FRAGEN
Oberst Glokta stürmte in größter Eile ins Esszimmer und kämpfte mannhaft mit der Schnalle seines Degengehänges.
»Verdammt!«, schäumte er. Es war, als hätte er fünf Daumen an jeder Hand. Er bekam das Ding einfach nicht mehr zu. »Verdammt, verdammt!«
»Brauchen Sie dabei ein wenig Hilfe?«, fragte Schickel, die hinter dem Tisch eingeklemmt war, mit schwarzen Brandwunden an ihren Schultern und offenen Schnittwunden, so trocken wie abgehangenes Metzgerfleisch.
»Nein, ich brauche verdammt noch mal keine Hilfe!«, brüllte er und schleuderte den Gürtel auf den Boden. »Ich brauche jemanden, der mir erklärt, was, zur Hölle, hier vor sich geht. Das ist doch eine Schande! Ich werde nicht zulassen, dass Mitglieder meines Regiments nackt hier herumsitzen! Schon gar nicht mit derart unansehnlichen Wunden! Wo ist deine Uniform, Mädchen?«
»Ich dachte, Sie machten sich Sorgen wegen des Propheten.«
»Ach, der!«, fauchte Glokta und drängte sich zu ihr auf die Bank. »Was ist mit Bayaz? Dem Ersten der Magi? Wer ist er? Was plant er wirklich, der alte Drecksack?«
Schickel lächelte süß. »Oh, das. Ich dachte, das wüsste jeder. Die Antwort lautet …«
»Ja!«, erwiderte der Oberst mit trockenem Mund so eifrig wie ein Schuljunge, »die Antwort lautet?«
Sie lachte und klopfte auf die Bank neben sich. Bumm, bumm, bumm.
»Die Antwort lautet …«
Die Antwort lautet …
Bumm, bumm, bumm. Gloktas Augen öffneten sich mit einem Ruck. Draußen war es immer noch halb dunkel. Nur schwaches Dämmerlicht drang durch die Vorhänge. Wer hämmert denn um diese Zeit an meine Tür? Gute Nachrichten kommen bei Tageslicht.
Bumm, bumm, bumm. »Ja, ja!«, brüllte er. »Ich bin verkrüppelt, aber nicht taub! Ich höre Sie verdammt gut!«
»Dann öffnen Sie die verdammte Tür!« Die Stimme drang dumpf aus dem Flur, aber der styrische Akzent war unverkennbar. Vitari, dieses Luder. Die braucht man mitten in der Nacht. Glokta gab sich alle Mühe, das Stöhnen zu unterdrücken, als er seine lahmen Glieder vorsichtig aus dem Gewirr der verschwitzten Laken befreite und sanft den Kopf von einer Seite zur anderen bewegte, um seinen verkrampften Hals etwas zu lockern, was jedoch nicht gelang.
Bumm, bumm. Wann hat eigentlich das letzte Mal eine Frau an meine Schlafzimmertür gehämmert? Er griff nach seinem Stock, ließ sich kurz noch einmal auf die Matratze sinken, presste dann die verbliebenen Zähne fest auf die Unterlippe und wälzte sich schnaufend an die Bettkante, bis er ein Bein auf den Boden sinken lassen konnte. Dann warf er sich nach vorn und kniff die Augen fest zusammen, weil ein brennender Schmerz durch seinen Rücken schoss. Als er endlich saß, war er so außer Atem, als ob er zehn Meilen gelaufen sei. Fürchtet mich, fürchtet mich, ihr alle müsst mich fürchten! Jedenfalls, wenn ich es geschafft habe aufzustehen.
Bumm. »Ich komme, verdammt noch mal!« Er setzte den Stock auf den Boden und richtete sich mit schaukelnden Bewegungen auf. Sachte, sachte. Die Muskeln in seinem verkrüppelten linken Bein zitterten stark, sodass sein zehenloser Fuß wie ein sterbender Fisch hin und her zuckte. Verdammtes hässliches Anhängsel! Es ist beinahe, als gehörte es gar nicht zu mir, wenn es nicht so wehtäte. Jetzt aber die Ruhe bewahren, wir müssen vorsichtig sein.
»Schscht!«, zischte er wie jemand, der ein weinendes Kind besänftigt, während er sein malträtiertes Fleisch massierte und versuchte, langsamer zu atmen. »Schscht.« Die Zuckungen wichen allmählich einem erträglicheren Zittern. Besser wird es wohl nicht werden, fürchte ich. Auch gelang es ihm, sich das Nachthemd herunterzuziehen und zur Tür zu schlurfen, verärgert den Schlüssel zu drehen und zu öffnen. Vitari stand im Flur und hatte sich gegen die Wand gelehnt, sodass sich ihre Umrisse dunkel vor den Schatten abhoben.
»Sie«, knurrte er und hüpfte zum Stuhl hinüber. »Sie können wohl gar nicht mehr ohne mich sein, was? Was fasziniert Sie eigentlich so an meinem Schlafgemach?«
Sie schlenderte durch die Tür und sah sich verächtlich in dem elenden Quartier um. »Vielleicht sehe ich nur gern, wie Sie sich abquälen.«
Glokta schnaubte und rieb behutsam sein brennendes Knie. »Dann sind Sie ja jetzt sicher richtig feucht zwischen den Beinen.«
»Überraschenderweise bin ich das nicht. Sie sehen aus wie der Tod.«
»Wann tue ich das einmal nicht? Sind Sie gekommen, um sich über mein Aussehen lustig zu machen, oder gibt es einen anderen Grund?«
Vitari verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Wand. »Sie müssen sich anziehen.«
»Ist das eine neue Ausrede, um mich mal nackt zu sehen?«
»Sult verlangt nach Ihnen.«
»Jetzt?«
Sie rollte mit den Augen. »Nein, wir können uns natürlich Zeit lassen. Sie wissen ja, wie er ist.«
»Wohin gehen wir?«
»Das werden Sie schon sehen, wenn wir da sind.« Sie beschleunigte ihre Schritte, ließ ihn schnaufend, japsend und schmerzerfüllt hinter ihr durch die dunklen Gassen eilen, durch die düsteren Straßen und grauen Plätze des Agrionts, farblos im dünnen Licht des frühen Morgens.
Seine Stiefel knirschten und schlurften unter seinem schwerfälligen Schritt über die Kieswege des Parks. Das Gras war mit kaltem Tau überzogen, die Luft dick vor zähem Nebel. Bäume tauchten vor ihnen auf, schwarze, unbelaubte Klauen in der Düsternis, dann eine hoch aufragende, glatte Mauer. Vitari führte ihn zu einem hohen Tor, das von zwei Wachleuten flankiert wurde. Ihre schweren Rüstungen waren goldverbrämt, die Hellebarden goldverziert, die goldene Sonne der Union war auf ihre Überwürfe gestickt. Ritter der Wacht. Des Königs persönliche Leibgarde.
»Der Palast?«
»Nein, wir sind hier in den Elendsvierteln, Sie Blitzmerker.«
»Halt.« Einer der zwei Ritter hob seinen schweren Handschuh, und die Stimme ertönte mit leichtem Echo aus dem vergitterten Mundschlitz seines Helms. »Nennen Sie Ihren Namen und Ihr Begehr.«
»Superior Glokta.« Er humpelte zur Mauer und lehnte sich gegen die feuchten Steine, die Zunge an das leere Zahnfleisch gepresst, damit ihn der Schmerz im Bein nicht überwältigte. »Was unser Begehr betrifft, müssen Sie die da fragen. Dieser Spaziergang war nicht meine Idee, das können Sie mir glauben.«
»Praktikalin Vitari. Und uns erwartet der Erzlektor. Das wissen Sie doch, Sie Narr, das habe ich Ihnen beim Rausgehen schon gesagt.«
Es war für einen Mann in voller Rüstung nicht leicht, seinem verletzten Stolz Ausdruck zu verleihen, aber dem Wachmann gelang es. »Es gehört zum Protokoll, dass ich jeden frage …«
»Machen Sie einfach auf, verdammt noch mal!«, bellte Glokta, der sich die Faust auf den zuckenden Schenkel drückte. »Solange ich mich noch aus eigener Kraft durchs Tor schleppen kann!«
Der Mann schlug ärgerlich gegen das Tor, und eine kleine Tür darin öffnete sich. Vitari duckte sich hindurch, und Glokta folgte ihr über einen Weg aus sorgfältig zusammengesetzten Steinplatten durch einen schattigen Garten. Kalte Wassertröpfchen hingen an den kurzen Zweigen, tropften von den übermannsgroßen Statuen. Das Krächzen einer Krähe, die sich irgendwo außer Sichtweite aufhielt, erschien geradezu lächerlich laut in der morgendlichen Stille. Vor ihnen ragte der Palast auf, ein Durcheinander aus Dächern, Türmchen, Figuren und in Stein gehauenen Ornamenten, das im ersten frühen Licht allmählich Gestalt annahm.
»Was tun wir hier?«, zischte Glokta.
»Das werden Sie schon sehen.«
Er humpelte eine Stufe hinauf, die von hoch aufragenden Säulen und zwei weiteren Rittern der Wacht flankiert wurde, von Rittern, die so still und ruhig dastanden, dass es sich genauso gut um leere Rüstungen hätte handeln können. Sein Stock klapperte auf den polierten Marmorboden eines hallenden Korridors, den flackernde Kerzen in Halblicht tauchten. Die hohen Wände zierten überall schattenumlagerte Friese, die Szenen vergessener Siege und Taten zeigten, einen König nach dem anderen, der irgendwohin deutete, Waffen präsentierte, Verkündigungen verlas oder einfach nur mit stolzgeschwellter Brust dastand. Glokta mühte sich eine Treppe hinauf, deren Wände und Decke von einem kunstvoll geschnitzten Muster goldener Blumen bedeckt waren, die im Kerzenlicht blitzten und schimmerten. Vitari stand bereits oben und wartete ungeduldig auf ihn. Dass dieser Aufgang derart aufwändig verziert ist, macht ihn verdammt noch mal nicht leichter zu ersteigen.
»Da hinten«, raunte sie ihm zu.
Eine besorgt wirkende Gruppe hatte sich in etwa zwanzig Schritten Entfernung um eine Tür geschart. Ein Ritter der Wacht saß vornübergebeugt auf einem Stuhl, den Helm hatte er neben sich auf den Boden gestellt, den Kopf in die Hände gestützt, die Finger rauften das lockige Haar. Drei andere Männer standen nahe beieinander, und ihr drängendes Flüstern hallte von den Wänden wider und schallte durch den Korridor.
»Kommen Sie nicht mit?«
Vitari schüttelte den Kopf. »Nach mir hat er nicht gefragt.«
Die drei Männer sahen Glokta an, als er auf sie zu hinkte. Was für eine Versammlung, die sich hier in einem schwach erleuchteten Korridor vor Sonnenaufgang zusammengefunden hat. Lord Schatzmeister Hoff trug einen hastig übergeworfenen Morgenmantel, und sein aufgedunsenes Gesicht war wie von einem Albtraum gezeichnet. Bei Lord Marschall Varuz stand eine Seite seines Hemdkragens in die Höhe, die andere war heruntergeklappt, sein eisengraues Haar sträubte sich wild auf dem Kopf. Die Wangen von Kronrichter Marovia waren eingesunken, die Augen rot unterlaufen, und seine gelbsüchtige Hand zitterte leicht, als er damit auf die Tür deutete.
»Dort drin«, flüsterte er. »Eine schreckliche Angelegenheit. Schrecklich. Was soll jetzt nur geschehen?«
Glokta runzelte die Stirn, ging an dem schluchzenden Wächter vorbei und trat über die Schwelle.
Es war ein Schlafzimmer. Noch dazu ein höchst edel eingerichtetes. Schließlich ist das hier der Palast. Die Wände waren mit leuchtenden Seidenstoffen bespannt und mit dunklen Ölgemälden in alten, vergoldeten Rahmen behängt. Ein riesiger Kamin war aus braunem und rotem Stein gehauen worden, sodass er wie eine Miniaturausgabe eines kantesischen Tempels aussah. Das Bett war enorm groß und wurde von einem breiten Himmel überspannt, dessen Vorhänge vermutlich mehr Raum einfassten als Gloktas gesamtes Schlafzimmer. Die Decken waren zurückgeschlagen und zerwühlt, aber von dem Schläfer fehlte jede Spur. Ein großes Fenster stand weit offen, und aus der grauen Welt draußen drang eine kühle Brise ins Zimmer, die die Flammen der Kerzen zucken und flackern ließ.
Erzlektor Sult stand beinahe in der Mitte des Raumes und sah mit steinernem Gesicht auf den Boden an der anderen Seite des Bettes. Falls Glokta erwartet hatte, ihn ähnlich nachlässig gekleidet zu sehen wie seine drei Kollegen vor der Tür, dann wurde er enttäuscht. Sults weißer Mantel war makellos, sein weißes Haar ordentlich gekämmt, und eine weiß behandschuhte Hand umfasste sorgsam die andere.
»Euer Eminenz …«, begann Glokta, als er näher kam. Dann bemerkte er etwas auf dem Boden. Eine dunkle Flüssigkeit, die im Kerzenlicht schimmerte. Blut. Wie wenig überraschend.
Er humpelte näher. Der Leichnam lag hinter dem Bett auf dem Rücken. Blut war auf die weißen Laken gespritzt, über die Dielen verschmiert und zierte die dahinter liegende Wand; es sickerte bereits in die Säume der opulenten Vorhänge vor dem Fenster. Das zerrissene Nachthemd war damit durchtränkt. Eine Hand war zusammengekrampft, die andere kurz unterhalb des Daumens roh abgerissen. An einem Arm zeigte sich eine klaffende Wunde; hier fehlte ein Stück Fleisch. Als ob es abgebissen worden wäre. Ein Bein war gebrochen und unnatürlich zurückgebogen, sodass ein Stück des abgesplitterten Knochens durch das Fleisch hindurchragte. Die Kehle war so sehr zerfetzt, dass der Kopf kaum noch auf dem Hals saß, aber das Gesicht war trotzdem nicht zu verkennen, wie es zu dem fein modellierten Stuck an der Decke hinaufgrinste, die Zähne gebleckt, die Augen weit aufgerissen.
»Kronprinz Raynault wurde ermordet«, murmelte Glokta.
Der Erzlektor hob die behandschuhten Hände und schlug langsam und ganz sanft mit zwei Fingerspitzen gegen die Handfläche. »Oh, bravo. Wegen derartig scharfsinniger Beobachtungen habe ich nach Ihnen geschickt. Ja, Prinz Raynault wurde ermordet. Eine Tragödie. Eine unvorstellbare Gräueltat. Ein schreckliches Verbrechen, das unsere Nation im Innersten trifft, jeden ihrer Bürger. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste.« Der Erzlektor holte tief Luft. »Der König hat keine Geschwister, Glokta, verstehen Sie? Jetzt hat er auch keine Erben mehr. Wenn der König stirbt, was glauben Sie, woher wir unseren nächsten ehrenwerten Regenten bekommen werden?«
Glokta schluckte. Ich verstehe. Was für eine scheußliche Unannehmlichkeit. »Aus dem Offenen Rat.«
»Eine Wahl«, fauchte Sult. »Der Offene Rat wird unseren nächsten König wählen. Ein paar hundert selbstsüchtige Halbidioten, die sich ohne Beratung noch nicht einmal für das nächste Mittagessen entscheiden können.«
Glokta schluckte. Beinahe würde ich ja meinen Spaß an der misslichen Lage Seiner Eminenz haben, läge mein Kopf nicht neben dem seinen auf dem Henkersblock. »Wir sind im Offenen Rat nicht besonders beliebt.«
»Wir werden dort gehasst. Seit unserem Vorgehen gegen die Tuchhändler, die Gewürzhändler, gegen Lord Statthalter Vurms und wegen noch ein paar anderen Kleinigkeiten werden wir mehr verabscheut als sonst jemand. Keiner der Edelleute traut uns.«
Wenn der König dann also stirbt … »Wie steht es um die Gesundheit des Königs?«
»Nicht. Gut.« Sult sah finster auf die blutigen sterblichen Überreste. »Unsere ganze Arbeit könnte mit diesem Schlag zunichte gemacht worden sein. Es sei denn, Glokta, wir schaffen uns im Offenen Rat ein paar Freunde, solange der König noch lebt. Es sei denn, wir können genug Einfluss erlangen, um seinen Nachfolger auszuwählen oder zumindest die Wahl zu beeinflussen.« Er starrte Glokta an, und die blauen Augen glänzten im Kerzenlicht. »Wir müssen Stimmen erkaufen, erpressen, locken und drohen, damit alles nach unseren Vorstellungen läuft. Und Sie können davon ausgehen, dass die drei Dreckskerle da draußen genau dasselbe denken. Wie bleibe ich an der Macht? Mit welchem Kandidaten sollte ich mich verbünden? Wessen Stimmen kann ich kontrollieren? Wenn wir den Mord bekannt geben, dann müssen wir dem Offenen Rat versichern können, dass wir den Mörder bereits gefasst haben. Dann muss schnell, brutal und höchst sichtbar der Gerechtigkeit Genüge getan werden. Wenn die Wahl nicht zu unseren Gunsten ausfällt, wer weiß schon, wen man uns vorsetzen wird? Brock auf dem Thron, oder Ischer oder Heugen?« Sult schüttelte sich entsetzt. »Wir werden unsere Positionen verlieren, bestenfalls. Schlimmstenfalls …« … treiben mehrere Wasserleichen unten an den Kais. »Deswegen müssen Sie mir den Mörder des Prinzen bringen. Jetzt.«
Glokta sah auf den Leichnam. Vielmehr auf das, was von ihm übrig ist. Er bohrte mit der Spitze seines Stocks in der großen Fleischwunde an Raynaults Arm herum. Solche Wunden haben wir schon einmal gesehen, an der Leiche in dem Park vor vielen Monaten. Ein Verzehrer hat das getan, zumindest sollen wir das glauben. Ein leichter, kalter Windstoß ließ das Fenster sanft gegen den Rahmen klappern. Ein Verzehrer, der durch das Fenster eingestiegen ist? Den Spionen des Propheten sieht es nicht ähnlich, solche Spuren zu hinterlassen. Wieso ist Raynault nicht einfach verschwunden, wie Davoust? Hatte der Täter vielleicht keinen Hunger mehr, oder was sollen wir davon halten?
»Haben Sie schon mit dem Wächter gesprochen?«
Sult machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er sagt, dass er die ganze Nacht über wie gewöhnlich vor der Tür stand. Er hörte ein Geräusch, betrat das Zimmer und fand den Prinzen so, wie Sie ihn jetzt vor sich sehen. Er blutete noch, und das Fenster stand offen. Er schickte sofort nach Hoff. Hoff schickte nach mir, und ich nach Ihnen.«
»Der Wächter sollte trotzdem gründlich befragt werden …« Glokta sah auf Raynaults verkrampfte Hand. Es steckte etwas darin. Mit einiger Kraftanstrengung bog er die Finger auf, während sein Stock unter seinem Gewicht zitterte, und zog es hervor. Interessant. Ein Stück Tuch. Weißes Tuch vermutlich, auch wenn es sich jetzt fast überall dunkelrot gefärbt hatte. Goldfaden schimmerte leicht im schwachen Kerzenlicht. Solchen Stoff habe ich schon einmal gesehen.
»Was ist das?«, zischte Sult. »Haben Sie etwas gefunden?«
Glokta schwieg. Vielleicht, aber das wäre sehr einfach. Fast zu einfach.
Glokta gab Frost einen Wink, und der Albino streckte die Hand aus und zog den Sack vom Kopf des imperialen Gesandten. Tulkis blinzelte in das grelle Licht, holte tief Luft und sah sich dann mit zusammengekniffenen Augen um. Eine schmuddelige weiße Kammer, viel zu hell erleuchtet. Er sah Frost, der seitlich neben ihm stand. Er sah Glokta, der ihm gegenübersaß. Er sah die wackligen Stühle, den fleckigen Tisch und das polierte Kästchen darauf. Das kleine schwarze Loch in der gegenüberliegenden Ecke, hinter Gloktas Kopf, schien ihm nicht aufzufallen. Das sollte es auch nicht. Durch dieses Loch verfolgte der Erzlektor die Geschehnisse. Durch dieses Loch hört er jedes Wort, das gesagt wird.
Glokta beobachtete den Gesandten genau. Gerade in diesen ersten Augenblicken verrät ein Mann oft seine Schuld. Was wohl seine ersten Worte sein werden? Ein Unschuldiger fragt meist, welchen Verbrechens man ihn anklagt …
»Welchen Verbrechens werde ich beschuldigt?«, fragte Tulkis. Gloktas Augenlid zuckte. Natürlich kann ein Schuldiger ohne weiteres dieselbe Frage stellen.
»Des Mordes an Kronprinz Raynault.«
Der Gesandte zuckte mit den Lidern und sank gegen die Lehne seines Stuhls. »Mein tiefstes Beileid der königlichen Familie und allen Menschen in der Union an diesem schwarzen Tag. Aber ist all das hier wirklich nötig?« Er wies mit dem Kopf auf die lange, schwere Kette, die mehrfach um seinen Körper geschlungen war.
»Das ist es. Falls Sie das sind, was wir vermuten.«
»Ich verstehe. Darf ich fragen, ob es von Bedeutung ist, dass ich an diesem entsetzlichen Verbrechen gänzlich unschuldig bin?«
Das wage ich zu bezweifeln. Selbst dann nicht, falls es stimmt. Glokta warf das blutverschmierte Stück weißen Tuchs auf den Tisch. »Das hier hielt der Prinz in seiner Hand umklammert.« Tulkis sah es stirnrunzelnd und verwirrt an. Als hätte er es noch nie zuvor gesehen. »Es passt genau an ein Kleidungsstück, das wir in Ihren Gemächern gefunden haben. Ein Kleidungsstück, das ebenfalls über und über mit Blut besudelt ist.« Tulkis sah mit aufgerissenen Augen zu Glokta auf. Als hätte er keine Ahnung, wie es dorthin gelangt sein könnte. »Wie erklären Sie das?«
Der Gesandte beugte sich über den Tisch, soweit er es mit den durch die Ketten auf den Rücken gefesselten Händen konnte, und sprach schnell und leise. »Bitte hören Sie mir zu, Herr Superior. Falls die Spione des Propheten meine Mission entdeckt haben – und sie entdecken früher oder später alles –, dann werden sie vor nichts zurückschrecken, um sie zum Scheitern zu bringen. Sie wissen, wozu sie fähig sind. Wenn Sie mich für dieses Verbrechen bestrafen, beleidigen Sie damit den Imperator. Sie schlagen die Hand weg, die er Ihnen in aller Freundschaft bietet; mehr noch, Sie schlagen ihn ins Gesicht. Er wird Rache schwören, und wenn Uthman-ul-Dosht geschworen hat … mein Leben bedeutet nichts, aber meine Mission darf nicht scheitern. Die Folgen … für unser beider Nationen … bitte, Herr Superior, ich flehe Sie an … Ich halte Sie für einen Mann mit offenem Verstand …«
»Ein offener Verstand ist wie eine offene Wunde«, knurrte Glokta. »Empfänglich für Gift. Wird sich leicht entzünden. Wird seinem Besitzer nur Schmerzen bereiten.« Er nickte Frost zu, und der Albino legte das Geständnispapier sorgsam auf die Tischplatte und schob es mit seinen weißen Fingerspitzen zu Tulkis hinüber. Er stellte das Tintenfass daneben und klappte den Messingdeckel auf. Dann legte er die Feder daneben. Alles so sauber und ordentlich, wie es sich gehört.
»Dies ist Ihr Geständnis.« Glokta deutete auf das Papier. »Falls Sie sich das gerade fragten.«
»Ich bin unschuldig«, murmelte Tulkis kaum hörbar flüsternd.
Gloktas Gesicht zuckte verärgert. »Wurden Sie schon einmal gefoltert?«
»Nein.«
»Haben Sie dann schon einmal einer Folter beigewohnt?«
Der Gesandte schluckte. »Ja.«
»Dann haben Sie ja eine gewisse Vorstellung davon, was Sie erwartet.« Frost hob den Deckel von Gloktas Kiste. Die einzelnen Lagen hoben sich und klappten auseinander wie ein beeindruckender Schmetterling, der zum ersten Mal seine Flügel ausbreitet, und sie zeigten Gloktas Instrumente in all ihrer glitzernden, fesselnden, schrecklichen Schönheit. Er sah, wie sich Angst, aber auch Faszination in Tulkis’ Augen zeigte.
»Ich bin der Beste, den es gibt.« Glokta stieß einen langen Seufzer aus und verschränkte die Hände. »Das hat nichts mit Stolz zu tun, das ist einfach eine Tatsache. Sie wären nicht hier bei mir, wenn es anders wäre. Ich sage Ihnen das nur, um alle Zweifel auszuräumen. Und damit Sie meine nächste Frage beantworten können, ohne sich etwas vorzumachen. Sehen Sie mich an.« Er wartete, bis Tulkis’ dunkle Augen die seinen trafen. »Gestehen Sie?«
Es entstand eine Pause. »Ich bin unschuldig«, flüsterte der Gesandte.
»Das war nicht meine Frage. Ich wiederhole sie noch einmal. Gestehen Sie?«
»Das kann ich nicht.«
Sie sahen einander eine Weile an, und Glokta hegte keinerlei Zweifel mehr. Er ist unschuldig. Wenn es ihm gelungen wäre, die Mauern des Palasts zu überwinden und ins Fenster des Prinzen einzusteigen, ohne dass man ihn entdeckte, dann hätte er sich doch sicher auch aus dem Agriont geschlichen, bevor wir das gemerkt hätten? Wieso sollte er bleiben, schlafen, sein blutiges Gewand im Schrank hängen lassen, damit wir es ohne weiteres finden? Die Spur ist so breit, dass selbst ein Blinder ihr folgen könnte. Wir werden getäuscht, und das noch nicht einmal besonders geschickt. Den falschen Mann zu strafen, das ist eine Sache. Aber sich zum Narren halten lassen? Das ist eine andere.
»Einen Augenblick«, sagte Glokta. Er wand sich aus seinem Stuhl und ging zur Tür, schloss sie sorgfältig, humpelte die Stufen zum Nebenraum hinauf und trat ein.
»Was, zur Hölle, tun Sie hier?«, fauchte ihn der Erzlektor an.
Glokta beugte den Kopf als Zeichen tiefen Respekts. »Ich versuche, die Wahrheit ans Licht zu bringen, Euer Eminenz …«
»Was versuchen Sie? Der Geschlossene Rat wartet auf ein Geständnis, und Sie faseln hier wovon?«
Glokta hielt dem Blick des Erzlektors stand. »Was ist, wenn er nicht lügt? Was, wenn der Imperator tatsächlich Frieden anbietet? Was, wenn er unschuldig ist?«
Sults kalte blaue Augen starrten Glokta ungläubig an. »Haben Sie in Gurkhul nur die Zähne verloren oder gleich Ihren Verstand? Es kümmert niemanden einen Dreck, ob er unschuldig ist! Wir müssen uns jetzt darum kümmern, die nötigen Schritte zu tun! Wir brauchen seine Unterschrift auf dem Papier, Sie … Sie …«, beinahe schäumte er aus dem Mund, und seine Fäuste ballten und lockerten sich wieder, »… Sie verkrüppelter Schatten eines Mannes! Bringen Sie ihn dazu, dass er unterschreibt, dann können wir das Buch hier schließen und uns damit beschäftigen, denen im Offenen Rat die Ärsche zu lecken!«
Glokta beugte den Kopf noch tiefer. »Jawohl, Euer Eminenz.«
»Ihre perverse Besessenheit mit der Wahrheit wird mir ja wohl heute Nacht keine weiteren Scherereien machen? Ich würde auch lieber eine Nadel als einen Spaten verwenden, aber egal wie, ich bekomme ein Geständnis von diesem Bastard! Oder muss ich nach Goyle schicken?«
»Natürlich nicht, Euer Eminenz.«
»Dann sehen Sie zu, dass Sie da wieder reingehen, und besorgen … Sie … seine … Unterschrift!«
Glokta verließ schlurfend das Zimmer, brummte vor sich hin, streckte den Kopf zu allen Seiten, rieb sich die wunden Handflächen, ließ die Schultern kreisen und hörte schließlich das vertraute Knirschen der Gelenke. Eine schwierige Befragung. Severard saß im Schneidersitz auf dem Boden vor der Tür, den Kopf gegen die dreckige Mauer gelehnt. »Hat er unterschrieben?«
»Natürlich.«
»Na prima. Wieder ein gelüftetes Geheimnis, was?«
»Ich bezweifle das. Er ist kein Verzehrer. Nicht so wie Schickel jedenfalls. Er empfindet Schmerz, das können Sie mir glauben.«
Severard zuckte die Achseln. »Sie sagte, dass jeder mit anderen Fähigkeiten ausgestattet ist.«
»Das sagte sie, das stimmt.« Aber dennoch. Glokta wischte sich sein tränendes Auge. Irgendjemand hat den Prinzen umgebracht. Irgendjemand hat einen Vorteil von seinem Tod. Ich wüsste gern, wer das ist, auch wenn das sonst niemanden interessiert. »Ich habe noch weitere Fragen, die ich stellen muss. Der Ritter, der gestern Abend vor den Gemächern des Prinzen Wache stand. Ich will ihn sprechen.«
Der Praktikal hob die Augenbrauen. »Wieso? Wir haben doch das Papier, oder nicht?«
»Holen Sie ihn einfach.«
Severard streckte die Beine aus und sprang auf. »Wie Sie wollen, Sie befehlen hier.« Er stieß, sich von der speckigen Wand ab und schlenderte den Korridor hinunter. »Ein Ritter der Wacht, kommt sofort.«