EINE FRAGE DER ZEIT
An Erzlektor Sult, Leiter der Inquisition Seiner
Majestät
Euer Eminenz,
seit sechs Wochen trotzen wir nun den Gurkhisen. Jeden Morgen
stellen sie sich unserem mörderischen Feuer, um Erde und Steine in
unseren Graben zu werfen, und jede Nacht lassen wir Männer von den
Mauern herunter, damit sie ihn wieder ausheben. Trotz all unserer
Mühen ist es ihnen jetzt jedoch gelungen, den Kanal an zwei Stellen
zu füllen. Täglich wagen nun kleine Einheiten Ausfälle, um Leitern
aufzustellen, und manchmal schaffen sie es tatsächlich bis zur
Brustwehr, wo sie jedoch aufs Blutigste zurückgeworfen
werden.
Währenddessen wurde der Beschuss mit Katapulten unvermindert
weitergeführt, und verschiedene Abschnitte der Landmauer sind
inzwischen gefährlich geschwächt. Sie wurden ausgebessert, aber
möglicherweise wird es nun nicht mehr lange dauern, bis die
Gurkhisen eine Bresche geschlagen haben, die ihnen die Erstürmung
der Stadt ermöglicht. Hinter der Landmauer wurden Barrikaden
errichtet, um sie zurückzuschlagen, falls sie es bis in die
Unterstadt schaffen sollten. Unsere Verteidigungsanlagen werden bis
zum Äußersten gefordert, aber niemand hier denkt an eine
Kapitulation. Wir werden weiterkämpfen.
Wie immer, Euer Eminenz, verbleibe ich Ihr gehorsamer
Diener,
Sand dan Glokta, Superior von Dagoska
Glokta hielt den Atem an und fuhr sich mit der Zunge über das Zahnfleisch, als er durch sein Fernrohr beobachtete, wie sich die Staubwolken über den Dächern der Elendsviertel allmählich legten. Das letzte Krachen und Rumpeln fallender Steine verebbte, und Dagoska war, für diesen einen Augenblick, seltsam still. Die Welt hält den Atem an.
Dann drang das entfernte Geheul zu ihm auf den Balkon, der von der Mauer der Zitadelle herausragte, hoch über der Stadt. Ein Geheul, das er auf den alten und neuen Schlachtfeldern immer wieder gehört hatte. Und das wirklich keine schönen Erinnerungen mit sich bringt. Das gurkhisische Kriegsgeheul. Der Feind kommt. Jetzt, das wusste er, machten sie einen Ausfall über das offene Gelände vor den Mauern, wie schon so oft in den vergangenen Wochen. Aber dieses Mal gibt es eine Bresche.
Er sah, wie sich winzige Figuren von Soldaten auf den staubbedeckten Mauern und Türmen auf beiden Seiten der Lücke bewegten. Dann senkte er sein Fernrohr, um den breiten Halbkreis der Barrikaden zu betrachten, die dreifache Reihe von Männern, die dahinter lauerten und darauf warteten, dass die Gurkhisen durchbrachen. Glokta blickte düster zu ihnen hinüber und bewegte seinen tauben linken Fuß im Stiefel hin und her. Eine recht mager wirkende Verteidigung, das kann man nicht anders sagen. Aber es ist alles, was wir haben.
Nun begannen gurkhisische Soldaten durch die gähnende Bresche zu stürmen, wie schwarze Ameisen, die aus einem Nest schwärmen; eine Gruppe aneinandergedrängter Männer, schimmernder Stahl, wehende Banner erschienen aus den Wolken braunen Staubes, mühten sich über den großen Berg herabgestürzter Mauerteile und gerieten sofort in einen Hagel von Flachbogenbolzen. Die Ersten, die eine Bresche stürmen. Eine wenig beneidenswerte Position. Die vorderen Reihen wurden beim Vormarsch niedergemäht, winzige Figuren, die den Schuttberg hinter den Mauern hinunterrollten und -kugelten. Viele blieben liegen, aber es kamen immer neue nach, schoben sich über die Leichen ihrer Kameraden, kämpften sich über die geborstenen Mauersteine und gebrochenen Balken vorwärts, hinein in die Stadt.
Jetzt drang neues Geheul zu ihm hinüber, und Glokta konnte mitverfolgen, wie die Verteidiger hinter den Barrikaden hervorstürmten und angriffen. Unionssoldaten, Söldner, Dagoskaner, alle warfen sich gegen die Bresche. Aus dieser Entfernung schien sich das Ganze mit absurder Langsamkeit zu vollziehen. Ein Fluss aus Öl und einer aus Wasser, die aufeinander zu tröpfeln. Sie trafen sich, und es wurde unmöglich, eine Seite von der anderen zu unterschieden. Eine auf und nieder brandende Masse, unterbrochen von funkelndem Metall, wogend wie das Meer, geschmückt von einer bunten Flagge oder zweien, die schlaff darüberhingen.
Die Schreie und Rufe hallten über die Stadt und wurden vom Wind mal hierhin, mal dorthin getragen. Schmerz und Wut, das Geschrei und der Lärm des Kampfes. Mal klang es wie ein entfernter Sturm, aus dem sich nichts klar hervorhob. Manchmal erreichte ein einzelner Ausruf oder ein Wort mit überraschender Klarheit Gloktas Ohr. Es erinnerte ihn an den Lärm der Menge beim Turnier. Mit dem kleinen Unterschied, dass hier keine stumpfen Klingen zum Einsatz kommen. Beide Seiten meinen es tödlich ernst. Wie viele Tote wird es an diesem Morgen wohl schon gegeben haben? Er wandte sich an General Vissbruck, der in seiner makellosen Uniform schwitzend neben ihm stand.
»Haben Sie schon einmal in einem solchen Gewühl gekämpft, Herr General? Ein direkter Kampf, Zeh an Zeh, auf Pikenstich, wie man sagt?«
Vissbruck sah weiterhin angestrengt durch sein Fernrohr. »Nein, das habe ich nicht.«
»Ich würde es auch nicht empfehlen. Ich habe es nur einmal erlebt, und ich lege keinen Wert darauf, diese Erfahrung zu wiederholen.« Glokta drehte den Knauf seines Stocks in der verschwitzten Hand hin und her. Nicht, dass das jetzt noch besonders wahrscheinlich ist. »Oft habe ich vom Pferderücken aus gekämpft. Kleine Infanterieeinheiten angegriffen, sie aufgebrochen und verfolgt. Eine sehr ehrenvolle Aufgabe, fliehende Männer niederzuschlagen, die mir jede Menge Ruhm eingetragen hat. Allerdings musste ich bald feststellen, dass der Kampf zu Fuß eine ganz andere Sache ist. Man prallt so sehr zusammen, dass man kaum noch Luft bekommt und schon gar nicht mehr daran denkt, irgendwelche Heldentaten zu vollbringen. Die Helden sind jene, die das Glück haben, so etwas zu überleben.« Er stieß ein freudloses Lachen aus. »Ich erinnere mich, dass ich gegen einen gurkhisischen Offizier gedrängt wurde, bis wir einander so nahe waren wie zwei Liebende, und keiner von uns war in der Lage, zu einem Schlag auszuholen oder überhaupt etwas anderes zu tun, als uns anzufletschen. Überall bohrten sich ganz ungezielt Speerspitzen hinein. Männer wurden auf die Waffen ihres eigenen Heeres gedrückt oder von den eigenen Leuten zertrampelt. Es kamen mehr Soldaten durch Unfälle ums Leben als aus Absicht.« Dieses ganze Geschäft ist ein einziger Unfall.
»Eine hässliche Sache«, murmelte Vissbruck, »aber sie muss erledigt werden.«
»In der Tat. In der Tat.« Glokta konnte eine gurkhisische Standarte ausmachen, die über das Gewühl ragte, der Seidenstoff flatterte zerrissen und fleckig im Wind. Von den Mauern wurden Steine herabgeschleudert und trafen die hilflos zusammengedrängten Männer, die sich nicht mehr bewegen konnten. Ein großer Kübel mit kochendem Wasser wurde von hoch oben in ihre Mitte geleert. Die Gurkhisen hatten bereits jegliche Schlachtordnung verloren, als sie die Bresche überwunden hatten, und nun begann die formlose Masse zu wanken. Die Verteidiger drängten sie von allen Seiten zusammen, gnadenlos, schoben mit Piken und Schilden, schlugen mit Degen und Äxten und trampelten die Gestürzten nieder.
»Wir treiben sie zurück!«, ertönte Vissbrucks Stimme.
»Ja«, erwiderte Glokta, der durch sein Fernrohr dem erbitterten Kampf zusah. »So sieht es aus.« Meine Begeisterung kennt keine Grenzen.
Die gurkhisischen Angreifer waren eingekreist, fielen nun in großer Zahl und stolperten bereits zurück, auf den Schuttberg der Bresche zu. Allmählich wurden die Überlebenden wieder aus der Stadt getrieben, zurück in das Niemandsland vor den Mauern, und nun schossen die Bogenschützen auf der Brustwehr in die fliehende Menge und verbreiteten Panik und Tod. Die lauten Freudenschreie der Verteidiger drangen vage zur Zitadelle empor.
Wieder ein Angriff zurückgeschlagen. Hunderte von Gurkhisen tot, aber es gibt immer noch mehr. Wenn sie durch die Barrikaden brechen und in die Unterstadt gelangen, sind wir erledigt. Sie können so oft wiederkommen, wie es ihnen gefällt. Wenn wir nur einmal verlieren, ist das Spiel vorbei.
»Wie es scheint, gehört der Tag uns. Dieser zumindest.« Glokta humpelte zur Ecke des Söllers und sah durchs Fernrohr nach Süden, auf die Bucht hinaus und auf das Südliche Meer. Nichts war zu entdecken außer ruhigem Wasser, das bis zum flachen Horizont hin glitzerte. »Und noch immer kein gurkhisisches Schiff in Sicht.«
Vissbruck räusperte sich. »Mit dem allergrößten Respekt …« Was wohl heißen soll, dass Sie keinen haben. »Die Gurkhisen waren nie ein Seefahrervolk. Gibt es Grund zu der Annahme, dass sie seit neuestem Schiffe besitzen?«
Es ist lediglich eines Nachts ein alter Zauberer in meinen Gemächern aufgetaucht und hat mich vor Schiffen gewarnt. »Nur weil man etwas nicht sieht, heißt es ja nicht, dass es nicht existiert. Der Imperator hat uns jetzt ohnehin schon in die Enge gedrängt. Vielleicht hält er seine Flotte noch in der Hinterhand, wartet auf einen günstigeren Augenblick und will uns nicht sein ganzes Blatt zeigen, solange er nicht dazu gezwungen ist.«
»Aber mit Schiffen könnten sie eine Blockade errichten, uns aushungern und unsere Verteidigungsanlagen umgehen! Er hätte all diese Soldaten nicht verschwenden müssen …«
»Wenn der Imperator von Gurkhul eines im Übermaß hat, Herr General, dann sind es weitere Soldaten. Sie haben eine Bresche geschlagen, die ihnen das Eindringen ermöglicht.« Glokta ließ den Blick über die Mauern gleiten, bis er die zweite Schwachstelle entdeckt hatte. Die Risse in der Wand waren an der Innenseite bereits deutlich zu erkennen. Das Mauerwerk war mit schweren Bohlen abgestützt, und man hatte Schutt dagegengehäuft, aber dennoch neigte es sich jeden Tag mehr nach innen. »Und bald werden sie eine zweite haben. Sie haben den Graben an vier Stellen zugekippt. Auf unserer Seite hingegen schwindet die Truppenstärke ebenso wie die Moral. Sie brauchen keine Schiffe.«
»Aber wir haben welche.« Glotka bemerkte überrascht, dass der General dicht an ihn herangetreten war und nun leise und drängend sprach, während er ihm direkt in die Augen sah. Wie ein Mann, der einen Heiratsantrag vorbringen – oder zum Verrat auffordern will. Was von beiden mag es wohl sein? »Es ist immer noch Zeit«, raunte Vissbruck, und seine Augen glitten nervös zur Tür und wieder zurück. »Wir beherrschen die Bucht. Solange wir die Unterstadt noch halten, halten wir auch die Kais. Wir können die Unionskräfte abziehen. Zumindest die Zivilisten. In der Zitadelle sind noch einige Frauen und Kinder der Offiziere, ein paar Kaufleute und Handwerker, die sich in der Oberstadt niedergelassen hatten, und die noch zögern, die Stadt zu verlassen. Es könnte ganz schnell erledigt werden.«
Glokta runzelte die Stirn. Möglicherweise stimmt das, aber die Befehle des Erzlektors lauten anders. Die Zivilisten können selbst bestimmen, was sie tun. Aber die Truppen der Union gehen nirgendwo hin. Außer auf ihre Scheiterhaufen natürlich. Vissbruck betrachtete sein Schweigen jedoch als Zustimmung. »Wenn Sie mir einen entsprechenden Befehl geben, dann könnte alles bis zum Abend erledigt sein, und alle wären verschwunden, bevor …«
»Und was stünde uns wohl bevor, Herr General, wenn wir wieder den Boden der Union betreten würden? Ein tränenreiches Wiedersehen mit unseren Oberbefehlshabern im Agriont? Einige von uns würden sicher Grund zum Weinen haben, da bin ich überzeugt. Oder meinen Sie, wir sollten die Schiffe nehmen und in die weite Ferne fahren, nach Suljuk vielleicht, und dort unser langes Leben friedlich beschließen?« Glokta schüttelte langsam den Kopf. »Es ist eine hübsche Idee, aber mehr auch nicht. Unser Befehl ist es, die Stadt zu halten. Eine Kapitulation kommt nicht infrage. Kein Rückzug. Kein Schiff in die Heimat.«
»Kein Schiff in die Heimat«, wiederholte Vissbruck bitter. »Während die Gurkhisen jeden Tag näher rücken, unsere Verluste sich erhöhen und der niederste Bettler in der Stadt sehen kann, dass wir die Landmauer nicht viel länger werden halten können. Meine Männer stehen kurz vor einer Meuterei, und auf die Söldner ist vergleichsweise sogar noch weniger Verlass. Was soll ich ihnen sagen, was schlagen Sie vor? Dass laut Befehl des Geschlossenen Rates ein Rückzug nicht infrage kommt?«
»Sagen Sie ihnen, dass wir jeden Tag Verstärkung erwarten.«
»Das sage ich ihnen schon seit Wochen!«
»Dann sollten ein paar weitere Tage ja keinen Unterschied machen.«
Vissbruck blinzelte. »Und dürfte ich wohl fragen, wann die Verstärkung tatsächlich eintreffen wird?«
»Wir rechnen täglich damit.« Gloktas Augen verengten sich. »Bis dahin harren wir aus.«
»Aber warum?« Vissbrucks Stimme wurde hoch wie die eines Mädchens. »Wozu? Die Aufgabe können wir unmöglich erfüllen! Welch eine Verschwendung! Warum, verdammt noch mal?«
Warum. Immer warum. Mich selbst langweilt die Frage inzwischen. »Wenn Sie meinen, dass ich wüsste, was im Kopf des Erzlektors vorgeht, dann sind Sie sogar noch ein größerer Idiot, als ich dachte.« Glokta saugte an seinem Zahnfleisch und dachte nach. »Hinsichtlich einer Sache haben Sie allerdings Recht. Die Landmauer kann jeden Augenblick einbrechen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, uns in die Oberstadt zurückzuziehen.«
»Aber … Wenn wir die Unterstadt aufgeben, verlieren wir den Zugang zu den Kais! Dann kann keine Verpflegung mehr hereingebracht werden! Und auch keine Verstärkung, wenn sie denn tatsächlich einmal kommen sollte! Erinnern Sie sich noch an den Vortrag, den Sie mir gehalten haben, Herr Superior? Dass die Mauern der Oberstadt zu lang und zu schwach sind? Dass die Stadt verloren ist, wenn die Landmauer fällt? Dort müssen wir uns verteidigen, oder gar nicht, das haben Sie mir selbst gesagt! Wenn die Kais verloren sind … dann gibt es keine Fluchtmöglichkeit mehr!« Mein lieber, dicker Pudding von einem General, begreifen Sie denn nicht? Flucht war niemals eine Möglichkeit.
Glokta grinste und zeigte Vissbruck die gähnenden Löcher in seinem Gebiss. »Wenn ein Plan versagt, müssen wir eben auf einen anderen zurückgreifen. Wie Sie gerade eben so klug offengelegt haben, befinden wir uns in einer recht verzweifelten Situation. Glauben Sie mir, ich hätte es auch lieber, wenn der Imperator einfach aufgeben und nach Hause gehen würde, aber ich glaube, darauf dürfen wir nicht zählen, oder was meinen Sie? Benachrichtigen Sie Cosca und Kahdia, dass heute Nacht alle Zivilisten die Unterstadt räumen müssen. Es könnte sein, dass wir sehr plötzlich zu einem Rückzug gezwungen werden.« Wenigstens muss ich dann nicht mehr so weit humpeln, um bis an die Frontlinien zu kommen.
»Die Oberstadt kann doch so viele Menschen kaum aufnehmen! Sie werden in den Straßen kampieren!« Besser, als wenn sie in einem Grab vermodern. »Sie werden auf den Plätzen und in Eingängen schlafen!« Besser, als wenn sie unter der Erde schlafen. »Es sind Tausende dort unten.«
»Dann fangen Sie am besten so früh wie möglich an.«
Glokta zuckte fast zurück, als er durch die Tür trat. Die Hitze war beinahe unerträglich, und der Gestank von Schweiß und verbranntem Fleisch kratzte in seiner Kehle.
Er wischte sich mit dem Rücken seiner zitternden Hand die Augen, in denen schon wieder Tränen standen, und spähte angestrengt ins Dunkel. Allmählich nahmen die drei Praktikalen in dem düsteren Raum Gestalt an. Sie standen eng beieinander, und ihre maskierten Gesichter wurden von unten vom zornigen Orangerot der Kohlenpfanne angestrahlt, harte, hell hervortretende Konturen, harte dunkle Schatten. Teufel, in der Hölle.
Vitaris Hemd war völlig durchgeschwitzt und klebte an ihren Schultern, wütende Falten waren in ihr Gesicht eingegraben. Severard stand mit nacktem Oberkörper da, sein heftiger Atem wurde durch die Maske gedämpft, das glatte Haar glänzte vor Schweiß. Frost war so nass, als ob er gerade aus dem Regen käme, dicke Tropfen rannen über seine bleiche Haut, die Kinnbacken waren angespannt und traten vor. Die Einzige, die nicht erkennen ließ, dass sie sich irgendwie unbehaglich fühlte, war Schickel. Das Mädchen lächelte ekstatisch, als Vitari ihr das Brandeisen auf die Brust setzte. Als wäre das gerade der glücklichste Moment in ihrem Leben.
Glokta schluckte, während er ihnen zusah. Er erinnerte sich noch zu gut daran, wie man ihm zum ersten Mal das Eisen gezeigt hatte. Erinnerte sich an das Bitten, Betteln, Um-Gnade-Winseln. An das Gefühl, wie sich das heiße Metall in seine Haut gebrannt hatte. So brennend heiß, dass es beinahe kalt wirkt. An den sinnlosen Lärm seiner eigenen Schreie. Den Gestank seines eigenen verbrannten Fleisches. Er konnte es jetzt riechen. Zuerst erleidet man es selbst, dann fügt man es anderen zu, dann befiehlt man es. So ist das Muster des Lebens. Er bewegte seine schmerzenden Schultern und humpelte ins Zimmer. »Fortschritte?«, krächzte er.
Severard richtete sich auf, schnaufte und reckte sich, dann wischte er sich die Stirn und schlenkerte ein paar Schweißtropfen auf den dreckigen Fußboden. »Ich weiß nicht, wie’s ihr geht, aber ich bin mehr als halb bereit zum Aufgeben.«
»Wir kommen kein Stück weiter!«, fauchte Vitari, warf das schwarze Brandeisen wieder in das Kohlebecken zurück und ließ ein paar Funken aufwirbeln. »Wir haben es mit Klingen versucht, mit Hämmern, mit Wasser, mit Feuer. Sie sagt kein Wort. Das verdammte Luder ist offenbar aus Stein.«
»Weicher als Stein«, zischte Severard, »aber sie ist überhaupt nicht wie wir.« Er nahm ein Messer vom Tisch, und die Klinge glänzte in der Dunkelheit kurz orangefarben auf, dann beugte er sich vor und zog einen langen Schnitt in Schickels Unterarm. Kaum ein Zucken ging dabei über ihr Gesicht. Die Wunde klaffte auf und schimmerte zornig rot. Severard bohrte seine Finger hinein und drückte sie auseinander. Schickel ließ keinerlei Anzeichen von Schmerz erkennen. Er zog die Finger wieder hervor und hielt sie doch, dann rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander. »Nicht mal feucht. Es ist, als ob man in eine Leiche schneidet, die schon eine Woche alt ist.«
Glokta fühlte sein Bein zittern, und er verzog schmerzerfüllt das Gesicht und sank auf den freien Stuhl. »Das ist offenkundig nicht mehr normal.«
»Reime Umperpreibum«, grunzte Frost.
»Aber sie heilt nicht mehr so gut wie am Anfang.« Keiner der Schnitte in ihrer Haut machte Anstalten, sich wieder zu schließen. Sie klaffen auf, tot und trocken wie Fleisch in einer Metzgerei. Und auch die Brandwunden verblassten nicht. Verkohlte schwarze Streifen auf ihrer Haut, wie frisches Fleisch vom Grill.
»Sitzt bloß da und guckt«, sagt Severard, »ohne ein Wort.«
Glokta runzelte die Stirn. War es denn wirklich das, was mir vorschwebte, als ich zur Inquisition ging? Kleine Mädchen zu foltern? Er wischte sich die Feuchtigkeit unter den Augen ab. Andererseits ist das hier sowohl mehr als auch weniger als ein Mädchen. Er erinnerte sich an die Hände, die ihn gepackt hatten, während die drei Praktikalen versucht hatten, sie zu bändigen. Sehr viel mehr und gleichzeitig auch sehr viel weniger als ein Mensch. Wir dürfen bei ihr nicht dieselben Fehler machen wie beim Ersten der Magi.
»Wir müssen mit offenem Verstand an die Sache herangehen«, murmelte er.
»Weißt du, was mein Vater dazu sagen würde?« Die Stimme erscholl tief und rau, wie die eines alten Mannes, und es erschien seltsam falsch, dass sie aus diesem jungen, glatten Gesicht kam.
Gloktas linkes Auge zuckte, und unter seinem Mantel rann der Schweiß über seine Haut. »Dein Vater?«
Schickel lächelte ihn an, und ihre Augen glänzten in der Dunkelheit. Fast schien es, als ob die Schnitte in ihrem Fleisch ebenfalls lachten. »Mein Vater. Der Prophet. Der große Khalul. Er würde sagen, ein offener Verstand ist wie eine offene Wunde. Empfänglich für Gift. Wird sich leicht entzünden. Könnte seinem Besitzer sehr viele Schmerzen bereiten.«
»Willst du nun endlich reden?«
»Jetzt will ich.«
»Wieso?«
»Wieso nicht? Jetzt weißt du, dass ich es so gewählt habe, nicht du. Stell deine Fragen, Krüppel. Du solltest alle Möglichkeiten nutzen, um zu lernen. Gott weiß, wozu es noch einmal nutze sein wird. Ein Mann, der sich in der Wüste …«
»Den kenne ich schon.« Glokta hielt inne. So viele Fragen, aber was fragt man so etwas wie sie? »Du bist eine Verzehrerin?«
»Wir haben andere Namen für uns, aber – ja.« Sie neigte sanft den Kopf, wobei sich ihre Augen keinen Moment von den seinen lösten. »Die Priester zwangen mich zuerst dazu, meine Mutter zu verzehren. Als sie mich entdeckten. Ich musste es tun oder sterben, und mein Drang zu leben war so groß, zuvor. Anschließend weinte ich, aber das ist lange her, und jetzt sind keine Tränen mehr in mir. Ich empfinde natürlich Ekel vor mir selbst. Manchmal muss ich töten, manchmal wünsche ich, ich würde sterben. Ich verdiene es. Daran habe ich keinen Zweifel. Das ist das Einzige, dessen ich sicher bin.«
Ich hätte von vornherein keine schlichte Antwort erwarten sollen. Da sehnt man sich ja beinahe die Tuchhändler zurück. Deren Verbrechen konnte ich wenigstens begreifen. Aber immerhin, Antworten, egal welche, sind besser als nichts. »Wieso verzehrst du andere?«
»Weil der Vogel den Wurm frisst. Die Spinne die Fliege. Weil Khalul es wünscht und wir die Kinder des Propheten sind. Juvens wurde verraten, und Khalul schwor ihn zu rächen, aber er stand allein vielen Feinden gegenüber. Daher brachte er sein großes Opfer und brach das Zweite Gebot, und die Rechtschaffenen kamen willig zu ihm. Einige auch nicht. Aber keiner hat ihn geleugnet. Meiner Geschwister sind viele, jetzt, und wir alle mussten unser Opfer bringen.«
Glokta deutete auf die Kohlepfanne. »Du fühlst keinen Schmerz?«
»Nein, aber sehr große Reue.«
»Seltsam. Bei mir ist es genau anders herum.«
»Du, so scheint mir, bist der Glücklichere von uns beiden.«
Er schnaubte. »Das sagt sich so leicht, bevor man feststellt, dass man nicht einmal pissen kann, ohne schreien zu wollen.«
»Ich kann mich kaum daran erinnern, wie Schmerz sich anfühlt. Das ist alles sehr lange her. Jeder von uns hat andere Gaben erhalten. Stärke, Schnelligkeit, Durchhaltevermögen weit über das menschliche Maß hinaus. Manche können eine andere Gestalt annehmen oder das Auge täuschen oder sogar die Hohen Künste einsetzen, so wie Juvens sie seinen Zauberlehrlingen vermittelte. Jeder von uns hat andere Gaben, aber uns alle trifft der gleiche Fluch.« Sie starrte Glokta an und legte den Kopf ein wenig schief.
Lass mich raten. »Ihr könnt nicht aufhören, andere zu verzehren.«
»Niemals. Und deswegen ist der Hunger der Gurkhisen nach Sklaven so endlos. Dem Propheten kann man nicht widerstehen. Ich weiß es. Der große Vater Khalul.« Sie wandte ihre Augen ehrerbietig zur Decke. »Erzpriester des Tempels von Sarkant. Heiligster all jener, deren Füße die Erde berühren. Er bringt Demut allen Stolzen, richtet alles Falsche, spricht die Wahrheit. Strahlendes Licht geht von ihm aus wie von den strahlenden Sternen. Wenn er spricht, spricht er mit der Stimme Gottes. Wenn er …«
»Zweifelsohne scheißt er auch goldene Haufen. Glaubst du all diesen Mist?«
»Was spielt es für eine Rolle, was ich glaube? Ich habe mir die Wahl nicht gestellt. Wenn dein Meister dir eine Aufgabe anvertraut, dann tust du dein Bestes, um sie zu erfüllen. Selbst wenn es eine dunkle Aufgabe ist.«
Das kann ich tatsächlich nachvollziehen. »Einige von uns sind nur für dunkle Aufgaben geeignet. Wenn man sich seinen Meister gewählt hat …«
Schickel krächzte ein trockenes Lachen über den Tisch. »Es sind wahrlich wenige, die eine solche Wahl haben. Wir tun, was man uns sagt. Wir stehen oder wir fallen neben jenen, die in unserer Nähe geboren wurden, die so aussehen wie wir, die dieselben Worte sprechen, und währenddessen wissen wir wenig von den Gründen, so wenig wie der Staub, zu dem wir alle wieder werden.« Ihr Kopf sank zur Seite, und in ihrer Schulter öffnete sich ein klaffender Schnitt, so groß wie ein Mund. »Glaubst du, mir gefällt, was ich geworden bin? Glaubst du, ich träumte nicht davon, so zu sein wie andere? Aber wenn der Wandel einmal über dich gekommen ist, kannst du nie wieder zurück. Verstehst du?«
O ja. So gut wie kaum ein anderer. »Wieso wurdest du hierhergesandt?«
»Die Arbeit der Rechtschaffenen endet nie. Ich kam hierher, um dafür zu sorgen, dass Dagoska wieder auf den rechten Weg zurückkehrt. Um dafür zu sorgen, dass die Menschen Gott nach den Lehren des Propheten verehren. Um dafür zu sorgen, dass meine Brüder und Schwestern gefüttert werden.«
»Es scheint, als seiest du gescheitert.«
»Andere werden folgen. Dem Propheten kann man nicht widerstehen. Du bist dem Untergang geweiht.«
Das weiß ich schon. Verfolgen wir doch einmal eine andere Spur. »Was weißt du … über Bayaz.«
»Ah, Bayaz. Er war der Bruder des Propheten. Er ist der Anfang von all diesem hier, und er wird auch das Ende sein.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Lügner und Verräter. Er hat seinen Meister getötet. Er hat Juvens ermordet.«
Glokta runzelte die Stirn. »Ich kenne diese Geschichte anders.«
»Jeder hat seine eigene Art, eine Geschichte zu erzählen, gebrochener Mann. Hast du das noch nicht begriffen?« Ihre Lippen kräuselten sich. »Du begreifst gar nicht, in welchem Krieg du dich befindest, verstehst nichts von den Waffen oder den Verlusten, von den Siegen oder Niederlagen, die es täglich gibt. Du hast keine Ahnung von den Seiten oder den Ursachen oder den Gründen. Die Schlachtfelder sind überall. Du tust mir leid. Du bist ein Hund, der einer Diskussion von Gelehrten zu folgen versucht und nichts anderes hört als Gebell. Die Rechtschaffenen kommen. Khalul wird die Erde von Lügen reinigen und eine neue Ordnung errichten. Juvens wird gerächt sein. So ist es vorhergesagt. So ist es bestimmt. So ist es versprochen.«
»Ich zweifle daran, dass du es erleben wirst.«
Sie grinste ihn an. »Und ich zweifle ebenso daran, dass du es erleben wirst. Mein Vater hätte die Stadt lieber kampflos eingenommen, aber wenn er um sie kämpfen muss, dann wird er das tun, ohne Gnade und mit dem Zorn Gottes hinter ihm. Das ist der erste Schritt auf dem Pfad, den er gewählt hat. Auf dem Pfad, den er für uns alle gewählt hat.«
»Welcher Schritt folgt als nächster?«
»Glaubst du, meine Meister verraten mir ihre Pläne? Tun deine das? Ich bin ein Wurm. Ich bin ein Nichts. Und dennoch bin ich mehr als du.«
»Was kommt als Nächstes?«, zischte Glokta. Nichts als Schweigen.
»Antworte ihm!«, zischte Vitari. Frost riss ein Eisen aus der Kohlepfanne, dessen Spitze orangerot glühte, und bohrte es in Schickels Schulter. Ekelhaft riechender Dampf stieg auf, Fett spritzte und brutzelte, aber das Mädchen sagte nichts. Ihre trägen Augen sahen zu, wie ihr eigenes Fleisch verbrannte, ohne Gefühlsregung. Hier wird es keine Antworten geben. Nur noch mehr Fragen. Immer noch mehr Fragen.
»Ich habe genug«, erklärte Glokta kurz angebunden, ergriff seinen Stock und richtete sich mühsam auf; er wand sich bei dem schmerzhaften und nutzlosen Bemühen, das verschwitzte Hemd von seinem Rücken zu lösen.
Vitari deutete auf Schickel, deren glänzende Augen unter den gesenkten Lidern noch immer auf Glokta gerichtet waren, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Was sollen wir damit machen?«
Ein entbehrlicher Agent eines gefühllosen Meisters, gegen den eigenen Willen an einen fremden Ort geschickt, um zu kämpfen und zu töten – aus Gründen, die er kaum begreift. Klingt das irgendwie vertraut? Glokta zog eine Grimasse, als er dem stinkenden Raum den Rücken zuwandte.
»Verbrennen Sie es«, sagte er.
Glokta stand in der kühlen Abendluft auf seinem Söller und sah finster auf die Unterstadt hinab.
Hier oben auf dem Felsen war es windig, eine kalte Brise wehte von der dunklen See heran, pfiff um Gloktas Gesicht, um seine auf den Zinnen ruhenden Finger und schlug die Schöße seines Mantels gegen seine Beine. So viel Winter, wie wir in diesem verdammten Glutofen überhaupt je haben werden. Die Flammen der Fackeln neben der Tür blakten und flackerten in ihren eisernen Körben, zwei Lichter in der heraufziehenden Dunkelheit. Draußen waren mehr Lichter, viel mehr. Lampen brannten an der Takelung der Unionsschiffe unten am Hafen, und ihr Widerschein blitzte und brach sich auf dem Wasser. Lichter glitzerten in den Fenstern der dunklen Paläste unterhalb der Zitadelle und hoch oben auf den zierlichen Türmchen des Großen Tempels. Unten in den Elendsvierteln brannten Tausende von Fackeln. Flüsse aus winzigen Lichtpunkten, die aus den Gebäuden strömten, auf die Straßen, hin zu den Toren der Oberstadt. Flüchtlinge verlassen ihre Häuser, wenn man sie so nennen kann. Fliehen in die Sicherheit, wenn es denn eine ist. Wie lange werden wir ihnen hier Sicherheit bieten können, frage ich mich, wenn die Landmauer gefallen ist? Er kannte die Antwort bereits. Nicht lange.
»Herr Superior!«
»Ach, Meister Cosca. Ich freue mich sehr, dass Sie mir Gesellschaft leisten können.«
»Aber natürlich! Es geht doch nichts über einen Spaziergang in der Abendluft nach einem kleinen Scharmützel.« Der Söldner marschierte zu ihm herüber. Selbst in dem schlechten Licht nahm Glokta die Veränderung in ihm wahr. Er ging mit federndem Schritt, seine Augen blitzten, das Haar war sauber gekämmt und der Schnurrbart steif gewachst. Ganz plötzlich ist er ein oder zwei Zoll größer und gut zehn Jahre jünger. Er stolzierte zu den Zinnen, schloss die Augen und zog tief die Luft durch seine knochige Nase ein.
»Für jemanden, der gerade eine Schlacht geschlagen hat, sehen Sie bemerkenswert gut aus.«
Der Styrer grinste ihn an. »Ich war ja nicht so sehr selbst im Kampf, sondern vielmehr dahinter. Es war schon immer meine Ansicht, dass man ganz vorn an der Front nicht besonders gut kämpfen kann. Niemand hört einen dort bei dem ganzen Lärm. Außerdem sind die Aussichten, getötet zu werden, dort doch ziemlich hoch.«
»Zweifelsohne. Wie ist es für uns ausgegangen?«
»Die Gurkhisen sind immer noch außerhalb der Mauern, daher würde ich sagen, was die Schlacht angeht, lief es ganz gut. Die Toten würden mir vermutlich nicht zustimmen, aber wer kümmert sich schon einen Dreck um deren Meinung?« Er kratzte sich zufrieden am Hals. »Wir haben uns heute ganz wacker geschlagen. Aber morgen oder übermorgen – wer weiß, wie es da aussehen wird? Immer noch keine Aussicht auf Verstärkung?« Glokta schüttelte den Kopf, und der Styrer zog scharf die Luft ein. »Mir ist das natürlich egal, aber an Ihrer Stelle würde ich doch über eine Kapitulation nachdenken, solange wir noch die Bucht beherrschen.« Jeder würde mich gern zu einer Kapitulation überreden. Ich selbst eingeschlossen. Glokta schnaubte. »Der Geschlossene Rat hält mich an der Kandare, und dort sagt man nein. Die Ehre des Königs lässt das nicht zu, wie man mir mitteilte, und offenbar ist seine Ehre wertvoller als unser Leben.«
Cosca hob die Brauen. »Ehre, ja? Was, zur Hölle, ist das überhaupt? Ehre ist doch für jeden etwas anderes. Man kann sie nicht trinken. Man kann sie nicht ficken. Je mehr man davon hat, desto weniger hilft sie einem, und wenn man gar keine hat, vermisst man sie auch nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber es gibt Leute, die halten sie für das Beste auf der Welt.«
»Tja«, machte Glokta und leckte sich über das Zahnfleisch. Ehre ist weniger wert als die Beine oder die Zähne. Eine Lektion, für die ich teuer bezahlt habe. Er spähte hinüber zu den schattenhaften Umrissen der Landmauer, die von brennenden Scheiterhaufen unterbrochen wurden. Noch immer war entfernter Kampfeslärm zu hören, und gelegentlich stieg ein brennender Pfeil hoch in die Luft und fiel in den zerstörten Elendsvierteln hinunter. Selbst jetzt geht das blutige Geschäft weiter seinen Gang. Er holte tief Luft. »Wie stehen unsere Aussichten, noch eine Woche durchzuhalten?«
»Eine Woche?« Cosca spitzte die Lippen. »Einigermaßen.«
»Zwei Wochen?«
»Zwei?« Cosca schnalzte mit der Zunge. »Schon schlechter.«
»Damit wäre ein Monat ein hoffnungsloses Unterfangen.«
»Hoffnungslos wäre genau das richtige Wort.«
»Sie scheinen diese Lage geradezu zu genießen.«
»Ich? Ich habe mich auf hoffnungslose Unterfangen spezialisiert.« Er sah Glokta grinsend an. »Das sind heutzutage die einzigen, für die man mich noch anheuert.«
Das Gefühl kenne ich. »Halten Sie die Landmauer, so lange es geht, und dann treten Sie den Rückzug an. Als Nächstes müssen uns die Mauern der Oberstadt als Verteidigung dienen.«
Coscas Grinsen schien in der Dunkelheit beinahe zu leuchten. »So lange halten wie möglich und dann den Rückzug antreten! Ich kann es kaum erwarten!«
»Vielleicht sollten wir noch einige Überraschungen für unsere gurkhisischen Gäste bereithalten, wenn sie die Mauern tatsächlich stürmen. Sie wissen schon«, Glokta machte eine vage Handbewegung, »Stolperdrähte und Fallgruben, mit Exkrementen beschmierte Pfähle und so weiter. Sie haben mit dieser Art der Kriegsführung sicher bereits ein wenig Erfahrung, würde ich vermuten.«
»Ich bin in jeder Art der Kriegsführung erfahren.« Cosca schlug die Hacken zusammen und machte eine ausgefallene Ehrenbezeigung. »Pfähle und Exkremente! Da haben Sie Ihre Ehre.«
Das hier ist Krieg. Die einzige Ehre liegt im Gewinnen. »Wo wir gerade von Ehre sprechen, seien Sie so gut und teilen Sie unserem Freund General Vissbruck mit, wo diese Überraschungen liegen. Es wäre doch eine Schande, wenn er sich unversehens aufspießte.«
»Natürlich, Herr Superior. Eine echte Schande.«
Glokta fühlte, wie sich seine Hand auf den Zinnen zur Faust ballte. »Wir werden die Gurkhisen für jeden Schritt Boden bezahlen lassen.« Für mein zerstörtes Bein. »Für jeden Zoll Erde.« Für meine fehlenden Zähne. »Für jede elende Hütte, für jedes verfallende Haus und für jeden wertlosen Fußbreit Staub.« Für mein tränendes Auge, meinen verdrehten Rücken und meinen ekelhaften Schatten von einem Leben. Er leckte sich über das leere Zahnfleisch. »Sorgen Sie dafür, dass sie bezahlen.«
»Hervorragend! Nur ein toter Gurkhise ist ein guter Gurkhise!« Der Söldner wirbelte herum und marschierte mit rasselnden Sporen durch die Tür zurück in die Zitadelle und ließ Glokta allein auf dem flachen Dach zurück.
Eine Woche? Ja. Zwei Wochen? Vielleicht. Noch länger? Hoffnungslos. Vielleicht gibt es keine Schiffe, aber dieser in Rätseln sprechende alte Yulwei hatte recht. Ebenso wie Eider. Es bestand nie die Aussicht, die Stadt zu halten. Trotz all unserer Bemühungen, all unserer Opfer wird Dagoska unweigerlich fallen. Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit.
Er sah hinaus über die langsam in Dunkelheit versinkende Stadt. Es war schwer, in der Schwärze das Land vom Meer zu unterscheiden, die Lichter der Schiffe von den Lichtern der Gebäude, die Fackeln in den Takelungen von den Fackeln in den Elendsvierteln. Es war ein Wirrwarr aus Lichtpunkten, die umeinander flossen, körperlos in der Leere. In all dem lag nur eine einzige Sicherheit.
Wir sind erledigt. Nicht heute Nacht, aber schon bald. Wir sind umzingelt, und das Netz wird sich nur noch weiter zuziehen. Es ist nur eine Frage der Zeit.