklebt, und verfilztes Haar hing daran.
»Sie haben ihn umgebracht.« Sie hatte ihm das Leben gerettet. Das wussten sie beide, und daher erschien es sinnlos, es auszusprechen.
»Was tun wir jetzt?«
Auf die Front zuhalten. Das taten jedenfalls die schneidigen jungen Offiziere in den Geschichten, die West als Junge gelesen hatte. Dem Klang der Schlacht entgegenmarschieren. Eine neue Einheit aus versprengten Soldaten zusammenrufen und sie in den Kampf führen, um dann mit ihnen den Lauf der Schlacht im entscheidenden Moment zu verändern. Dann rechtzeitig fürs Abendessen und die Verleihung der Orden nach Hause.
Nun, da er die Zerstörung und die zerstückelten Leichen sah, die die Reiter zurückgelassen hatten, hätte West über diese Vorstellung beinahe gelacht. Plötzlich war es zu spät für Heldentaten, und das wusste er. Es war längst zu spät.
Das Schicksal der Männer unten im Tal war schon seit geraumer Zeit besiegelt. Als Ladisla den Gedanken gefasst hatte, den Fluss zu überqueren. Als Burr seine Strategie festgelegt hatte. Als der Geschlossene Rat zugestimmt hatte, den Kronprinzen im Norden Ruhm und Ehre suchen zu lassen. Als die großen Adelsgeschlechter der Union Bettler statt Soldaten schickten, um für den König zu kämpfen. Hunderte von Entscheidungen, die Tage, Wochen oder Monate zurücklagen, kamen hier nun auf diesem wertlosen morastigen Gelände zusammen. Entwicklungen, die weder Burr noch Ladisla oder West hätten voraussagen oder verhindern können.
Er konnte nun nichts mehr daran ändern. Das konnte niemand. Der Tag war verloren.
»Beschützen Sie den Prinzen«, murmelte er.
»Was?«
West suchte den Boden ab, er wühlte in den verstreuten Sachen herum, drehte die Leichen mit seinen dreckigen Händen um. Ein Meldereiter sah zu ihm auf, sein Gesicht war an der Seite aufgeschlitzt, und eine blutige Masse quoll aus der Wunde. West würgte, bedeckte seinen Mund, kroch auf Händen und Knien zum nächsten Toten. Ein Mann aus dem Stab des Prinzen, dem immer noch ein leicht überraschter Ausdruck im Gesicht geschrieben stand. Ein zackiger Schwertstreich lief durch die schwere Goldstickerei auf seiner Uniform bis hinunter zu seinem Bauch.
»Was, zur Hölle, tun Sie da?« Pikes knurrige Stimme. »Dafür ist jetzt keine Zeit!« Der Sträfling hatte irgendwo eine Axt gefunden. Eine schwere Nordmann-Axt, deren Schneide blutverschmiert war. Wahrscheinlich keine gute Idee, dass ein Sträfling eine solche Waffe hatte, aber West hatte im Augenblick andere Sorgen.
»Wir müssen Prinz Ladisla finden!«
»Scheiß auf den!«, zischte Cathil. »Hauen wir ab!«
West schüttelte ihre Hand ab, stolperte zu einem Haufen zerschlagener Kisten hinüber und wischte sich erneut das Blut aus den Augen. Irgendwo hier. Irgendwo hier in der Nähe hatte Ladisla gestanden …
»Nein, ich flehe Sie an, nein!«, kreischte eine Stimme. Der Thronerbe der Union lag auf dem Rücken in einer kleinen Senke und war halb vom verkrümmten Leichnam eines seiner Leibwächter verdeckt. Die Augen hielt er fest zusammengepresst, die Arme vor dem Gesicht verschränkt, und seine weiße Uniform war mit rotem Blut bespritzt und mit schwarzem Schlamm verkrustet. »Es gibt ein Lösegeld!«, wimmerte er, »ein Lösegeld! Mehr, als Sie sich vorstellen können.« Ein Auge schielte zwischen den Fingern hindurch. Er grabschte nach Wests Hand. »Oberst West! Sind Sie es? Sie leben noch!«
Für Nettigkeiten blieb keine Zeit. »Euer Hoheit, wir müssen verschwinden!«
»Verschwinden?«, wiederholte Ladisla verständnislos. Tränenspuren zierten sein Gesicht. »Aber Sie meinen doch sicherlich nicht … haben wir gewonnen?«
West biss sich beinahe auf die Zunge. Es war widersinnig, dass gerade ihm diese Aufgabe zufallen sollte, aber er musste den Prinzen retten. Dieser eitle und nutzlose Idiot mochte das nicht verdienen, aber das änderte nichts daran. West musste es für sich selbst tun, nicht für Ladisla. Es war seine Pflicht als Untertan, seinen zukünftigen König in Sicherheit zu bringen, seine Pflicht als Soldat gegenüber seinem Befehlshaber und überhaupt als Mensch gegenüber seinem Nächsten. Es war für den Augenblick überhaupt alles, was er tun konnte. »Sie sind der Thronerbe, Ihre Person ist von großer Wichtigkeit.« West beugte sich hinunter und packte den Prinzen am Ellenbogen.
Ladisla fummelte an seinem Gürtel herum. »Ich habe meinen Degen irgendwo verloren …«
»Wir haben keine Zeit!« Jetzt riss West ihn hoch; er war bereit, den Prinzen zu tragen, wenn es sein musste. Dann bahnte er sich den Weg durch den Nebel, und die beiden Sträflinge folgten ihm direkt auf den Fersen.
»Sind Sie sicher, dass dies der richtige Weg ist?«, knurrte Pike.
»Ich bin sicher.« Er war es nicht im Geringsten. Der Nebel war dicker als je zuvor. Das Dröhnen in seinem Kopf und das Blut, das ihm in die Augen rann, ließen ihn nur kaum einen klaren Gedanken fassen. Das Kampfgetöse schien von überallher zu kommen: Metall schlug klappernd und knirschend aufeinander, Stöhnen, Jammern und Wutgeheul war zu hören, und all das schien durch den Nebel im einen Augenblick ganz weit weg, im nächsten erschreckend nah zu sein. Ein Reiter zeichnete sich in der grauen Suppe ab, und West keuchte und hob sein Schwert. Die Nebelschwaden zogen vorbei. Es war nur ein Wagen mit Versorgungsgütern, auf dem sich Fässer stapelten und vor dem ganz still ein Maultier stand, während der Kutscher ausgestreckt auf dem Boden lag; ein Speer ragte aus seinem Rücken.
»Hier entlang«, zischte West und hielt darauf zu, wobei er versuchte, auf den schlammigen Wegen zu bleiben. Die Wagen, das war gut. Die Wagen wiesen auf den Versorgungszug hin, auf die Nahrungsmittel und die Feldscher. Die Wagen bedeuteten, dass sie sich aus dem Tal hinausbewegten, zumindest weg von der Front, wenn es überhaupt noch eine gab. West dachte einen Augenblick nach. Die Wagen, das war schlecht. Wagen waren Beute. Die Nordmänner würden raublüstern von ihnen angezogen werden wie Fliegen von einem Honigtopf. Er deutete in den Nebel hinein, weg von den leeren Karren, den zerbrochenen Fässern, den ausgekippten Truhen, und die anderen folgten ihm leise. Nur ihre schmatzenden Schritte auf dem nassen Boden und ihr heiserer Atem waren zu hören.
Sie kämpften sich weiter voran über offenes Gelände und dreckige Klumpen nassen Grases, bis der Boden allmählich anstieg. Die anderen überholten ihn, und er winkte sie vorüber. Ihre einzige Aussicht bestand darin, in Bewegung zu bleiben, aber jeder Schritt fiel ihm schwerer und schwerer. Aus der Wunde am Kopf sickerte Blut in sein Haar und lief ihm seitlich das Gesicht herunter. Der Kopfschmerz wurde immer schlimmer statt besser. Er fühlte sich schwach, elend, und ihm war furchtbar schwindlig. Verzweifelt umklammerte er das Heft des schweren Schwertes, als ob es ihn aufrichten könnte, aber er ging immer gebeugter und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Cathil.
»Weiter mit Ihnen!«, presste er hervor. Er konnte Hufschlag hören, jedenfalls glaubte er das. Die Angst trieb ihn voran, nur die Angst. Er sah die anderen vor sich, wie sie mühsam weitergingen. Prinz Ladisla war weit voraus, dann kam Pike und dann Cathil, die sich immer wieder zu ihm umwandte. Vor ihnen lag ein Grüppchen Bäume, wie er durch den Nebel erkennen konnte, der allmählich dünner wurde. Er konzentrierte sich auf ihre geisterhaften Schemen und hielt auf sie zu, und sein Atem fuhr heiser durch seine Kehle, als er sich den Abhang hinaufschleppte.
Er hörte Cathils Stimme. »Nein.« Während das Entsetzen in ihm hochkroch, wandte er sich um. Er sah die Umrisse eines Reiters nicht weit von ihnen entfernt.
»Laufen Sie zu den Bäumen!«, keuchte er. Sie bewegte sich nicht, daher packte er ihren Arm und schubste sie vorwärts, wobei er selbst vornüber in den Morast fiel. Mühsam kam er wieder auf die Füße, richtete sich auf und stolperte von ihr weg, weg von den Bäumen, weg vom sicheren Schutz. Er lief seitlich über den Abhang. Der Nordmann zeichnete sich immer klarer ab, als er ihm durch den Nebel entgegenkam. Nun hatte er auch West entdeckt und trottete mit gesenktem Speer auf ihn zu.
West bewegte sich weiter seitwärts voran. Ihm brannten die Beine, die Lungen, und er setzte die letzte verbliebene Stärke ein, um den Reiter von den anderen wegzulocken. Ladisla hatte die Bäume bereits erreicht. Pike verschwand gerade im Unterholz. Cathil warf einen letzten Blick über ihre Schulter, dann folgte sie ihm. West konnte nicht mehr weiter. Er blieb stehen, sank am Berghang zu Boden, zu müde, um auch nur stehen zu bleiben. Von Kämpfen war gar nicht zu reden. Er sah, wie der Nordmann näher kam. Die Sonne brach durch die Wolken und schimmerte auf der Spitze seines Speers. West hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn sie aufeinandertrafen. Außer sterben.
Dann richtete sich der Reiter im Sattel auf und griff sich an die Hüfte. Dort waren Federn. Graue Federn, die der Wind bewegte. Er stieß einen kurzen Schrei aus. Der Schrei brach ab, und er starrte West an. Eine Pfeilspitze ragte aus seinem Hals. Der Speer fiel ihm aus den Händen, und der Reiter rutschte allmählich seitlich aus dem Sattel. Sein Pferd trottete weiter in leichtem Bogen den Abhang hinauf und blieb dann stehen.
West blieb einen Augenblick niedergekauert am Boden, ohne zu begreifen, auf welche Weise er da gerade dem Tod entronnen war. Er stolperte auf die Bäume zu, jeder Schritt kostete ihn Überwindung, seine Gelenke fühlten sich so wacklig an wie bei einer Marionette. Seine Knie gaben nach, und er ließ sich ins Unterholz fallen. Kräftige Finger machten sich an seiner Kopfwunde zu schaffen, und er hörte in Nordisch gemurmelte Worte. »Ah«, schrie West und zwang sich, die Augen einen Spalt breit zu öffnen.
»Hör auf zu jammern.« Der Hundsmann blickte auf ihn herab. »Ist bloß eine Schramme. Du bist noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Der kam genau auf mich zu, aber du hattest trotzdem Glück. Ich bin dafür bekannt, dass ich auch mal danebenschieße.«
»Glück«, machte West kraftlos. Er drehte sich auf dem nassen Farnkraut um und versuchte, zwischen den Baumstämmen hindurch ins Tal hinunterzublicken. Der Nebel begann sich endlich zu verziehen und enthüllte eine Spur zerstörter Wagen, zertretener Gegenstände, verdrehter Körper. Die hässlichen Überbleibsel einer schrecklichen Niederlage. Oder eines schrecklichen Sieges, wenn man zu Bethod hielt. Ein paar hundert Meter entfernt sah er einen Mann, der verzweifelt auf eine weitere Baumgruppe zulief. Vielleicht ein Koch, seiner Kleidung nach zu urteilen. Ein Reiter folgte ihm, den Speer unter den Arm geklemmt. Beim ersten Versuch stach er daneben, erwischte den Mann aber beim zweiten Mal und schleuderte ihn zu Boden. West hätte entsetzt sein sollen, als er beobachtete, wie der Reiter zu dem hilflosen Flüchtigen hinüberritt und ihn erstach, aber er empfand nur schuldbewusste Freude. Darüber, dass es nicht ihn erwischt hatte.
An den Hängen des Tales waren weitere Gestalten unterwegs, weitere Reiter. Dort spielten sich noch mehr blutige Dramen ab, aber West ertrug den Anblick nicht mehr. Er wandte sich ab und tauchte ein in die willkommene Sicherheit des Unterholzes.
Der Hundsmann lachte leise vor sich hin. »Dreibaum wird sich bepissen, wenn er sieht, was ich mir eingefangen habe.« Er deutete nacheinander auf die zusammengewürfelte, erschöpfte, schlammbespritzte kleine Gruppe. »Den halbtoten Oberst West, ein Mädchen mit einem blutigen Hammer, einen Mann mit einem Gesicht wie die Unterseite eines Kochtopfs, und den hier, der, wenn mich nicht alles täuscht, für das ganze Desaster verantwortlich ist. Bei den Toten, das Schicksal spielt einem seltsame Streiche.« Er schüttelte bedächtig den Kopf, grinste zu dem noch immer auf dem Rücken liegenden West hinunter, der wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte. »Dreibaum … wird sich … bepissen.«