BIS SONNENUNTERGANG

»He!« Eine ruppige Hand riss Glokta aus dem Schlaf. Er hatte auf der Seite gelegen, drehte nun hurtig den Kopf und biss die Zähne zusammen, als es in seinem Hals knackte. Kommt der Tod in den frühen Morgenstunden, heute vielleicht? Vorsichtig öffnete er die Augen einen Spalt breit. Ah. Nein, noch nicht, so wie es aussieht. Vielleicht dauert es noch bis zur Mittagsstunde. Vitari sah auf ihn herunter, und ihr stachliges Haar hob sich schwarz gegen die frühe Morgensonne ab, die durch das Fenster hereindrang.

»Na gut, Praktikalin Vitari, wenn Sie mir so gar nicht widerstehen können. Sie werden allerdings oben liegen müssen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Ha, ha. Der gurkhisische Gesandte ist da.«

»Der was?«

»Ein Gesandter. Vom Imperator persönlich, habe ich gehört.«

Glokta fühlte, wie Panik in ihm aufwallte. »Wo?«

»Hier in der Zitadelle. Er spricht mit dem Regierungsrat.«

»Verdammte Scheiße!«, fauchte Glokta und wand sich aus dem Bett, wobei er den stechenden Schmerz in seinem Bein ignorierte, als er seinen zerquälten linken Fuß schwungvoll auf den Boden setzte. »Warum hat man nicht nach mir geschickt?«

Vitari sah ihn abfällig an. »Vielleicht wollten die anderen lieber allein mit ihm reden. Meinen Sie nicht auch, so könnte es gewesen sein?«

»Wie, zur Hölle, ist er in die Stadt gekommen?«

»Er ließ sich von einem Boot unter Parlamentärsflagge an Land setzen. Vissbruck sagte, es sei seine Pflicht gewesen, ihn hineinzulassen.«

»Seine Pflicht!«, stieß Glokta wütend hervor, während er sich mühte, seine Hosen über das gefühllose, zitternde Bein zu ziehen. »Diese fette Sau! Wie lange ist er schon hier?«

»Lange genug, damit er und der Rat hübsche Scherereien aushecken konnten, falls sie das vorhatten.«

»Scheiße!« Mit verzerrtem Gesicht zog sich Glokta das Hemd über den Kopf.

 

Der gurkhisische Gesandte war zweifelsohne ein Mann von majestätischer Ausstrahlung. Er hatte eine große, gebogene Nase, seine Augen leuchteten äußerst klug, und sein langer, dünner Bart war ordentlich gebürstet. In sein weites weißes Gewand und in die hohe Kopfbedeckung war ein Goldfaden eingewebt, der in der hellen Sonne glänzte. Der Gesandte stand Ehrfurcht gebietend hoch aufgerichtet da, den langen Hals gereckt, das Kinn nach vorn geschoben, sodass er stets auf alles hinuntersah, was er einer genaueren Betrachtung für würdig hielt. Mit seiner großen, dünnen Gestalt ließ er den luftigen, reich dekorierten Saal schäbig und unangemessen wirken. Er könnte selbst als Kaiser durchgehen.

Glokta war sich schmerzhaft bewusst, wie gebeugt und linkisch er wirken musste, als er schwitzend und mit verzerrtem Gesicht in den Audienzsaal schlurfte. Die elende Krähe tritt vor den eleganten Pfau. Dennoch, Schlachten werden nicht unbedingt von den Schönsten gewonnen. Welch ein Glück für mich.

Am langen Tisch gab es überraschend viele leere Plätze. Nur Vissbruck, Eider und Korsten dan Vurms waren anwesend, und keiner von ihnen sah besonders glücklich aus, als er eintrat. Und das sollten sie auch nicht, diese Hunde.

»Ist der Lord Statthalter heute nicht da?«, bellte er.

»Mein Vater ist unpässlich«, brummte Vurms.

»Wie schade, dass Sie nicht an seiner Seite bleiben und ihn aufopferungsvoll pflegen konnten. Was ist mit Kahdia?« Niemand sagte etwas. »Sie dachten wohl, er könnte ein Treffen mit dem da nicht aushalten, was?« Er machte eine unhöfliche Kopfbewegung in Richtung des Gesandten. »Wie schön, dass Sie drei in dieser Hinsicht mehr vertragen. Ich bin Superior Glokta, und im Gegensatz zu dem, was Sie mittlerweile vielleicht gehört haben mögen, habe ich hier den Oberbefehl. Entschuldigen Sie mein spätes Eintreffen, aber es hat mir keiner gesagt, dass Sie kommen.« Er sah Vissbruck mit einem bohrenden Blick an, aber der General gab sich Mühe, seinen Augen auszuweichen. So ist es recht, Sie prahlerischer Hanswurst. Das werde ich Ihnen nicht vergessen.

»Mein Name ist Schabbed al Islik Burai.« Der Gesandte beherrschte die Gemeine Sprache perfekt und redete mit einer Stimme, die genauso mächtig, befehlsgewohnt und hochmütig war wie sein Auftreten. »Ich komme als Gesandter des rechtmäßigen Herrschers des ganzen Südens, dem mächtigen Imperator des mächtigen Gurkhul und aller kantesischen Länder, Uthman-ul-Dosht, geliebt, gefürchtet und über alle Menschen im Weltenrund erhaben, gesalbt von der rechten Hand Gottes, dem Propheten Khalul höchstselbst.«

»Wie schön für Sie. Ich würde mich verbeugen, aber ich habe mir leider beim Aufstehen den Rücken verrenkt.«

Islik zeigte die Andeutung eines abfälligen Lächelns. »Wohl eher eine Kriegsverletzung. Ich bin gekommen, um Ihre Kapitulation anzunehmen.«

»Tatsächlich?« Glokta zog sich den nächsten Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. Ich will verdammt sein, wenn ich nur wegen dieses ewig großen Dummkopfs auch nur einen Augenblick länger hier herumstehe. »Ich dachte, derartige Angebote würden üblicherweise im Anschluss an die Kampfhandlungen gemacht.«

»Wenn es zu Kämpfen kommen wird, dann werden diese nicht lange dauern.« Der Gesandte schritt über die Fliesen zum Fenster. »Ich sehe fünf Legionen, die bereits in Schlachtordnung auf der Landenge stehen. Zwanzigtausend Speere, und sie sind nur ein Bruchteil dessen, was noch kommen wird. Die Truppen des Imperators sind zahlreicher als Sandkörner in der Wüste. Sich uns zu widersetzen wäre so sinnlos, als wolle man die Flut eindämmen. Das wissen Sie.« Sein Blick wanderte stolz über die schuldbewussten Gesichter der Ratsmitglieder, bevor er mit durchdringender Verachtung bei Glokta verharrte. Der Blick eines Mannes, der glaubt, bereits gewonnen zu haben. Man kann ihm auch nicht verübeln, dass er so denkt. Vielleicht hat er das.

»Nur Narren oder Verrückte würden angesichts einer solchen Übermacht zu kämpfen versuchen. Sie, die Rosigs, gehörten niemals hierher. Der Imperator bietet Ihnen die Gelegenheit, den Süden lebend zu verlassen. Öffnen Sie uns die Tore der Stadt, und wir werden Sie verschonen. Sie können mit Ihren kleinen Booten auslaufen und wieder zu Ihrer kleinen Insel segeln. Niemand soll sagen, Uthman-ul-Dosht sei nicht großzügig. Gott kämpft auf unserer Seite. Ihre Sache ist verloren.«

»Oh, ich weiß nicht, wir haben uns im letzten Krieg ganz gut geschlagen. Ich bin sicher, dass wir alle uns noch bestens an die Eroberung von Ulrioch erinnern. Ich jedenfalls tue es. Die Stadt brannte lichterloh. Vor allem die Tempel.« Glokta zuckte die Achseln. »An jenem Tag war Gott wohl gerade anderswo.«

»An jenem Tag, vielleicht. Aber es gab andere Schlachten. Ich bin sicher, dass Sie sich auch an einen Ausfall erinnern, an einer Brücke, wo ein junger Offizier in unsere Hände fiel.« Der Gesandte lächelte. »Gott ist überall.«

Glokta spürte, wie seine Augenlider zuckten. Er weiß, dass ich nicht geneigt bin, zu vergessen. Er erinnerte sich an das Gefühl der Überraschung, als sich ein gurkhisischer Speer in seinen Körper bohrte. Überraschung, Enttäuschung und vor allem ein fürchterlicher Schmerz. Also doch nicht unverwundbar. Er erinnerte sich, wie sein Pferd gescheut und ihn aus dem Sattel geworfen hatte. Wie er zwischen den zutretenden Stiefeln und den Toten herumgekrochen war, nach Luft geschnappt hatte, den Mund voller Staub und Blut. Er erinnerte sich an den Schmerz, als die Klingen in sein Bein eingedrungen waren. Wie sich die Angst in Panik verwandelt hatte. Er erinnerte sich, wie man ihn schreiend und heulend von der Brücke geschleift hatte. In jener Nacht begannen sie mit ihren Fragen.

»Wir haben gewonnen«, sagte Glokta, aber sein Mund war trocken, und seine Stimme klang brüchig. »Wir haben uns als die Stärkeren erwiesen.«

»Damals, ja. Die Welt ist im Wandel begriffen. Die Verstrickungen Ihrer Nation im eisigen Norden stellen derzeit einen höchst beträchtlichen Nachteil dar. Sie haben es geschafft, die erste Regel der erfolgreichen Kriegsführung zu verletzen. Niemals einen Krieg an zwei Fronten führen.«

Seine Argumente lassen sich kaum entkräften. »Sie sind schon einmal an den Mauern von Dagoska gescheitert«, sagte Glokta, aber es klang nicht überzeugend, nicht einmal vor seinen eigenen Ohren. Das sind nicht die Worte eines Siegers. Er spürte, wie ihn Vurms und Vissbruck und Eider ansahen und ihre Blicke auf seinem Rücken brannten. Sie überlegen, wer wohl die Oberhand behält, und ich wüsste, für wen ich mich entscheiden würde, wenn ich an ihrer Stelle wäre.

»Vielleicht vertrauen einige von Ihnen mehr auf die Stärke Ihrer Mauern als andere. Ich erwarte Ihre Antwort bei Sonnenuntergang. Das Angebot des Imperators gilt nur für den heutigen Tag und wird kein zweites Mal ausgesprochen werden. Er ist gnädig, aber seine Gnade hat ihre Grenzen. Sie haben bis zum Sonnenuntergang Zeit.« Damit rauschte er aus dem Saal.

Glokta wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war, bevor er langsam seinen Stuhl umdrehte, um die anderen anzusehen. »Was, zur Hölle, war das denn?«, fauchte er Vissbruck an.

»Äh …« Der General fummelte an seinem schweißgetränkten Kragen herum. »Es oblag mir als Soldat, einem unbewaffneten Repräsentanten des Feindes Einlass zu gewähren, um seine Bedingungen …«

»Ohne mir etwas davon zu sagen?«

»Wir wussten doch, Sie hätten das gar nicht hören wollen!«, gab Vurms kurz angebunden zurück. »Aber er spricht die Wahrheit! Trotz unserer Bemühungen sind wir zahlenmäßig deutlich unterlegen, und wir können keine Verstärkung erwarten, während sich der Krieg in Angland weiter hinzieht. Wir sind doch nur eine Stecknadel im Fuß einer riesengroßen, feindlichen Nation. Es wäre für uns das Beste, wenn wir verhandelten, solange wir noch eine halbwegs starke Position innehaben. Sie können sicher sein, wenn die Stadt erst mal gefallen ist, wird es kein anderes Angebot geben als ein Massaker!«

Das ist wohl wahr, aber der Erzlektor wird anderer Meinung sein. Meine Aufgabe ist es nicht, die Bedingungen für eine Kapitulation auszuhandeln. »Sie sind ungewöhnlich still, Magisterin Eider.«

»Es steht mir nicht an, etwas zu den militärischen Erwägungen hinter einer solchen Entscheidung zu sagen. Aber wie es sich herausstellt, bietet er recht großzügige Bedingungen. Eines ist sicher. Wenn wir dieses Angebot ausschlagen und die Gurkhisen die Stadt später mit Gewalt erobern, dann wird es zu einem schrecklichen Gemetzel kommen.« Sie sah Glokta an. »Dann wird es keine Gnade mehr geben.«

All das ist nur zu wahr. Hinsichtlich der Gnade der Gurkhisen bin ich ja gewissermaßen Experte. »Also sind Sie alle drei für die Kapitulation?« Sie sahen einander an, sagten aber nichts. »Es ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass sie, sobald wir uns ergeben haben, diese kleine Abmachung vielleicht gar nicht einhalten werden?«

»Daran haben wir schon gedacht«, sagte Vissbruck, »aber sie haben sich früher durchaus schon an Vereinbarungen gehalten, und ein wenig Hoffnung«, er sah auf die Tischplatte vor sich, »ist sicher besser als gar nichts.« Sie haben mehr Vertrauen in unseren Feind als ich, könnte man meinen. Was nicht besonders überraschend ist. Mein eigenes Vertrauen dürfte selbst etwas größer sein.

Glokta wischte sich etwas Feuchtigkeit unter dem Auge weg. »Ich verstehe. Dann gehe ich davon aus, dass ich über sein Angebot nachdenken muss. Wir werden uns wieder versammeln, wenn unser gurkhisischer Freund zurückkehrt. Bei Sonnenuntergang.« Er holte ein wenig Schwung und verzog das Gesicht, als er sich aus dem Stuhl emporhievte.

»Sie werden darüber nachdenken?«, zischte ihm Vitari ins Ohr, als er den Audienzsaal verlassen hatte und den Gang entlanghumpelte. »Sie werden verdammt noch mal drüber nachdenken?«

»Ganz genau«, fauchte Glokta zurück. »Ich fälle hier die Entscheidungen!«

»Oder lassen sie sich vielmehr von diesen Würmern da diktieren!«

»Jeder von uns hat seine Aufgabe. Ich sage Ihnen ja auch nicht, was Sie in Ihre hübschen Berichte an den Erzlektor schreiben sollen. Wie ich mit diesen Würmern umgehe, geht Sie nichts an.«

»Geht mich nichts an?« Vitari packte Gloktas Arm, und er kam auf seinem schwachen Bein ins Wanken. Sie war stärker als sie aussah, viel stärker. »Ich habe Sult gesagt, Sie hätten alles im Griff!«, brüllte sie ihm ins Gesicht. »Wenn wir die Stadt verlieren, noch dazu ohne einen Kampf, dann kostet es uns beide den Kopf! Und mein Kopf geht mich sehr wohl etwas an, Krüppel!«

»Es ist kein Grund, in Panik auszubrechen«, knurrte Glokta. »Ich will genauso wenig als Wasserleiche unten an den Kais enden wie Sie, aber hier handelt es sich um eine sehr heikle Angelegenheit. Lassen wir sie doch denken, dass sie ihren Willen bekommen, denn dann wird auch niemand vorschnell handeln. Nicht, bevor ich gut vorbereitet bin. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, Praktikalin Vitari, dass dies das erste und letzte Mal ist, dass ich Ihnen meine Absichten erläutere. Und jetzt nehmen Sie Ihre verdammten Hände von mir.«

Sie zog die Hand nicht zurück, ihr Griff verstärkte sich vielmehr und packte Gloktas Arm so hart wie ein Schraubstock. Ihre Augen verengten sich, und harte Linien schnitten in ihr sommersprossiges Gesicht. Habe ich sie falsch eingeschätzt? Will sie mir vielleicht die Kehle durchschneiden? Der Gedanke entlockte ihm beinahe ein Lächeln. Aber Severard trat ausgerechnet in diesem Augenblick aus den Schatten des dämmrigen Flurs.

»Unglaublich, wenn man Sie beide so sieht«, erklärte er, als er auf sie zukam. »Es überrascht mich immer wieder, dass die Liebe an den unwahrscheinlichsten Orten keimt – und zwischen den unwahrscheinlichsten Menschen. Eine Rose, die auf dem steinigsten Boden gedeiht.« Er legte sich die Hände auf die Brust. »Es wärmt mein Herz.«

»Haben wir ihn erwischt?«

»Natürlich. Gleich, als er aus dem Audienzsaal kam.«

Vitaris Hand war schlaff geworden. Glokta schüttelte sie ab und schlug den Weg zu den Zellen ein. »Wieso kommen Sie nicht mit?«, rief er ihr über die Schulter hinweg zu und musste sich beherrschen, um nicht den Arm an der Stelle zu massieren, wo ihre Finger blaue Flecke hinterlassen hatten. »Das ist vielleicht auch etwas, das Sie im nächsten Bericht an Sult erwähnen können.«

Schabbed al Islik Burai sah sitzend wesentlich weniger majestätisch aus. Zumal er nun auf einem schartigen, fleckigen Stuhl in einer der engen, nach Schweiß riechenden Zellen unter der Zitadelle hockte.

»Ist es denn nun nicht besser, da wir uns auf einer Augenhöhe miteinander unterhalten? Es war doch ein wenig unangenehm, wie Sie von oben auf mich herabgesehen haben.« Islik verzog das Gesicht und sah zur Seite, als sei es unter seiner Würde, mit Glokta zu sprechen. Ein reicher Mann, der von Bettlern auf der Straße belästigt wird. Aber diese Vorstellung werden wir ihm schnell austreiben.

»Wir wissen, dass wir einen Verräter in unseren Mauern haben. Innerhalb des Regierungsrats höchstselbst. Vermutlich ist es einer der drei Würdenträger, denen Sie gerade Ihr kleines Ultimatum übermittelt haben. Sie werden mir sagen, wer es ist.« Keine Antwort. »Ich bin gnädig«, rief Glokta nun aus und machte eine weit ausholende Handbewegung, ganz wie der Gesandte selbst es nur wenige Minuten zuvor getan hatte, »aber meine Gnade hat Grenzen. Reden Sie.«

»Ich kam unter der Parlamentärsflagge hierher, ausgesandt vom Imperator höchstselbst! Es verstößt gegen das Kriegsrecht, einem unbewaffneten Gesandten Schaden zuzufügen!«

»Parlamentärsflagge? Kriegsrecht?« Glokta lachte leise. Severard lachte leise. Vitari lachte leise. Frost schwieg. »Gibt es das denn überhaupt noch? Sparen Sie sich diesen Blödsinn für Kinder wie Vissbruck. Erwachsene spielen das Spiel anders. Wer ist der Verräter?«

»Sie tun mir leid, Sie Krüppel! Wenn die Stadt fällt …«

Sparen Sie sich Ihr Mitleid. Sie werden es für sich selbst brauchen. Frosts Faust schlug beinahe geräuschlos in den Magen des Gesandten. Ihm quollen die Augen aus den Höhlen, sein Mund klappte auf, er hustete trocken, würgte beinahe, versuchte dann einzuatmen und hustete wieder.

»Seltsam, nicht wahr«, überlegte Glokta laut, während er dabei zusah, wie der Mann nach Luft rang. »Große Männer, kleine Männer, dünne Männer, dicke Männer, kluge Männer, dumme Männer, sie alle reagieren auf eine Faust im Magen weitgehend gleich. Erst denken sie, ihre Macht habe keine Grenzen. Einen Augenblick später können sie nicht einmal mehr atmen. Manchmal ist Macht nichts als ein Trick, den das Hirn einem vorgaukelt. Das haben mir Ihre Leute beigebracht, in den Verliesen unter dem Palast des Imperators. Dort gab es kein Kriegsrecht, das kann ich Ihnen versichern. Sie wissen alles über gewisse Ausfälle, gewisse Brücken und gewisse junge Offiziere, also wissen Sie auch, dass ich schon einmal genau dort war, wo Sie jetzt sitzen. Es gibt allerdings einen Unterschied. Ich war hilflos, aber Sie können diese unangenehme Situation jeden Augenblick beenden. Sie müssen mir lediglich erzählen, wer der Verräter ist, und dann werden Sie verschont.«

Islik war wieder zu Atem gekommen. Wobei sich jetzt ein guter Teil seines Hochmuts in Luft aufgelöst hat, und das vermutlich dauerhaft. »Ich weiß nichts von einem Verräter!«

»Tatsächlich nicht? Ihr Herr, der Imperator, schickt Sie zu Verhandlungen hierher und teilt Ihnen vorher nicht alle Fakten mit? Unwahrscheinlich. Aber wenn es stimmen sollte, dann wären Sie mir ja zu gar nichts nütze, oder?«

Islik schluckte. »Ich weiß nichts von einem Verräter.«

»Das werden wir sehen.«

Frosts große weiße Faust traf den Gesandten ins Gesicht. Der Schlag hätte ihn beinahe vom Stuhl gerissen, wenn die andere Faust des Albinos ihn nicht am Köpf erwischt hätte, bevor der zur Seite fuhr, ihm die Nase brach und ihn dann hinterrücks über die Stuhllehne zu Boden gehen ließ. Frost und Severard zogen ihn wieder auf die Beine, richteten den Stuhl auf und schleuderten den schwer atmenden Islik zurück auf die Sitzfläche. Vitari sah mit verschränkten Armen zu.

»Das ist alles sehr schmerzhaft«, sagte Glokta, »aber man kann die Schmerzen eine Weile aushalten, wenn man weiß, dass sie nicht allzu lange anhalten werden. Wenn sie nicht länger dauerten als, sagen wir, bis Sonnenuntergang. Um einen Mann schnell zu brechen, muss man ihm damit drohen, ihm dauerhaft etwas zu entziehen. Ihn auf eine Art zu verletzen, die nie wieder heilen wird. Ich weiß das.«

»Ahh!«, schrie der Gesandte und warf sich auf seinem Stuhl hin und her. Severard wischte die Klinge seines Messers an der weißen Robe in Höhe der Schulter ab, dann warf er ein Ohr auf den Tisch. Es lag einfach so auf dem Tisch: ein verlorenes, blutiges, fleischiges Halbrund. Glokta starrte es an. In einer glutheißen Zelle ganz wie dieser haben mich die Diener des Imperators über lange Monate hinweg zu dieser abstoßenden, verkrümmten Spottgestalt gemacht. Man hätte darauf hoffen können, dass die Möglichkeit, einem von ihnen dasselbe widerfahren zu lassen, mir einen Hauch von Vergnügen bereiten würde. Und dennoch fühlte er gar nichts. Nichts außer meinem eigenen Schmerz. Er verzog gequält das Gesicht, während er sein Bein ausstreckte und das Klicken im Knie spürte; dann zog er zischend die Luft durch das leere Zahnfleisch ein. Wieso also mache ich das?

Glokta seufzte. »Als Nächstes kommt ein Zeh. Dann ein Finger, dann ein Auge, eine Hand, Ihre Nase, und so weiter. Verstehen Sie? Es wird mindestens eine Stunde dauern, bis Ihr Verschwinden bemerkt wird, und wir arbeiten schnell.« Glokta deutete mit dem Kinn auf das abgetrennte Ohr. »Wir könnten bis dahin einen Stapel mit Ihren Körperteilen angehäuft haben, der gut einen Fuß hoch ist. Ich werde an Ihnen herumsäbeln, bis Sie nur noch aus einer Zunge und einem Sack voller Eingeweide bestehen, wenn es sein muss, aber ich werde herausbekommen, wer der Verräter ist, das verspreche ich Ihnen. Nun? Wissen Sie jetzt vielleicht etwas?«

Der Gesandte starrte ihn an, atmete schwer; dunkles Blut sickerte aus seiner hochherrschaftlichen Nase aufs Kinn, lief aus der Wunde seitlich am Kopf. Ist er sprachlos vor Schock, oder denkt er über seinen nächsten Schachzug nach? Letztlich spielt es keine Rolle. »Ich fange an, mich zu langweilen. Fangen Sie mit seinen Händen an, Frost.« Der Albino griff nach dem Handgelenk.

»Warten Sie!«, heulte der Gesandte. »Gott sei mir gnädig, warten Sie! Es war Vurms. Korsten dan Vurms, der Sohn des Statthalters!«

Vurms. Das ist schon fast zu offensichtlich. Aber dennoch, meist sind die offensichtlichen Antworten auch die richtigen. Dieser kleine Drecksack würde seinen eigenen Vater verkaufen, wenn er glaubte, dass er einen Käufer für ihn fände …

»Und die Frau, Eider!«

Glokta runzelte die Stirn. »Eider? Ganz sicher?«

»Sie hat es geplant! Sie hat die ganze Sache geplant!« Glokta saugte nachdenklich an seinem leeren Zahnfleisch. Es schmeckte schal. Ein wirklich scheußliches Gefühl der Enttäuschung, oder aber ist es das scheußliche Bewusstsein, es schon die ganze Zeit geahnt zu haben? Sie war die Einzige mit dem nötigen Hirn, dem Mut und dem Geld für Verrat. Eine Schande. Aber wir wissen es besser, als bei Geschichten auf einen glücklichen Ausgang zu hoffen.

»Eider und Vurms«, murmelte Glokta. »Vurms und Eider. Unser hässliches kleines Geheimnis ist bald aufgeklärt.« Er sah zu Frost hinüber. »Sie wissen, was Sie zu tun haben.«