AN DEN RAND DER WELT

Am Morgen des neunten Tages, den sie über die Berge gezogen waren, sah Logen das Meer. Nach einer weiteren anstrengenden Kletterpartie hatte er den Grat eines Berges erreicht, und da lag es. Der Pfad führte nun wieder abwärts, in flaches, weites Land, und dahinter lag der schimmernde Horizont. Er konnte es beinahe riechen, ein Hauch von Salz lag in jedem Atemzug. Beinahe hätte er gelächelt, hätte es ihn nicht so sehr an zu Hause erinnert.

»Das Meer«, flüsterte er.

»Der Ozean«, sagte Bayaz.

»Wir haben den westlichen Kontinent von einem Ufer zum anderen durchquert«, erklärte Langfuß und grinste über das ganze Gesicht. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Am Nachmittag waren sie noch näher herangekommen. Der Pfad hatte sich zu einer schlammigen Straße verbreitert, die von den umliegenden Feldern durch zerzauste Hecken getrennt war. Die Felder waren größtenteils braune Flächen umgepflügter Erde, aber einige waren auch grün von frischem Gras, mit kleinen Gemüsepflanzen oder mit grauem, geschmacklos aussehendem Wintergetreide bewachsen, dessen hohe Halme sich im Wind wiegten. Logen hatte nie viel vom Ackerbau verstanden, aber es war deutlich, dass hier jemand den Boden bestellt hatte, und das nicht vor allzu langer Zeit.

»Was für Leute leben hier draußen?«, fragte Luthar, der misstrauisch über die ungepflegten Felder sah.

»Die Abkömmlinge der Siedler aus alter Zeit. Als das Kaiserreich auseinanderbrach, blieben sie sich selbst überlassen. Aber sie kamen auf ihre Weise allein recht gut zurecht.«

»Habt ihr das gehört?«, zischte Ferro mit zusammengekniffenen Augen, die bereits nach einem Pfeil aus ihrem Köcher angelte. Logen hob lauschend den Kopf. Er hörte einige dumpfe Schläge aus großer Entfernung, dann eine Stimme, die der Wind dünn zu ihnen herübertrug. Er legte die Hand auf das Heft seines Schwertes und duckte sich. Vorsichtig kroch er näher an die niedrige Hecke heran und spähte darüber hinweg, Ferro an seiner Seite.

Zwei Männer kämpften inmitten eines gepflügten Felds mit einem Baumstumpf. Einer hackte mit einer Axt darauf ein, der andere sah zu, die Hände in die Hüften gestemmt. Logen schluckte beklommen. Die beiden sahen nicht besonders bedrohlich aus, aber das konnte täuschen. Es war lange her, seit sie ein lebendes Wesen getroffen hatten, das nicht versucht hatte, sie umzubringen.

»Ganz ruhig bleiben«, murmelte Bayaz. »Hier besteht keine Gefahr.«

Ferro warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das hast du schon mal behauptet.«

»Bringt hier niemanden um, bevor ich es euch nicht sage!«, zischte der Magus und rief dann Worte in einer Sprache, die Logen nicht kannte, während er grüßend den Arm über den Kopf schwenkte. Die zwei Männer fuhren herum und starrten sie mit offenem Mund an. Bayaz rief wieder. Die Bauern sahen einander an, dann legten sie ihr Werkzeug hin und gingen langsam auf sie zu.

Ein paar Schritte vor ihnen blieben sie stehen. Ein hässliches Paar, selbst in Logens Augen – kurz gewachsen, untersetzt, mit groben Zügen, in farblose Arbeitskleidung gehüllt, die geflickt und dreckig war. Ihre Blicke waren nervös auf die sechs Fremden gerichtet, vor allem auf ihre Waffen, als hätten sie solche Menschen oder solche Dinge noch nie zuvor gesehen.

Bayaz sprach in warmem Ton mit ihnen, lächelte, ruderte mit den Armen und deutete immer wieder zum Meer hinüber. Einer nickte, antwortete, zuckte die Achseln und deutete dann in die Richtung, in die der Weg führte. Er trat durch eine Lücke in der Hecke vom Feld auf die Straße, oder zumindest von weicher Erde auf harte Erde. Dann bedeutete er ihnen, ihm zu folgen, während sein Begleiter ihnen von der anderen Seite des Gebüschs misstrauisch zusah.

»Er wird uns zu Cawneil bringen«, sagte Bayaz.

»Zu wem?«, fragte Logen, aber der Magus antwortete ihm nicht. Er ging bereits mit großen Schritten dem Bauern hinterher.

 

Schwer legte sich die Abenddämmerung über den grimmigen Himmel, während sie ihrem schweigsamen Führer durch eine leere Stadt folgten. Er war ein ausgesprochen unansehnlicher Bursche, wie Jezal dachte, aber Bauern waren seiner Erfahrung nach nur selten hübsch; vermutlich war das auf der ganzen Welt nicht anders. Die Straßen waren staubig und verlassen, streckenweise überwachsen und von Unrat bedeckt. Viele Häuser waren verfallen, moosbepelzt und von Kletterpflanzen erstickt. Die wenigen, die offenbar noch bewohnt wurden, waren größtenteils ebenfalls ungepflegt.

»So wie es aussieht, ist auch hier der Glanz früherer Tage lang schon verblichen«, sagte Langfuß ein wenig enttäuscht. »Wenn es hier je welchen gab.«

Bayaz nickte. »Glanz ist heutzutage ein seltenes Gut.«

Vor den vernachlässigten Häusern erstreckte sich ein breiter Platz. Ein längst vergessener Gärtner hatte hier einmal einen Ziergarten angelegt, aber die Rasenflächen waren jetzt abgetreten, in den Blumenbeeten wucherte das Unkraut, und die Bäume waren nur noch verwitterte Krallen. Inmitten dieser Verwahrlosung erhob sich ein großes und beeindruckendes Gebäude, oder vielmehr ein Haufen aneinanderlehnender Gebäude verschiedenster Formen und Stilrichtungen. Drei hohe, runde, sich neigende Türme ragten aus ihrer Mitte zum Himmel, Türme, die ein gemeinsames Fundament teilten und weiter oben auseinanderstrebten. Einer war kurz unterhalb der Spitze abgebrochen, das Dach war lange schon eingestürzt und zeigte die nackten Dachsparren.

»Eine Bibliothek«, flüsterte Logen unterdrückt.

Für Jezal sah es gar nicht danach aus. »Das ist eine Bibliothek?«

»Die Große Bibliothek des Westens«, sagte Bayaz, als sie über den ungepflegten Platz in den Schatten der verfallenden Türme traten. »Hier machte ich die ersten zögernden Schritte im Erlernen der Hohen Künste. Hier lehrte mich mein Meister das Erste Gebot. Er lehrte es mich wieder und wieder, bis ich es fehlerlos in jeder bekannten Sprache aufsagen konnte. Es war ein Ort der Gelehrsamkeit, der Wunder und der größten Schönheit.«

Langfuß saugte an seinen Zähnen. »Die Zeit ist mit diesem Ort nicht gerade freundlich umgesprungen.«

»Die Zeit ist niemals freundlich.«

Ihr Führer sagte einige kurze Worte und deutete auf eine hohe Tür, von der die grüne Farbe überall abblätterte. Dann schlurfte er davon, nachdem er sie alle noch einmal mit tiefstem Misstrauen gemustert hatte.

»Heutzutage will einem einfach niemand mehr gute Dienste leisten«, bemerkte der Erste der Magi und sah verärgert dem Bauern nach, dann hob er seinen Stab und klopfte dreimal kräftig an die Tür. Es folgte ein längeres Schweigen.

»Bibliothek?«, hörte Jezal Ferro das ihr unvertraute Wort noch einmal wiederholen.

»Für Bücher«, erklärte Logen.

»Bücher«, schnaubte sie. »Was für eine verdammte Zeitverschwendung.«

Hinter dem Tor waren nun unbestimmte Geräusche zu hören: Offenbar näherte sich innen jemand, der die ganze Zeit gereizt vor sich hin murmelte. Dann klickten und knirschten mehrere Schlösser, und die wettergegerbte Tür schwang quietschend auf. Ein Mann in fortgeschrittenem Alter und mit ausgeprägtem Buckel starrte sie verblüfft an, ein unverständlicher Fluch blieb ihm im Hals stecken, während eine brennende Kerze sein runzliges Gesicht von einer Seite ein wenig erleuchtete.

»Ich bin Bayaz, der Erste der Magi, und ich wünsche Cawneil zu sprechen.« Der Diener starrte ihn unverwandt an. Jezal erwartete beinahe, dass ihm ein wenig Speichel aus dem zahnlosen Mund tropfen würde, nachdem er ihn so weit geöffnet hielt. Offenbar kamen hier nicht allzu oft Besucher vorbei.

Die flackernde Kerze reichte nicht annähernd aus, um die weite Halle hinter dem Tor auszuleuchten. Schwere Tische bogen sich unter halsbrecherisch aufgetürmten Bücherstapeln. An jeder Wand standen hohe Regale, so hoch, dass sie sich in dem Dämmerlicht über ihren Köpfen verloren. Schatten zuckten über ledergebundene Buchrücken aller Größen und Farben, über Bündel loser Pergamente und über Schriften, die nachlässig aufgerollt zu schiefen Pyramiden gestapelt waren. Licht funkelte und blitzte über silberne Verzierungen, goldene Ornamente und verstaubte Juwelen, die dicke Bände von beängstigendem Umfang schmückten. Eine lange Treppe, das Geländer vom Vorbeigleiten zahlloser Hände blank gescheuert und die Stufen in der Mitte vom Darübereilen zahlloser Füße ausgetreten, schwang sich inmitten dieser Anhäufung uralten Wissens hinunter. Auf jeder Fläche lag eine dicke Staubschicht. Eine besonders kräftige Spinnwebe verklebte sich in Jezals Haaren, als er die Schwelle überschritt, und er versuchte sie mit angeekeltem Gesicht wieder zu entfernen.

»Die Dame des Hauses«, schnaufte der Türsteher mit eigentümlichem Akzent, »hat sich bereits auf ihre Lagerstatt begeben.«

»Dann weckt sie«, gab Bayaz kurz zurück. »Der Tag verdunkelt sich, und ich bin in Eile. Wir haben keine Zeit für …«

»Sieh an, sieh an.« Eine Frau stand auf der Treppe. »Wirklich dunkel ist die Stunde, wenn alte Geliebte wieder an meine Tür klopfen.« Eine tiefe Stimme, zähflüssig wie Sirup. Sie schwebte die Stufen mit übertriebener Langsamkeit hinab, und die langen Nägel ihrer einen Hand fuhren über das gewundene Geländer. Sie schien wohl mittleren Alters zu sein: groß, dünn, elegant, mit einem Vorhang langen schwarzen Haars, das ihr halbes Gesicht verdeckte.

»Schwester. Wir haben Dringendes zu besprechen.«

»Ach, haben wir das?« Das eine Auge, das Jezal sehen konnte, war groß, dunkel, schwerlidrig und von leicht entzündetem, tränendem Rosa eingefasst. Gemächlich, träge, beinahe schläfrig glitt es über die Reisenden. »Wie fürchterlich ermüdend.«

»Ich bin erschöpft, Cawneil, ich habe keine Lust auf deine Spielchen.«

»Wir sind alle erschöpft, Bayaz. Wir sind alle schrecklich erschöpft.« Sie stieß einen langen, theatralischen Seufzer aus, als sie schließlich das Ende der Treppe erreicht hatte und über den unebenen Boden auf die Reisenden zuging. »Es gab eine Zeit, in der du nur zu bereit warst, mit mir zu spielen. Da hast du tagelang meine Spiele gespielt, wenn ich mich recht erinnere.«

»Das ist lange her. Die Zeiten ändern sich.«

Ein plötzlicher, beunruhigender Schatten des Zorns glitt über ihr Gesicht. »Die Zeiten verkommen, meinst du wohl! Aber dennoch«, ihre Stimme kehrte zu dem tiefen Flüstern zurück, »wir letzten Überlebenden des großen Ordens der Magi sollten zumindest versuchen, gesittet miteinander umzugehen. Komm denn, mein Bruder, mein Freund, mein Lieber, es gibt keinen Grund für unziemliche Hast. Der Tag neigt sich dem Ende, und es ist genug Zeit für euch alle, den Straßenstaub abzuwaschen, die stinkenden Lumpen abzulegen und sich fürs Abendessen umzukleiden. Dann können wir beim Essen reden, wie es sich für gesittete Menschen ziemt. Ich habe so selten Gäste, die ich bewirten kann.« Sie rauschte an Logen vorüber und sah den Nordmann von oben bis unten an. »Und du hast mir so raue Gäste mitgebracht.« Ihr Blick blieb an Ferro hängen. »So exotische Gäste!« Dann ließ sie einen langen Finger über Jezals Wange gleiten. »So ansehnliche Gäste!«

Jezal erstarrte, so peinlich berührt war er, und er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, dass sie sich solche Freiheiten herausnahm. Von nahem betrachtet war ihr schwarzes Haar an den Wurzeln grau, also vermutlich gefärbt. Ihre glatte Haut war von Fältchen durchzogen und hatte einen leicht gelblichen Stich, war also vermutlich dick gepudert. Ihr weißes Gewand war am Saum schmutzig, und auch an einem Ärmel war ein auffälliger Fleck. Sie schien so alt zu sein, wie Bayaz aussah, oder sogar noch älter.

Sie spähte in die Ecke, in der Quai stand, und runzelte die Stirn. »Welcher Art dieser Gast ist, bin ich mir nicht sicher … aber Ihr alle seid willkommen in der Großen Bibliothek des Westens. Willkommen …«

 

Jezal blinzelte in den Spiegel, das Rasiermesser schlaff in der fühllosen Hand.

Noch kurz zuvor hatte er über die Reise nachgedacht, die sich nun wohl ihrem Ende zuneigte, und sich dafür beglückwünscht, wie viel er gelernt hatte. Toleranz und Verständnis, Mut und Selbstaufgabe. Wie sehr er als Mann gereift war. Wie sehr er sich verändert hatte. Aber nun erschienen Glückwünsche nicht mehr angebracht. Der Spiegel war zwar alt und sein Bild darin dunkel und verzerrt, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sein Gesicht entstellt war.

Das angenehme Gleichmaß seiner Züge war für immer verloren. Sein perfekter Kiefer war scharf nach links gekippt, auf einer Seite schwerer als auf der anderen, und sein edles Kinn bog sich in nachlässigem Winkel zur Seite. Die Narbe begann auf seiner Oberlippe als eine kaum sichtbare Linie, hatte aber einen tiefen Riss in die untere geschlagen, die nun ein wenig herabhing und so aussah, als ob er ständig anzüglich grinste.

Keine seiner Bemühungen änderte daran etwas. Wenn er lächelte, wurde es noch schlimmer, dann zeigten sich die hässlichen Lücken zwischen seinen Zähnen, die eher zu einem Preisboxer oder einem Räuber passten als zu einem Offizier der Königstreuen. Das einzig Gute war, dass er auf der Heimreise vermutlich sterben und keiner seiner alten Freunde ihn je so verschandelt zu Gesicht bekommen würde. Ein wahrlich schwacher Trost.

Eine einsame Träne rollte in die Schüssel unter seinem Gesicht.

Dann schluckte er, holte stockend Luft und wischte sich die nasse Wange mit dem Unterarm ab. Er biss die Zähne zusammen, betrachtete Kinn und Kiefer in ihrer jetzigen Form und umklammerte fest das Rasiermesser. Der Schaden war getan, es gab kein Zurück mehr. Vielleicht war er jetzt ein hässlicherer Mensch, aber auch ein besserer, und zumindest war er, wie Logen gesagt hätte, noch am Leben. Er ließ das Messer aufblitzen und kratzte sich den stoppligen, ungleichmäßigen Bart von den Wangen, von der Stelle vor den Ohren, von seiner Kehle. Oberhalb der Lippen, am Kinn und rund um den Mund ließ er ihn stehen. Der Bart stand ihm, fand er, als er das Messer abtrocknete. Oder zumindest trug er ein wenig dazu bei, seinen Makel zu verdecken.

Er zog die Kleider an, die man für ihn bereitgelegt hatte. Ein muffig riechendes Hemd und Hosen von einem uralten und hoffnungslos unmodernen Schnitt. Beinahe hätte er über das unansehnliche Spiegelbild gelacht, das er bot, als er zum Essen fertig war. Die sorglosen Bewohner des Agrionts hätten ihn wohl kaum wiedererkannt. Fast erkannte er sich selbst nicht wieder.

Das abendliche Mahl entsprach jedoch in keiner Hinsicht den Erwartungen, die Jezal an den Tisch einer wichtigen historischen Persönlichkeit gehabt haben mochte. Das Silberzeug war dunkel angelaufen, die Teller abgenutzt und gesprungen, und der Tisch neigte sich derart zu einer Seite, dass Jezal ständig fürchtete, das gesamte Essen werde auf den dreckigen Boden rutschen. Die Gerichte servierte der zerlumpte Türsteher mit derselben Langsamkeit, mit der er ihnen auch geöffnet hatte, und jede Speise kam kälter und eingetrockneter auf den Tisch als die letzte. Den Anfang machte eine zähe Suppe, der jeglicher Geschmack fehlte. Dann ein Stück Fisch, das so lange über dem Feuer gewesen war, dass es sich beinahe in Asche verwandelt hatte, danach ein Stück Fleisch, das so kurz über dem Feuer gewesen war, dass es praktisch noch lebte.

Bayaz und Cawneil aßen in eisigem Schweigen und starrten einander über die Länge des Tisches hinweg auf eine Weise an, die allen Anwesenden ein mulmiges Gefühl vermittelte. Quai stocherte nur in seinem Essen herum, und seine dunklen Augen huschten aufmerksam zwischen den beiden ältlichen Magi hin und her. Langfuß widmete sich jedem Gang mit großer Hingabe und lächelte die ganze Gesellschaft unverwandt an, als ob sie alle ebenso viel Spaß haben müssten wie er. Logen hielt die Gabel in der Faust, hatte ein finsteres Gesicht aufgesetzt und stach auf seinen Teller ein, als wollte er mordlustige Schanka erlegen, während die aufgeplusterten Ärmel seines Oberkleids dabei gelegentlich ins Essen hingen. Was Ferro betraf, so zweifelte Jezal nicht daran, dass sie sehr wohl mit Besteck umzugehen wusste, aber offenbar hatte sie sich entschlossen, mit den Händen zu essen. Gleichzeitig starrte sie jeden, der es sich traute, ihr ins Gesicht zu blicken, so giftig an, als ob sie geradezu darauf wartete, dass ihr jemand verbot, die Finger zu benutzen. Sie trug noch die von der Reise beschmutzten Kleider, die sie die ganze letzte Woche über am Leib gehabt hatte, und Jezal fragte sich unwillkürlich, ob man ihr wohl ein Kleid zurechtgelegt hatte. Bei der Vorstellung verschluckte er sich beinahe.

Weder das Essen noch die Gesellschaft oder die Umgebung hätte sich Jezal freiwillig ausgesucht, aber andererseits waren ihnen vor ein paar Tagen die Vorräte ausgegangen. Seitdem hatte ihre Nahrung unter anderem aus ein paar bröseligen Wurzeln bestanden, die Logen an einem Berghang ausgebuddelt hatte, sechs winzigen Eiern, die Ferro aus einem hoch gelegenen Nest gestohlen hatte, und einigen Beeren von unaussprechlicher Bitterkeit, die Langfuß offensichtlich wahllos von einem Strauch gepflückt hatte. Jezal hätte inzwischen sogar mit Appetit seinen Teller gegessen. Mit gerunzelter Stirn bearbeitete er das knorpelige Fleisch und fragte sich, ob der Teller nicht vielleicht auch die schmackhaftere Wahl gewesen wäre.

»Ist das Schiff noch seefest?«, knurrte Bayaz. Alle sahen auf. Die ersten Worte, die seit einer geraumen Zeit fielen.

Cawneils dunkles Auge sah ihn kalt an. »Meinst du das Schiff, mit dem Juvens und seine Brüder nach Schabulyan segelten?«

»Welches sonst?«

»Dann lautet die Antwort nein. Es ist nicht mehr seefest, sondern auf seiner alten Helling zu grünem Moder verrottet. Aber keine Sorge. Ein anderes wurde gebaut, das ebenfalls verrottete, und dann wieder eins. Die jüngste Ausgabe schaukelt auf den Gezeiten am Ufer, mit Kraut und Muscheln bewachsen, aber stets bemannt und mit allem Nötigen versorgt. Ich habe das Versprechen nicht vergessen, das ich meinem Meister gab. Meine Verpflichtungen habe ich erfüllt.«

Bayaz’ Brauen zogen sich verärgert zusammen. »Das soll wohl heißen, im Gegensatz zu mir?«

»Das habe ich nicht gesagt. Wenn du in meinen Worten einen Vorwurf hörst, dann ist es wohl dein eigenes Schuldgefühl, das dich dazu bringt. Ich stelle mich auf niemandes Seite, wie du weißt. Das habe ich nie getan.«

»Das sagst du so, als ob Trägheit die größte aller Tugenden wäre«, brummte der Erste der Magi.

»Manchmal ist sie das, wenn Handeln bedeutet, an eurem Kleinkrieg teilzunehmen. Du vergisst, Bayaz, dass ich all das schon einmal gesehen habe, mehr als einmal, und mir erscheint es nur noch als ein ermüdendes Muster. Die Geschichte wiederholt sich. Der Bruder kämpft gegen den Bruder. Wie Juvens gegen Glustrod kämpfte, Kanedias gegen Juvens, so kämpft Bayaz jetzt gegen Khalul. Kleinere Männer in einer größeren Welt, aber mit demselben Hass und ebenso wenig Gnade. Wird diese elende Rivalität ebenso enden wie die anderen? Oder noch schlimmer?«

Bayaz schnaubte. »Lass uns doch nicht so tun, als ob dich das kümmert oder dich weiter als zehn Schritte von deinem Ruhebett locken würde.«

»Es kümmert mich nicht. Das gebe ich ehrlich zu. Ich war nie wie du oder Khalul, oder auch nur wie Zacharus oder Yulwei. Ich habe keinen endlosen Ehrgeiz und keinen bodenlosen Hochmut.«

»Nein, den hast du nicht, du nicht.« Bayaz saugte angewidert an seinen Zähnen und warf klappernd die Gabel auf den Teller. »Nur endlose Eitelkeit und bodenlose Faulheit.«

»Ich habe kleine Laster und kleine Tugenden. Es hat mich nie interessiert, die Welt nach meinem eigenen großen Plan neu zu erschaffen. Ich war mit der Welt zufrieden, wie sie ist, und in dieser Hinsicht bin ich ein Zwerg unter euch Riesen.« Ihre schwerlidrigen Augen glitten langsam über die Gäste und ruhten kurz auf jedem Einzelnen. »Und dennoch, Zwerge zertreten niemand unter ihren Füßen.« Jezal hustete, als ihr suchender Blick ihn streifte, und wandte seine Aufmerksamkeit dem gummiartigen Fleisch zu. »Lang ist die Liste jener, über die du bei der Verwirklichung deiner ehrgeizigen Pläne hinweggetrampelt bist, nicht wahr, mein Lieber?«

Bayaz’ Missgestimmtheit legte sich schwer auf Jezal wie ein großer Stein. »Du musst nicht in Rätseln sprechen, Schwester«, knurrte der alte Mann. »Ich möchte wissen, was du meinst.«

»Ah, ich vergaß. Du bist jemand, der geradeheraus sagt, was er denkt, und jede Art von Täuschung ablehnt. Das hast du mir gesagt, nachdem du mir versichert hattest, du würdest mich niemals verlassen, kurz bevor du dann gingst, um eine neue Liebe zu finden.«

»Das habe ich nicht so gewählt. Du tust mir unrecht, Cawneil.«

»Ich tue dir unrecht?«, zischte sie, und jetzt bedrängte ihr Zorn Jezal schwer von der anderen Seite. »Wie denn das, Bruder? Bist denn nicht du gegangen? Hast denn nicht du dir eine neue Liebe gesucht? Hast nicht du den Schöpfer bestohlen, indem du erst seine Geheimnisse nahmst und dann seine Tochter?« Jezal wand sich und hob die Schultern; er fühlte sich wie eine Nuss, die in einem Schraubstock zerquetscht wird. »Tolomei, falls du dich an sie erinnerst!«

Bayaz’ düstere Miene verfinsterte sich noch mehr. »Ich habe meine Fehler gemacht, und ich bezahle heute noch für sie. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an sie denke.«

»Wie unglaublich edel von dir!«, fauchte Cawneil voller Verachtung. »Zweifelsohne würde sie vor Dankbarkeit in Ohnmacht fallen, wenn sie dich jetzt hören könnte! Auch ich denke an diesen Tag, immer mal wieder. Den Tag, an dem die Alte Zeit endete. Wie wir uns vor dem Haus des Schöpfers versammelten und nach Rache dürsteten. Wie wir all unsere Künste und all unseren Zorn aufboten und nicht einmal einen Kratzer auf dem Tor hinterließen. Wie du mit Tolomei in der Nacht flüstertest und sie batest, dich einzulassen.« Sie hob ihre runzligen Hände an die Brust. »Welch zärtliche Worte du gebrauchtest. Worte, von denen ich mir nie hätte träumen lassen, dass sie je aus deinem Munde kommen würden. Selbst eine Zynikerin wie ich war bewegt. Wie konnte eine Unschuldige wie Tolomei dir widerstehen und dir nicht öffnen, ob es nun um die Tore ihres Vaters ging oder um ihre Beine? Und was war ihr Lohn, Bruder, für ihre Opfer? Dafür, dass sie dir half, dir vertraute, dich liebte? Es muss eine wirklich dramatische Szene gewesen sein! Ihr drei da oben auf dem Dach. Eine närrische junge Frau, ihr eifersüchtiger Vater und ihr geheimer Liebhaber.« Sie schnaubte bitter auflachend. »Das war noch nie eine glückliche Zusammenstellung, aber so übel endete es trotzdem selten. Vater und Tochter, alle beide. Der tiefe Sturz hinunter auf die Brücke!«

»Kanedias kannte kein Erbarmen«, sagte Bayaz, »noch nicht einmal für sein eigenes Kind. Er warf sie vor meinen Augen vom Dach. Wir kämpften, und ich stürzte ihn in Flammen hinunter. So wurde unser Meister gerächt.«

»Oh, gut gemacht!« Cawneil klatschte spöttisch in die Hände. »Ein glückliches Ende, sehnen wir uns nicht alle danach? Sag mir nur noch eines. Wieso weintest du so lange um Tolomei, wenn ich dich niemals dazu bringen konnte, auch nur eine einzige Träne zu vergießen? Hattest du entschieden, dass du die reinen Frauen bevorzugst, Bruder?« Damit klapperte sie voller Ironie mit den Wimpern, eine befremdliche Geste in diesem gealterten Gesicht. »Unschuld? Die flüchtigste und wertloseste aller Tugenden. Eine, auf die ich niemals Wert legte.«

»Vielleicht ist das dann das Einzige, zu dem du dich tatsächlich nie gelegt hast.«

»Sehr schön, mein Lieber, eine sehr lustige Bemerkung. Es war tatsächlich deine Schlagfertigkeit, die mir mehr gefiel als alles andere. Khalul war der geschicktere Liebhaber, das stimmt wohl, aber er hatte niemals deine Leidenschaft oder deinen Mut.« Sie spießte ein Stück Fleisch energisch mit ihrer Gabel auf. »Bis an den Rand der Welt zu reisen, in deinem Alter? Um jenes Ding zu stehlen, das unser Meister uns verbot? Das erfordert wirklich Kühnheit.«

Bayaz sah verächtlich auf den Tisch hinab. »Was weißt du von Kühnheit? Du, die in all den langen Jahren nichts geliebt hat außer sich selbst? Die nichts riskiert, nichts gegeben, nichts geschaffen hat? Du, die all die Gaben, die du von unserem Meister erhieltest, verfaulen lässt! Erzähle deine Geschichten dem Staub hier, Schwester. Sie kümmern niemanden, mich schon gar nicht.«

Die zwei Magi sahen einander in eisigem Schweigen an, und die Luft im Raum war dick von ihrer siedenden Wut. Die Beine von Neunfingers Stuhl scharrten sanft über den Boden, als er sich vorsichtig weiter vom Tisch entfernte. Ferro saß ihm gegenüber und trug einen Ausdruck tiefsten Misstrauens im Gesicht. Malacus Quai zeigte seine Zähne, die wilden Augen auf seinen Meister gerichtet. Jezal konnte nur dasitzen und den Atem anhalten und hoffen, dass diese unverständliche Streiterei nicht damit endete, dass jemand in Brand geriet. Schon gar nicht er.

»Nun«, murmelte Bruder Langfuß, »ich für meinen Teil würde unserer Gastgeberin gern für das hervorragende Essen danken …« Die zwei alten Magi straften ihn beide gleichzeitig mit einem erbarmungslosen Blick. »Jetzt, da wir nahe … an unserem Bestimmungsort sind … äh …« Und der Wegkundige schluckte und sah auf seinen Teller. »Ist ja auch egal.«

 

Ferro saß nackt da, ein Bein an die Brust gezogen, pulte an dem Schorf auf ihrem Knie und machte ein finsteres Gesicht.

Der Blick galt den schweren Wänden des Zimmers, vor allem, wenn sie sich das große Gewicht von all den alten Steinen vorstellte, die sie umgaben. Sie wusste noch gut, wie sie die Wände von Uthmans Palast angestarrt hatte, wie sie sich zu dem kleinen Fenster hochgezogen hatte, bis sie die Sonne auf ihrem Gesicht fühlte und von Freiheit träumen konnte. Sie erinnerte sich an das reibende Gefühl des Eisens um ihren Knöchel, an die lange dünne Kette, die so viel stärker war, als sie aussah. Wie sie damit gekämpft hatte, sie hatte mit den Zähnen und den Fingern versucht, sie aufzubrechen und an ihrem Fuß gezerrt, bis das Blut von der abgeschürften Haut rann. Sie hasste Mauern. Für sie waren sie stets die Klauen einer Falle.

Auch das Bett bedachte sie mit bösem Blick. Sie hasste Betten, Matratzen und Kissen. Weiche Dinge machen dich weich, und das konnte sie nicht gebrauchen. Sie erinnerte sich, wie sie in der Dunkelheit auf einem weichen Bett gelegen hatte, kurz nachdem sie versklavt worden war. Als sie noch ein Kind gewesen war, klein und schwach. Wie sie in der Dunkelheit gelegen und darum geweint hatte, allein sein zu dürfen. Ferro riss hart an dem Schorf und fühlte, wie Blut dahinter hervortrat. Sie hasste das weiche, dumme Kind, das zugelassen hatte, dass es in eine solche Falle geriet. Sie verabscheute die Erinnerung daran.

Aber vor allem traf ihr Blick Neunfinger, der auf dem Rücken lag, die Decken um ihn zerknautscht, den Kopf zurückgelegt und den Mund geöffnet. Er hatte die Augen geschlossen, der Atem fuhr sanft aus seiner Nase, und einen bleichen Arm hatte er in einem unbequem aussehenden Winkel abgeknickt. Er schlief wie ein Kind. Wieso hatte sie ihn gefickt? Und wieso tat sie es immer wieder? Nie hätte sie ihn anfassen dürfen. Nie hätte sie ihn ansprechen dürfen. Sie brauchte ihn nicht, den hässlichen, großen, närrischen Rosig.

Sie brauchte niemanden.

Sie erschauerte und kroch zu ihm zurück, wo es wärmer war. Er stöhnte im Schlaf und drehte sich auf die Seite. Ferro erstarrte und wäre beinahe aus dem Bett gesprungen. Sein Arm glitt über ihre Seite, und er brummte etwas in ihr Ohr, sinnlose Schlaflaute, sein Atem fuhr heiß gegen ihren Hals.

Sein großer warmer Körper gab ihr nicht mehr ganz so sehr das Gefühl, gefangen zu sein, wenn er sich an ihren Rücken schmiegte. Das Gewicht seiner bleichen Hand lastete sanft auf ihren Rippen, der schwere Arm, der sie umfing, fühlte sich beinahe … gut an. Das ließ sie noch finsterer dreinschauen.

Das Gute ist nie von langer Dauer.

Und sie schob ihre Hand auf seine und fühlte, wie sich seine Finger und der Stummel des einen, der fehlte, in die Zwischenräume ihrer eigenen Finger drückten, und sie tat so, als sei sie sicher und unversehrt. Was war Schlimmes daran? Sie hielt die Hand ganz fest und drückte sie gegen ihre Brust.

Weil sie wusste, dass es nicht von langer Dauer sein würde.