FRAGEN
An Sand dan Glokta, Superior von Dagoska, und für ihn
allein
Sie werden unverzüglich Ihre Reise antreten und den
Oberbefehl über die Inquisition in der Stadt Dagoska übernehmen.
Finden Sie dort heraus, was mit Ihrem Vorgänger geschah, Superior
Davoust. Untersuchen Sie seinen Verdacht bezüglich einer geplanten
Verschwörung, die möglicherweise vom Regierungsrat der Stadt selbst
ausgeht. Die Mitglieder dieses Rats sind genauestens zu überprüfen
und jegliche unloyalen Machenschaften vollständig auszurotten.
Lassen Sie bei der Bestrafung von Verrat keine Gnade walten, aber
stellen Sie sicher, dass Ihre Beweise stichhaltig sind. Wir können
uns keine weiteren Schnitzer mehr erlauben.
Gurkhisische Soldaten ziehen sich bereits vor der Halbinsel
zusammen und werden beim geringsten Anzeichen von Schwäche
losschlagen. Die königlichen Truppen sind in Angland voll und ganz
ausgelastet, und im Falle eines gurkhisischen Angriffs können Sie
nicht auf Hilfe hoffen. Daher werden Sie dafür sorgen, dass die
Verteidigungsanlagen der Stadt stark sind und dass alle nötigen
Vorbereitungen getroffen werden, um einer Belagerung standzuhalten.
Sie werden mich regelmäßig schriftlich über Ihre Fortschritte
informieren. Vor allem aber werden Sie dafür sorgen, dass Dagoska
unter keinen Umständen in die Hände der Gurkhisen fällt.
Enttäuschen Sie mich nicht.
Sult, Erzlektor der Inquisition Seiner Majestät
Glokta faltete den Brief sorgfältig zusammen und ließ ihn wieder in seine Tasche gleiten; dabei überprüfte er schnell, ob der Erlass des Königs noch an Ort und Stelle steckte. Verdammtes Ding. Das große Dokument hatte schwer in seiner Manteltasche gelastet, seit der Erzlektor es ihm gegeben hatte. Er zog es heraus und drehte es in den Händen, sodass sich das Sonnenlicht auf dem Goldblatt des großen roten Siegels brach. Ein einziges Stück Papier, aber nicht mit Gold aufzuwiegen. Von unschätzbarem Wert. Durch dieses Dokument spreche ich mit des Königs eigener Stimme. Ich bin der mächtigste Mann in Dagoska, mächtiger sogar als der Lord Statthalter selbst. Alle müssen mir gehorchen. Jedenfalls, solange es mir gelingt, am Leben zu bleiben.
Die Reise war nicht angenehm gewesen, auf einem kleinen Schiff und bei rauer See. Gloktas eigene Kabine war winzig, heiß und so stickig wie ein Backofen. Ein Ofen, der Tag und Nacht wild schaukelt. Wenn er nicht gerade versucht hatte, Haferschleim zu essen, während die Schüssel wild auf dem Tisch herumtanzte, war er damit beschäftigt gewesen, die kleinen Mengen, die er hatte schlucken können, wieder zu erbrechen. Aber unter Deck war wenigstens gewährleistet, dass sein nutzloses Bein nicht wegknickte und ihn über die Reling ins Meeresrund schickte. Nein, die Reise war wirklich nicht angenehm gewesen.
Aber jetzt war sie vorbei. Das Schiff glitt bereits zwischen den belebten Kaimauern an seinen Anlegeplatz. Die Seeleute mühten sich mit dem Anker und warfen Taue aufs Kai. Nun rutschte die Laufplanke vom Schiff auf das staubige Land.
»Sehr schön«, sagte Praktikal Severard. »Ich werde erst mal was trinken gehen.«
»Lassen Sie sich etwas Starkes einschenken, aber melden Sie sich später bitte noch einmal bei mir. Wir haben morgen viel Arbeit. Sehr viel Arbeit.«
Severard nickte, sodass sein strähniges Haar das dünne Gesicht umspielte. »Oh, ich lebe, um zu dienen.« Ich bin mir nicht sicher, wofür du lebst, aber ich zweifle stark daran, dass es das ist. Severard trollte sich, unmelodisch pfeifend, schlenderte über die Planke an Land und verschwand zwischen den staubig braunen Gebäuden.
Glokta beäugte die schmale Planke nicht ohne Besorgnis, umfasste mit der Hand fest den Griff seines Stocks, spielte mit der Zunge an seinem leeren Zahnfleisch und bereitete sich darauf vor, den ersten Schritt zu tun. Ein wahrer Akt selbstlosen Heldentums. Einen Augenblick überlegte er, ob es klüger sei, auf dem Bauch darüber zu kriechen. Damit wäre die Möglichkeit eines nassen Todes geringer, aber es wäre wohl kaum angemessen, nicht wahr? Der Ehrfurcht gebietende Superior der Inquisition rutscht auf dem Bauch in sein neues Reich?
»Brauchen Sie Hilfe?« Praktikalin Vitari sah ihn von der Seite an, an die Reling des Schiffes gelehnt; ihr rotes Haar stand ihr vom Kopf ab wie die Stacheln einer Distel. Sie hatte fast die ganze Überfahrt damit verbracht, sich an der frischen Luft zu sonnen wie eine Eidechse, ohne dass ihr die Bewegungen des Schiffes etwas ausgemacht hätten, und sie schien die Hitze im gleichen Maße zu lieben, wie Glokta sie verabscheute. Durch die schwarze Praktikalenmaske war es schwer, ihren Gesichtsausdruck richtig einzuschätzen. Aber die Aussichten stehen gut, dass sie lächelt. Wahrscheinlich formuliert sie bereits ihren ersten Bericht an den Erzlektor: »Der Krüppel hat den größten Teil der Reise unter Deck verbracht und gekotzt. Als wir in Dagoska eintrafen, musste er wie die Ladung mit einem Kran an Land gehoben werden. Er ist bereits zum Gespött geworden …«
»Natürlich nicht!«, fauchte Glokta und humpelte auf die Planke zu, als ob ihm die Schritte nicht das Geringste ausmachten. Der Steg wackelte besorgniserregend, als er seinen rechten Fuß darauf setzte. Schmerzlich wurde er sich des graugrünen Wassers bewusst, das alarmierend weit unter ihm gegen die glitschigen Steine der Kaimauer schwappte. Wasserleiche unten am Kai gefunden …
Aber es gelang ihm, das verdorrte Bein hinter sich herziehend, ohne Zwischenfall an Land zu kommen. Er fühlte ein absurdes Gefühl aufwallenden Stolzes, als er die staubigen Steine unter sich spürte und endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Wie albern. Man könnte meinen, ich hätte gerade die Gurkhisen geschlagen und die Stadt gerettet, anstatt nur drei Schritte nach vorn zu humpeln. Um das Maß voll zu machen, hatte er sich offenbar so sehr an das ständige Schwanken des Schiffes gewöhnt, dass sich ihm nun auf unbeweglichem Untergrund die Welt vor Augen drehte und ihm erneut übel wurde; der vergammelte Salzgestank, der von den in der Hitze brütenden Kais ausging, machte alles nur noch schlimmer. Er zwang sich, die bittere Spucke in seinem Mund herunterzuwürgen, schloss die Augen und wandte das Gesicht dem wolkenlosen Himmel zu.
Verdammt, ist das heiß. Glokta hatte vergessen, wie warm es im Süden werden konnte. Es war schon spät im Jahr, und dennoch brannte die Sonne vom Himmel, und er war unter seinem langen schwarzen Mantel schweißüberströmt. Die Kleidung der Inquisition ist sicherlich hervorragend dazu geeignet, bei einem Verdächtigen Angst auszulösen, aber in einer derart heißen Gegend ist sie leider eher unpraktisch.
Praktikal Frost war sogar noch schlechter dran. Der riesenhafte Albino hatte jedes Stückchen seiner milchweißen Haut, das sonst der Sonne ausgesetzt gewesen wäre, sorgfältig verdeckt und trug sogar schwarze Handschuhe und einen breitkrempigen Hut. Er sah mit misstrauisch und unbehaglich zusammengekniffenen Augen zum strahlenden Himmel empor, und das breite, weiße Gesicht glänzte rund um die schwarze Maske vor Schweiß.
Vitari wandte den beiden den Kopf zu. »Ihr zwei solltet mal öfter rausgehen«, brummte sie.
Ein Mann in der schwarzen Kleidung der Inquisition wartete am Ende des Kais, wobei er sich Schatten suchend möglichst nah an einer bröckeligen Mauer hielt, aber trotzdem stark schwitzte. Ein großer, knochiger Mann mit hervortretenden Augen, dessen Hakennase sonnenverbrannt rot war und abpellte. Das Willkommenskomitee? Nach der Größe zu urteilen, bin ich offenbar so gut wie gar nicht willkommen.
»Ich bin Harker, der oberste Inquisitor der Stadt.«
»Bis zu meiner Ankunft«, fiel ihm Glokta ins Wort. »Wie viele Leute haben Sie?«
Der Inquisitor verzog das Gesicht. »Vier Inquisitoren und um die zwanzig Praktikale.«
»Eine sehr kleine Einheit, um eine Stadt dieser Größe frei von Verrat zu halten.«
Harkers Gesicht nahm einen noch beleidigteren Ausdruck an. »Wir sind bisher sehr gut zurechtgekommen.« Ach, was Sie nicht sagen. Wenn man mal davon absieht, dass Ihnen der Superior abhanden gekommen ist, natürlich. »Sind Sie zum ersten Mal in Dagoska?«
»Ich habe einige Zeit im Süden verbracht.« Die besten Tage meines Lebens, und die schlimmsten. »Während des Krieges war ich in Gurkhul. Ich habe Ulrioch miterlebt.« Völlig zerstört, nachdem wir die Stadt niedergebrannt hatten. »Und ich war zwei Jahre lang in Schaffa.« Wenn man die Zeit in den Gefängnissen des Imperators mitzählt. Zwei Jahre in brennender Hitze und lastender Dunkelheit. Zwei Jahre in der Hölle. »Aber ich war noch nie in Dagoska.«
»Hmpf«, schnaubte Harker, der sich nicht im Geringsten beeindruckt zeigte. »Sie sind in der Zitadelle untergebracht.« Er deutete mit dem Kinn zu dem großen Felsen hinüber, der über der Stadt aufragte. Natürlich. Ganz sicher im obersten Stockwerk des höchsten Gebäudes. »Ich führe Sie hin. Lord Statthalter Vurms und der Regierungsrat werden ihren neuen Superior baldmöglichst kennen lernen wollen.« Er wandte sich mit bitterem Gesichtsausdruck ab. Sie glaubten wohl, den Posten selbst verdient zu haben? Tut mir gar nicht leid, dass ich Sie da enttäuschen muss.
Harker hielt mit zügigem Schritt auf die Stadt zu. Praktikal Frost schlurfte mit angespannten Schultern neben ihm dahin und drängte sich so sehr an jedes kleine Stückchen Schatten, dass man hätte glauben können, die Sonne werfe mit winzigen Flammenpfeilen nach ihm. Vitari hüpfte im Zickzack über die Straße, als ob sie tanze, und blickte neugierig in die Fenster und die kleinen Nebenstraßen. Glokta hinkte hinterher; sein linkes Bein begann bereits vor Anstrengung zu brennen.
»Der Krüppel schaffte nur drei Schritte in die Stadt, bevor er vornüberfiel und den Rest des Weges auf einer Bahre getragen werden musste, wobei er wie ein halb abgestochenes Schwein quiekte und nach Wasser schrie, während die Bürger, die er ja eigentlich in Angst und Schrecken versetzen sollte, ihn mit ungläubigen Blicken bedachten …«
Er verzog die Lippen, presste die verbliebenen Zähne auf das leere Zahnfleisch und zwang sich, mit den anderen Schritt zu halten. Der Griff seines Stocks bohrte sich in seine Handfläche, und sein Rückgrat gab bei jedem Schritt ein schmerzhaftes Klacken von sich.
»Dies ist die Unterstadt«, brummte ihm Harker über die Schulter hinweg zu, »wo die Einheimischen leben.«
Ein riesiger, kochender, staubiger, stinkender Elendsbezirk. Die Gebäude waren armselig und verkommen: wacklige, einstöckige Hütten, windschiefe Stapel schlecht gebrannter Schlammziegel. Die Menschen waren dunkelhäutig, schäbig gekleidet und sahen hungrig aus. Eine knochige Frau blickte ihnen aus einer Türöffnung hinterher. Ein alter Mann mit nur einem Bein humpelte auf verbogenen Krücken vorüber. In einer engen Gasse flitzten zerlumpte Kinder zwischen Müllhaufen herum. Die Luft war schwer und stank nach Fäulnis und verstopften Abflüssen. Oder gar keinen Abflüssen. Überall summten Fliegen. Dicke, zornige Fliegen. Die einzigen Wesen, die hier gedeihen.
»Hätte ich gewusst, wie schön es hier ist«, meinte Glokta, »wäre ich früher schon einmal hierhergereist. Wie es aussieht, haben die Dagoskaner wirklich sehr vom Beitritt in die Union profitiert, wie?«
Harker fiel die Ironie nicht auf. »Das haben sie, in der Tat. In der kurzen Zeit, in der die Gurkhisen die Stadt beherrschten, hatten sie viele der führenden Bürger versklavt. Jetzt, unter der Union, sind sie wahrhaft frei und können leben und arbeiten, wie es ihnen gefällt.«
»Wahrhaft frei, wie?« So sieht also die Freiheit aus. Glokta schaute zu einer Gruppe finster dreinblickender Einheimischer, die sich um einen Marktstand scharten, auf dem einige halb verfaulte Früchte und fliegenübersäte Schlachtabfälle feilgeboten wurden.
»Nun ja, die meisten.« Harker verzog das Gesicht. »Die Inquisition musste ein paar Unruhestifter ausmerzen, als wir hier eintrafen. Vor drei Jahren dann riefen diese undankbaren Schweine zu einer Rebellion auf.« Nachdem wir ihnen die Freiheit gegeben hatten, wie Tiere in ihrer eigenen Stadt zu leben? Wie schockierend. »Wir konnten sie natürlich niederschlagen, aber sie hatten unglaublich viel Schaden angerichtet. Seitdem ist den Einheimischen das Tragen von Waffen verboten, und sie dürfen auch die Oberstadt nicht mehr betreten, in der die meisten Weißen leben. Inzwischen ist es ruhiger geworden. Das zeigt nur, dass es wirklich immer wieder das Beste ist, dieses barbarische Pack mit fester Hand zu regieren.«
»Das barbarische Pack hat jedenfalls ziemlich beeindruckende Verteidigungsanlagen gebaut.«
Eine hohe Mauer zog sich vor ihnen durch die Stadt und warf einen langen Schatten auf die heruntergekommenen Häuser der Elendsviertel. Davor erstreckte sich ein breiter Graben, der offenbar frisch ausgehoben und mit angespitzten Pfählen versehen worden war. Eine schmale Brücke führte zu einem Durchgang zwischen hoch aufragenden Türmen. Die schweren Tore standen offen, aber ein Dutzend Männer hielt dort Wache: schwitzende Unionssoldaten mit Stahlhelmen und nietenbeschlagenen Ledermänteln, deren Schwerter und Speere im harten Sonnenlicht glänzten.
»Ein gut bewachtes Tor«, überlegte Vitari laut. »Wenn man bedenkt, dass es sich im Innern der Stadt befindet.«
Harker verzog den Mund. »Seit der Rebellion dürfen die Einheimischen nur dann in die Stadt, wenn sie einen Passierschein besitzen.«
»Und wer bekommt einen solchen Passierschein?«, fragte Glokta.
»Einige besonders geschickte Handwerker und dergleichen, die noch immer in den Diensten der Gewürzhändlergilde stehen, aber hauptsächlich Bedienstete, die in der Oberstadt und in der Zitadelle arbeiten. Viele Unionsbürger, die hier leben, haben einheimische Diener, einige sogar mehrere.«
»Die Einheimischen hier sind aber doch auch Bürger der Union?«
Harker kräuselte die Lippen. »Wie Sie meinen, Herr Superior. Aber man kann ihnen nicht vertrauen, das ist nun mal so. Sie denken nicht wie wir.«
»Tatsächlich?« Wenn sie überhaupt denken, dann wäre das schon mal eine Verbesserung gegenüber diesem Barbaren hier.
»Diese braunen Teufel sind allesamt Abschaum. Gurkhisen, Dagoskaner, das ist doch alles dasselbe. Diebe und Mörder, allesamt. Am besten ist, man zeigt ihnen, wo ihr Platz ist, und sieht zu, dass sie auch dort bleiben.« Harker blickte finsteren Gesichts auf das in der Sonne bratende Elendsviertel. »Wenn etwas nach Scheiße riecht und auch dieselbe Farbe hat, dann ist es aller Wahrscheinlichkeit nach auch Scheiße.« Er wandte sich um und marschierte über die Brücke.
»Welch ein entzückender und erleuchteter Mensch«, bemerkte Vitari. Genau das dachte ich auch gerade. jenseits des Tores befand sich eine gänzlich andere Welt. Hohe Kuppeln, elegante Türme, Mosaiken aus farbigem Glas und Säulen aus weißem Marmor leuchteten in der grellen Sonne. Die Straßen waren breit und sauber, die Häuser in gutem Zustand. Auf den schön angelegten Plätzen gab es sogar einige durstig aussehende Palmen. Die Menschen waren geschmeidig, gut gekleidet und hellhäutig. Abgesehen von sehr häufig auftretendem Sonnenbrand. Einige dunkle Gesichter waren ebenfalls darunter, hielten sich aber vorsichtig abseits und die Augen auf den Boden gerichtet. Die wenigen, die das Glück haben, hier dienen zu dürfen? Sie müssen sich wohl glücklich schätzen, dass die Sklaverei in der Union verboten ist.
Über allen anderen Geräuschen konnte Glokta einen dröhnenden Lärm vernehmen, wie eine Schlacht, die in weiter Entfernung tobte. Er wurde lauter, während sich der neue Superior auf seinem schmerzenden Bein durch die Oberstadt schleppte, und schwoll zu wütender Stärke an, als sie einen großen Platz erreichten, auf dem sich von einer Seite bis zur anderen eine bunt gemischte Menge hin und her schob und sich Menschen aus Midderland, aus Gurkhul und aus Styrien, schlitzäugige Leute aus Suljuk, gelbhaarige Bürger des Alten Kaiserreichs, sogar bärtige Nordmänner fern der Heimat drängten.
»Kaufleute«, knurrte Harker. Sämtliche Kaufleute der ganzen Welt, so wie es scheint. Sie scharten sich um Stände, auf denen sich Waren türmten; dort gab es auch große Waagen, auf denen alles Mögliche abgewogen werden konnte, und Schiefertafeln gaben die Preise an. Die Händler brüllten, feilschten, kauften und verkauften in einer Vielzahl verschiedener Sprachen, warfen die Hände mit seltsamen Gesten in die Luft, schoben und zogen und zeigten auf einander. Sie schnupperten an Gewürzkästchen und Räucherkerzen, befingerten Tuchballen und Bohlen seltener Hölzer, prüften mit dem Daumen Früchte, bissen auf Münzen und betrachteten schimmernde Edelsteine durch dicke Vergrößerungsgläser. Hier und da drängte sich ein einheimischer Träger durch die Menge, der unter großen Lasten beinahe einknickte.
»Die Gewürzhändler bekommen einen Anteil am gesamten Handel«, sagte Harker, der sich ungeduldig durch die schnatternden Leute schob.
»Das muss aber eine Menge sein«, murmelte Vitari unterdrückt. Eine ziemlich große Menge, würde ich sagen. Genug, um den Gurkhisen zu trotzen. Genug, um die ganze Stadt unter ihrer Knute zu halten. Morde werden schon für viel, viel weniger Geld begangen.
Glokta zog eine Grimasse und machte sich mit grimmigem Gesicht daran, humpelnd und schiebend mit schmerzenden Schritten den Platz zu überqueren. Erst, als sie das Gedränge auf der anderen Seite des Platzes wieder hinter sich ließen, entdeckte er, dass sie im Schatten eines großen und eleganten Gebäudes standen, das sich Bogen um Bogen und Kuppel um Kuppel hoch über die Köpfe erhob. Zierliche Türmchen, schlank und zerbrechlich, strebten an jeder Ecke gen Himmel.
»Überwältigend«, hauchte Glokta, der seinen schmerzenden Rücken streckte und nach oben schielte. Der rein weiße Stein leuchtete so sehr in der Nachmittagssonne, dass der Anblick beinahe schmerzte. »Wenn man das hier sieht, könnte man beinahe anfangen, an Gott zu glauben.« Wenn man es denn nicht besser wüsste.
»Hrrm«, machte Harker abfällig. »Die Einheimischen pflegten hier zu Tausenden zu beten; sie vergifteten die Luft mit ihren verdammten Gesängen und ihrem Aberglauben, bis die Rebellion niedergeschlagen wurde.«
»Und jetzt?«
»Superior Davoust hat ihnen verboten, das Gebäude weiterhin zu betreten. Wie alles andere in der Oberstadt. Die Gewürzhändler nutzen es jetzt als Erweiterung des Marktplatzes, zum Kaufen und Verkaufen und so weiter.«
»Hm.« Wie ungeheuer passend. Ein Tempel für das Geldverdienen. Unsere eigene schnöde Religion.
»Auch nutzt wohl eine Bank einen Teil davon als Kontor, glaube ich.«
»Eine Bank? Welche denn?«
»Die Gewürzhändler kümmern sich um diesen ganzen Bereich«, antwortete Harker kurz angebunden und ungeduldig. »Valint und noch was, wenn ich mich recht entsinne.«
»Balk. Valint und Balk.« Alte Bekannte sind also schon vor mir eingetroffen, wie? Hätte ich mir ja denken können. Diese Drecksäcke sind doch überall. Überall, wo es Geld gibt. Er sah sich auf dem so überaus belebten Marktplatz um. Und hier gibt es jede Menge Geld.
Der Weg wurde steiler, als er den großen Felsen hinaufführte. Die Straßen verliefen über terrassenartige Stufen, die man aus dem trockenen Bergrücken herausgehauen hatte. Glokta schleppte sich auf seinen Stock gestützt durch die sengende Hitze und biss sich auf die Lippe, um den Schmerz im Bein aushalten zu können. Er war durstig wie ein Tier und merkte, wie ihm der Schweiß aus jeder Pore drang. Harker machte sich nicht die Mühe, etwas langsamer zu gehen, obwohl Glokta schließlich ein wenig zurückfiel. Und ich will verdammt sein, bevor ich ihn darum bitte.
»Über uns befindet sich die Zitadelle.« Der Inquisitor deutete mit der Hand auf die große Zahl von Gebäuden mit hohen Mauern, Kuppeln und Türmchen, die sich weit über den Dächern der Stadt an die Spitze des braunen Felsens schmiegten. »Hier lebte einmal der König der Einheimischen, aber jetzt dient sie als Verwaltungssitz, und außerdem haben einige der bedeutendsten Bürger hier ihr Domizil. Das Gildehaus der Gewürzhändler befindet sich ebenfalls dort oben, ebenso wie das Haus der Befragungen.«
»Eine faszinierender Ausblick«, sagte Vitari leise.
Glokta wandte sich um und beschattete die Augen mit der Hand. Dagoska lag ausgebreitet vor ihnen, beinahe wie eine Insel. Die Oberstadt fiel in weitem Schwung unter ihnen ab, ein ordentliches Raster sauberer Häuser, getrennt durch lange, gerade Straßen, die von gelben Palmen und weißen Plätzen unterbrochen wurden. Auf der anderen Seite der langen, gewundenen Mauer erstreckte das staubig braune Durcheinander der Elendsviertel. Sie wurden überschattet von der mächtigen Befestigungsmauer, die in der Hitze flimmerte und über den engen Felsrücken lief, der die Stadt mit dem Festland verband, eingekeilt zwischen dem blauen Meer auf der einen und dem blauen Hafen auf der anderen Seite. Die stärksten Verteidigungsanlagen der Welt, sagt man. Ob diese stolze Behauptung wohl bald auf den Prüfstand kommen wird?
»Superior Glokta?« Harker räusperte sich. »Der Lord Statthalter und der Rat der Stadt erwarten Sie.«
»Sie können ruhig noch ein wenig länger warten. Ich bin neugierig, welche Fortschritte Sie bei Ihren Untersuchungen gemacht haben, was das Verschwinden von Superior Davoust angeht.« Es wäre schließlich doch sehr unglücklich, wenn den neuen Superior schon bald dasselbe Schicksal ereilte.
Harker runzelte die Stirn. »Nun ja … wir sind ein wenig vorangekommen. Ich hege keinen Zweifel daran, dass die Einheimischen dafür verantwortlich sind. Sie planen eine Verschwörung nach der anderen. Trotz der Maßnahmen, die Davoust nach der Rebellion ergriffen hat, wollen einige von ihnen immer noch nicht begreifen, wo ihr Platz ist.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Es ist leider nur allzu wahr, das können Sie mir glauben. Drei dagoskanische Dienstboten waren in der Nacht, als der Superior verschwand, in seinen Gemächern. Ich habe sie befragt.«
»Und was haben Sie herausgefunden?«
»Leider noch nichts. Sie haben sich als sehr widerspenstig erwiesen.«
»Dann lassen Sie sie uns gemeinsam befragen.«
»Gemeinsam?« Harker fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe nicht erwartet, dass Sie so etwas selbst übernehmen wollen würden, Herr Superior.«
»Nun wissen Sie es.«
Man hätte glauben können, dass es hier, tief unten im Fels, kälter sei. Aber es war genauso warm wie in den hitzeflimmernden Straßen, ohne dass auch nur ein einziger gnädiger Luftzug zu spüren gewesen wäre. Der Korridor war still, tot und so stickig wie ein Grab. Vitaris Fackel warf flackernde Schatten in die Ecken, und hinter ihnen herrschte sogleich wieder Dunkelheit.
Harker hielt vor einer eisenbeschlagenen Tür inne und wischte sich dicke Schweißtropfen aus dem Gesicht. »Ich muss Sie warnen, Herr Superior, es war unerlässlich, sehr … streng mit ihnen zu sein. Eine harte Hand ist immer das Beste, wissen Sie.«
»Oh, ich kann selbst recht streng sein, wenn die Lage es erfordert. Ich bin nicht leicht zu schockieren.«
»Gut, gut.« Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür schwang auf, und ein ekelhafter Geruch drang auf den Flur hinaus. Wie eine Mischung aus Latrinen und vergammelnden Müllhaufen. Die Zelle war mehr als winzig. Sie hatte keinerlei Fenster, und die Decke war so niedrig, dass man kaum aufrecht stehen konnte. Die Hitze war überwältigend, der Gestank fürchterlich. Es erinnerte Glokta an eine andere Zelle. Weiter südlich, in Schaffa. Tief unter dem Palast des Imperators. Eine Zelle, in der ich zwei Jahre vor mich hinröchelte, in der Schwärze brüllte und schrie, an den Wänden kratzte und in meinem eigenen Dreck herumkroch. Sein eines Auge hatte zu zucken begonnen, und er rieb es vorsichtig mit seinem Finger.
Ein Gefangener lag ausgestreckt mit dem Gesicht zur Wand da, die Haut war schwarz vor Blutergüssen, beide Beine waren gebrochen. Ein weiterer war an den Handgelenken an der Decke angekettet worden, seine Knie berührten den Boden, sein Kopf hing matt herunter, und sein Rücken war blutrot von Peitschenstriemen. Vitari bückte sich und stupste einen der beiden mit dem Finger an. »Tot«, sagte sie schlicht. Sie wandte sich dem anderen zu. »Genau wie der hier. Die sind schon eine ganze Weile tot.«
Das zuckende Licht fiel auf eine dritte Gefangene. Sie lebte noch. Gerade eben. Man hatte sie an Händen und Füßen in Eisen gelegt, ihr Gesicht war eingefallen vor Hunger, die Lippen vor Durst gesprungen, und sie hielt einige dreckige, Blut verkrustete Lumpen an die Brust gepresst. Ihre Hacken schrammten über den Boden, als sie versuchte, sich in die hinterste Ecke der Zelle zu drängen, während sie kaum wahrnehmbar auf Kantesisch vor sich hin brabbelte und sich eine Hand vors Gesicht hielt, um sich vor dem Licht zu schützen. Ich erinnere mich. Es gibt nur eines, das schlimmer ist als die Dunkelheit – wenn das Licht kommt. Denn mit dem Licht kommen stets neue Fragen.
Glokta runzelte die Stirn, während seine Augen von den zwei übel zugerichteten Leichen zu dem zusammengekauerten Mädchen glitten, und ihm wurde beinahe schwindlig von der Anstrengung, der Hitze, dem Gestank. »Das ist ja sehr hübsch. Was haben sie Ihnen erzählt?«
Harker hielt sich die Hand vor Mund und Nase, als er einen zögernden Schritt in die Zelle hinein tat. Frost blieb direkt hinter ihm. »Noch nichts, aber ich …«
»Aus diesen beiden werden Sie nun wohl nichts mehr herausholen, fürchte ich. Ich hoffe, sie hatten bereits ihre Geständnisse unterzeichnet.«
»Ähm … nicht direkt. Superior Davoust hat sich nie so sehr für die Geständnisse dieser Braunhäute interessiert, wir haben eher nur, wissen Sie …«
»Es war Ihnen nicht möglich, sie so lange am Leben zu halten, bis sie unterschrieben hätten?«
Harker machte ein beleidigtes Gesicht. Wie ein Kind, das grundlos von seinem Lehrer gezüchtigt wird. »Das Mädchen ist ja noch da«, gab er schnippisch zurück.
Glokta sah auf die Gefangene und leckte sich über die Stelle, wo einmal seine Vorderzähne gewesen waren. Hier wurde ohne jegliche Methode vorgegangen. Ohne Ziel. Brutalität als Selbstzweck. Mir könnte fast schlecht werden, wenn ich denn heute schon etwas gegessen hätte. »Wie alt ist sie?«
»Vierzehn vielleicht, Herr Superior, aber ich verstehe nicht, wieso das von Bedeutung ist.«
»Es ist deshalb von Bedeutung, Herr Inquisitor Harker, weil Verschwörungen in den seltensten Fällen von vierzehnjährigen Mädchen angeführt werden.«
»Ich hielt es für das Beste, möglichst gründlich zu sein.«
»Gründlich? Haben Sie ihnen überhaupt irgendwelche Fragen gestellt?«
»Nun ja, ich …«
Gloktas Stock fuhr Harker glatt über das Gesicht. Die plötzliche Bewegung bereitete dem Superior einen stechenden Schmerz in der Seite, und er verlor auf seinem schwachen Bein das Gleichgewicht und musste sich an Frosts Arm festhalten, um nicht zu stürzen. Der Inquisitor schrie vor Schmerz und Schreck auf, prallte gegen die Wand und rutschte in den Unrat auf dem Zellenboden.
»Sie sind kein Inquisitor!«, zischte Glokta. »Sie sind ein verdammter Schlächter! Sehen Sie sich einmal den Zustand dieser Zelle an! Und Sie haben zwei unserer Zeugen getötet! Was nützen sie uns denn jetzt, Sie Narr?« Glokta beugte sich vor. »Es sei denn, dass genau dies in Ihrer Absicht lag! Vielleicht wurde Davoust ja auch von einem eifersüchtigen Untergebenen aus dem Weg geräumt? Einem Untergebenen, der dann die Zeugen zum Schweigen bringen wollte, wie, Harker? Vielleicht sollte ich mit meinen Untersuchungen direkt bei der Inquisition selbst beginnen!«
Praktikal Frost überragte Harker drohend, als jener aufzustehen versuchte, und der Inquisitor drückte sich verängstigt wieder gegen die Wand, während etwas Blut aus seiner Nase tropfte. »Nein, nein! Bitte! Es war ein Unfall! Ich wollte sie nicht töten! Ich wollte nur herausfinden, was geschehen war!«
»Ein Unfall? Sie sind entweder ein Verräter oder aber völlig unfähig, und ich habe für Menschen beider Art keinerlei Verwendung!« Glokta beugte sich noch weiter hinunter und ignorierte den Schmerz, der seinen Rücken hinaufschoss. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das seine breiten Zahnlücken zeigte. »Ich habe gehört, dass eine harte Hand besonders wirkungsvoll ist, wenn man es mit barbarischem Pack zu tun hat, Herr Inquisitor. Sie werden entdecken, dass es keine härtere Hand gibt als meine. Nirgendwo. Schafft mir diesen Wurm aus den Augen!«
Frost schnappte Harker an dessen Mantel und schleifte ihn über den verunreinigten Boden zur Tür.
»Warten Sie!«, schrie der Inquisitor. »Bitte! Das können Sie doch nicht tun!« Seine Schreie verhallten auf dem Flur.
Rund um Vitaris Augen war ein feines Lächeln zu erkennen, als ob ihr die kleine Szene gefallen hätte. »Was ist mit diesem Dreckloch?«
»Lassen Sie hier sauber machen.« Glokta lehnte sich gegen die Wand. In seiner Seite pochte der Schmerz, und er wischte sich mit zitternder Hand den Schweiß vom Gesicht. »Lassen Sie die Zelle reinigen. Die Leichen werden begraben.«
Vitari nickte zu der Überlebenden. »Was ist mit ihr?«
»Sie soll baden, und dann geben Sie ihr Kleidung und etwas zu essen. Lassen Sie sie gehen.«
»Es lohnt sich wohl kaum, sie ins Bad zu stecken, wenn sie danach in die Unterstadt zurückkehrt.«
Da hat sie nicht Unrecht. »Na schön! Sie war Davousts Dienerin, sie kann auch meine sein. Schicken Sie das Mädchen wieder an die Arbeit!«, rief er Vitari über seine Schulter zu, als er bereits auf die Tür zuhumpelte. Er musste aus dieser Zelle hinaus. Er bekam kaum noch Luft.
»Es tut mir leid, Sie alle enttäuschen zu müssen, aber die Mauern sind alles andere als unüberwindlich, jedenfalls nicht in ihrem gegenwärtigen Zustand …« Der Sprecher ließ seinen letzten Satz allmählich verebben, als Glokta durch die Tür des Raumes schlurfte, in dem der Regierungsrat Dagoskas tagte.
Dieses Zimmer unterschied sich so sehr von der Zelle weiter unten im Gebäude, wie überhaupt nur möglich war. Es ist tatsächlich der schönste Raum, in dem ich mich je befunden habe. Die Wände und die Decke waren über und über mit feinsten Schnitzereien bedeckt: Geometrische Muster von beinahe beängstigender Zartheit wanden sich um lebensgroße Szenen aus kantesischen Legenden, die in schimmerndem Silber und Gold und in leuchtendem Rot und Blau gemalt waren. Den Boden bedeckte ein wundersam verschlungenes Mosaik, der lange Tisch war mit Einlegearbeiten aus geschwungenem dunklem Holz und Elfenbeinsplittern verziert und poliert, dass er wie ein Spiegel glänzte. Die hohen Fenster boten einen beeindruckenden Blick über die staubig braune Stadt, die sich darunter ausdehnte, und auf die glitzernde Bucht dahinter.
Die Frau, die zur Begrüßung aufstand, als Glokta eintrat, schien in dieser überwältigenden Umgebung kein bisschen fehl am Platze. Nicht im Geringsten.
»Ich bin Carlot dan Eider«, sagte sie, lächelte gewinnend und hielt ihm die Hände wie einem alten Freund entgegen. »Die Magisterin der Gewürzhändlergilde.«
Glokta war beeindruckt, das musste er zugeben. Und wenn nur von ihren guten Nerven. Nicht einmal das kleinste Anzeichen von Entsetzen. Sie begrüßt mich, als sei ich keine entstellte, zuckende, verkrüppelte Ruine. Sie begrüßt mich, als sähe ich so gut aus wie sie. Carlot dan Eider trug ein langes Gewand nach Art des Südens: blaue Seide, mit Silber gesäumt, die sie in der kühlen Brise, die durch die hohen Fenster hineindrang, schimmernd umspielte. Schmuck von unfassbarem Wert funkelte an ihren Fingern, den Handgelenken und am Hals. Glokta bemerkte einen seltsamen Wohlgeruch, als sie näher kam. Süß. Möglicherweise wie die Gewürze, die sie so überaus reich gemacht haben. Es verfehlte seine Wirkung auf ihn keinesfalls. Ich bin doch immer noch ein Mann. Nur nicht mehr ganz so sehr wie früher.
»Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug, aber die kantesischen Gewänder sind bei der Hitze so viel angenehmer zu tragen. Ich habe mich in den Jahren, die ich inzwischen hier lebe, sehr an sie gewöhnt.«
Dass sie sich für ihren Aufzug entschuldigt, ist ungefähr so, als entschuldigte sich ein Genie für seine Dummheit. »Nicht der Rede wert.« Glokta verbeugte sich, so tief es ihm mit seinem lahmen Bein und dem Schmerz, der seinen Rücken durchfuhr, möglich war. »Superior Glokta, zu Ihren Diensten.«
»Wir freuen uns so sehr, Sie bei uns zu haben. Seit dem Verschwinden Ihres Vorgängers, Superior Davoust, waren wir äußerst beunruhigt.« Einige von Ihnen vermutlich mehr, die anderen weniger.
»Ich hoffe, in dieser Angelegenheit bald Licht ins Dunkel bringen zu können.«
»Das hoffen wir alle sehr.« Sie fasste Glokta mit selbstbewusster Gelassenheit am Ellenbogen. »Lassen Sie mich Ihnen die Herrschaften vorstellen.«
Glokta ließ sich jedoch nicht von ihr führen. »Ich danke Ihnen, Frau Magisterin, aber ich glaube, das kann ich selbst erledigen.« Er schlurfte ohne Hilfe zum Tisch hinüber. »Sie sind sicherlich General Vissbruck, dem die Verteidigung der Stadt übertragen ist.« Der General war Mitte vierzig, mit leicht zurückgehendem Haarwuchs, und schwitzte stark in einer reich verzierten Uniform, die trotz der Hitze bis zum Kinn zugeknöpft war. Ich erinnere mich an Sie. Sie waren in Gurkhul, im Krieg. Ein Major der Königstreuen, der allgemein als Trottel galt. Offenbar haben Sie sich erfolgreich hochgearbeitet, wie Trottel es in der Regel tun.
»Es ist mir ein Vergnügen«, sagte Vissbruck, der kaum von seinen Papieren aufblickte.
»Es ist stets ein Vergnügen, eine alte Bekanntschaft zu erneuern.«
»Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Wir haben in Gurkhul zusammen gekämpft.«
»Haben wir?« Ein erschrecktes Zucken lief über Vissbrucks Gesicht. »Sie sind … der Glokta?«
»Ja, ich bin wohl tatsächlich, wie Sie sagen, genau der.«
Der General blinzelte. »Äh, ja, nun … Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Sehr schmerzvoll im Ganzen, danke der Nachfrage, aber ich sehe, dass es für Sie sehr gut gelaufen ist, und das ist mir ein großer Trost.« Vissbrucks Lider zuckten, aber Glokta ließ ihm keine Zeit für eine Entgegnung. »Und das ist sicherlich Lord Statthalter Vurms. Es ist mir eine wahre Ehre, Euer Ehren.«
Der alte Mann erinnerte an ein Spottbild der Altersschwäche. Er wirkte in seinen Staatsgewändern eingefallen wie eine eingeschrumpelte Rosine mit pelziger Haut. Seine Hände schienen trotz der Hitze zu zittern, und sein Kopf war, abgesehen von einigen weißen Haarbüscheln, völlig kahl. Aus zusammengekniffenen, schwachen und entzündeten Augen blickte er zu Glokta auf.
»Was hat er gesagt?«, fragte der Lord Statthalter verwirrt. »Wer ist dieser Mann?«
General Vissbruck beugte sich vor, bis seine Lippen beinahe das Ohr des Alten berührten. »Superior Glokta, Euer Ehren! Der Nachfolger von Davoust!«
»Glokta? Glokta? Wo zur Hölle steckt denn dieser Davoust überhaupt?« Es machte sich niemand die Mühe zu antworten.
»Ich bin Korsten dan Vurms.« Der Sohn des Lord Statthalters nannte seinen Namen, als sei er ein Zauberwort, und bot Glokta seine Hand wie ein unbezahlbar kostbares Geschenk. Er war blond und gut aussehend, hatte sich lässig auf seinen Stuhl gefläzt, verströmte mit seinem leicht gebräunten Äußeren beste Gesundheit und war so geschmeidig und athletisch, wie sein Vater alt und hinfällig wirkte. Ich verabscheue ihn schon jetzt.
»Wie ich erfahren habe, führten Sie einmal einen recht ordentlichen Degen.« Vurms sah mit spöttischem Lächeln an Glokta herunter. »Ich fechte selbst ein wenig, aber es gibt hier kaum jemanden, der mich herausfordern könnte. Vielleicht könnten wir einmal gegeneinander antreten?« Ich würde ja nur zu gern, du kleiner Drecksack. Wenn ich noch so auf meinen Beinen wäre wie früher, würde ich dich in Grund und Boden rammen.
»Ich habe tatsächlich einmal gefochten, aber leider musste ich aufhören. Aus gesundheitlichen Gründen.« Glokta zeigte sein zahnloses Grinsen. »Aber ich kann Ihnen sicher einige gute Ratschläge geben, wenn Sie sich noch ein wenig verbessern wollen.« Vurms verzog das Gesicht, aber Glokta hatte sich schon dem nächsten Mann am Tisch zugewandt. »Sie müssen Haddisch Kahdia sein.«
Der Haddisch war ein hoch gewachsener, schlanker Mann mit langem Hals und müden Augen. Er trug eine weiße, schlichte Robe und hatte sich einen ebenso schlichten weißen Turban um den Kopf gewunden. Er sieht keinen Deut wohler aus als die anderen Einheimischen in der Unterstadt, und dennoch umgibt ihn eine gewisse Würde.
»Ich bin Kahdia, und die Menschen von Dagoska haben mich gewählt, um hier für sie zu sprechen. Aber ich nenne mich nicht länger einen Haddisch. Ein Priester ohne Tempel ist kein Priester.«
»Müssen wir uns diese Tempelgeschichte schon wieder anhören?«, seufzte Vurms.
»Ich fürchte ja, solange ich Mitglied dieses Rats bin.« Wieder sah er Glokta an. »Also haben wir einen neuen Inquisitor in der Stadt? Einen neuen Teufel. Einen neuen Todesbringer. Ihr Kommen und Gehen interessiert mich nicht, Folterknecht.«
Glokta lächelte. Er bekennt seinen Hass gegenüber der Inquisition, noch bevor er meine Instrumente sieht. Aber man kann kaum erwarten, dass sein Volk der Union viel Zuneigung entgegenbringt, nachdem es in der eigenen Stadt kaum ein besseres Dasein fristet, als man es Sklaven zuerkennt. Könnte er unser Verräter sein?
Oder er? General Vissbruck machte mit jeder Faser den Eindruck eines treu ergebenen Offiziers, eines Mannes, der für eine Intrige zu viel Pflichtgefühl und zu wenig Einfallsreichtum besaß. Aber die wenigsten Generäle kommen auf ihre Posten, ohne auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein, ohne die Räderwerke zu schmieren und ohne ein paar Geheimnisse zu bewahren.
Oder er? Korsten dan Vurms sah Glokta mit einem so verächtlichen Gesichtsausdruck an, als sei er eine schmutzige Latrine, die er zu benutzen gezwungen war. Solche wie ihn habe ich schon Tausende von Malen gesehen. Ein arroganter Welpe. Mag sein, dass er der Sohn des Lord Statthalters ist, aber ganz offensichtlich fühlt er sich niemandem gegenüber zur Treue verpflichtet außer sich selbst.
Oder sie? Magisterin Eider zeigte ein überaus freundliches Lächeln und viel Höflichkeit, aber ihre Augen waren hart wie Diamanten. Sie sieht mich so abschätzend an wie ein Kaufmann einen unwissenden Kunden. Hinter ihren guten Manieren und ihrer Schwäche für ausländische Mode steckt einiges mehr. Viel mehr.
Oder er? Selbst der alte Lord Statthalter erschien ihm nun verdächtig. Hat er wirklich so schlechte Augen und Ohren, wie er vorgibt? Oder blitzt ein Hauch von Schauspielerei in seinen zusammengekniffenen Augen auf, wenn er wissen will, was um ihn herum geschieht? Weiß er jetzt schon mehr als alle anderen?
Glokta wandte sich um und hinkte auf das Fenster zu, lehnte sich an die bestechend schön geschnitzte Säule und sog den überwältigenden Anblick ein, während die Abendsonne sein Gesicht wärmte. Er fühlte bereits, wie sich hinter ihm die Ratsmitglieder ungeduldig rührten und es nicht erwarten konnten, ihn los zu sein. Wie lange es wohl dauern wird, bevor sie den Krüppel aus ihrem wunderschönen Raum hinausjagen? Ich traue keinem von ihnen. Keinem einzigen. Er lächelte sarkastisch in sich hinein. Es ist genau, wie es sein sollte.
Es war Korsten dan Vurms, der als Erster die Geduld verlor. »Superior Glokta«, erklärte er kurz angebunden. »Wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie sich hier so ausführlich vorgestellt haben, aber ich bin sicher, dass dringendere Aufgaben auf Sie warten. Wir jedenfalls haben zu tun.«
»Selbstverständlich.« Glokta humpelte übertrieben langsam zum Tisch zurück, als ob er den Raum verlassen wollte. Dann zog er sich unvermittelt einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken; kurz zuckte er zusammen, als der gewohnte Schmerz sein Bein durchfuhr. »Ich werde meine Ausführungen auf ein Minimum beschränken, jedenfalls zunächst einmal.«
»Wie bitte?«, fragte Vissbruck.
»Wer ist dieser Kerl?«, wollte der Lord Statthalter wissen, der seinen Hals vorstreckte und mit seinen schwachen Augen zwinkerte. »Was geht hier vor sich?«
Sein Sohn war wesentlich unverblümter. »Was, zur Hölle, glauben Sie, tun Sie da?«, donnerte er. »Sind Sie verrückt geworden?« Haddisch Kahdia begann leise in sich hineinzulachen. Ob über Glokta oder über die Wut der anderen, das war nicht zu sagen.
»Meine Herren, ich bitte Sie.« Magisterin Eider sprach sanft und geduldig. »Der Herr Superior ist gerade erst eingetroffen und möglicherweise nicht darüber informiert, wie wir hier in Dagoska die Geschäfte führen. Sie müssen verstehen, dass Ihr Vorgänger diesen Besprechungen nicht beizuwohnen pflegte. Wir haben die Stadt seit einigen Jahren erfolgreich regiert, und …«
»Der Geschlossene Rat ist anderer Ansicht.« Glokta hielt den königlichen Erlass zwischen zwei Fingern hoch. Einen Augenblick wartete er, bis alle Anwesenden das schwere rotgoldene Siegel gesehen hatten, dann schnippte er das Schriftstück über den Tisch.
Die anderen sahen misstrauisch zu, als Carlot dan Eider das Papier ergriff, es auseinanderfaltete und zu lesen begann. Sie runzelte die Stirn, dann hob sie eine perfekt gezupfte Augenbraue. »So wie es aussieht, sind wir es, die nicht informiert sind.«
»Zeigen Sie her!« Korsten dan Vurms riss ihr das Schreiben aus den Händen und las. »Das kann nicht sein«, murmelte er, »das kann nicht sein!«
»Ich fürchte doch.« Glokta zeigte der Versammlung sein zahnloses Grinsen. »Erzlektor Sult ist überaus besorgt. Er hat mich beauftragt, das Verschwinden von Superior Davoust aufzuklären und auch die Verteidigungsanlagen genau zu untersuchen. Sehr genau. Auch soll ich unbedingt dafür sorgen, dass die Gurkhisen auf der anderen Seite dieser Mauern bleiben. Er hat mich angewiesen, jegliche Maßnahmen zu ergreifen, die mir nötig erscheinen.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Jegliche … Maßnahmen.«
»Was ist das?«, brummte der Lord Statthalter. »Ich verlange zu wissen, was hier vor sich geht!« jetzt hielt Vissbruck das Schreiben in Händen. »Der Erlass des Königs«, hauchte er und wischte sich seine schweißnasse Stirn mit dem Ärmel ab, »von allen zwölf Sitzen des Geschlossenen Rats unterzeichnet. Dieses Dokument verleiht seinem Träger uneingeschränkte Verfügungsgewalt!« Er legte es sanft auf die intarsienverzierte Tischplatte, als ob er Angst hätte, es werde plötzlich in Brand geraten. »Das ist …«
»Wir alle wissen, was das ist.« Magisterin Eider sah Glokta nachdenklich an und strich sich mit einer Fingerspitze über ihre weiche Wange. Wie ein Kaufmann, der plötzlich erkennt, dass der so unwissend scheinende Kunde sie über den Löffel halbiert hat, und nicht umgekehrt. »Offenbar wird Superior Glokta nun den Befehl übernehmen.«
»Das würde ich nicht so formulieren, aber ich werde an allen weiteren Treffen dieser Ratsversammlung teilnehmen. Sie sollten dies als die erste von sehr vielen Veränderungen begreifen.« Glokta stieß einen zufriedenen Seufzer aus, als er sich in seinen schönen Stuhl sinken ließ, das pochende Bein ausstreckte und den schmerzenden Rücken ausruhte. Beinahe gemütlich. Er sah auf die finsteren Gesichter der Mitglieder des Regierungsrats der Stadt. Wenn man davon absieht, dass einer dieser liebenswerten Menschen höchstwahrscheinlich ein gefährlicher Verräter ist. Ein Verräter, der bereits das Verschwinden eines Superiors arrangiert hat und der sicher keine Skrupel haben wird, einen zweiten denselben Weg gehen zu lassen …
Glokta räusperte sich. »Nun, General Vissbruck, was sagten Sie gerade, als ich eintrat? Irgendetwas über die Mauern?«