VOLLSTRECKUNG OHNE GNADE

An Erzlektor Sult, Leiter der Inquisition Seiner Majestät
 
Euer Eminenz,
 
die Belagerung von Dagoska dauert weiter an. Drei Tage hintereinander haben die Gurkhisen einen Angriff nach dem anderen gegen unsere Mauern geführt, jeder wuchtiger und entschlossener als der vorige. Sie trachten danach, unseren Kanal mit Felsblöcken zu füllen oder mit Brücken zu überwinden, um unsere Mauern mit Leitern zu erstürmen und Rammböcke gegen unsere Tore einzusetzen. Dreimal haben sie uns angegriffen, und dreimal haben wir sie zurückgeschlagen. Sie haben hohe Verluste hinnehmen müssen, aber diese Verluste können sie sich leisten. Die Soldaten des Imperators wimmeln wie Ameisen über die Halbinsel. Dennoch, unsere Männer sind kühn, unsere Verteidigungsanlagen stark, unsere Entschlossenheit unerschütterlich, und immer noch pflügen Schiffe der Union durch die Bucht und versorgen uns mit allem Nötigen. Seien Sie versichert, Dagoska wird nicht fallen.
Hinsichtlich einer weniger wichtigen Angelegenheit werden Sie sicherlich erfreut sein zu erfahren, dass sich die Sache mit Magisterin Eider nun erledigt hat. Ich hatte ihr Urteil ausgesetzt, um zu erwägen, ob man ihre Beziehungen zu den Gurkhisen noch auf sinnvolle Art und Weise einsetzen könnte. Zu ihrem Pech gab es doch keine Möglichkeiten mehr, derart subtile Maßnahmen auszuprobieren, und damit war sie für uns nicht mehr von Nutzen. Der Anblick eines Frauenkopfes auf der Brustwehr hätte sich vielleicht ungünstig auf die Moral unserer Truppen ausgewirkt; wir sind schließlich die zivilisierte Partei in dieser kriegerischen Auseinandersetzung. Daher wurde die ehemalige Magisterin der Gewürzhändlergilde in aller Stille beseitigt, aber, wie ich Ihnen versichern kann, höchst gründlich. Niemand von uns muss einen weiteren Gedanken an sie oder an ihre gescheiterte Verschwörung verschwenden.
Wie immer, Euer Eminenz, verbleibe ich Ihr gehorsamer Diener,
 
Sand dan Glokta,
Superior von Dagoska

 

Es war sehr still unten am Wasser. Ruhig und dunkel und still. Die sanften Wellen schwappten an die Kaimauern, die hölzernen Spanten der Boote knarrten sanft, eine kühle Brise kam von der Bucht herein, und das dunkle Meer glitzerte im Mondlicht unter einem sternbestäubten Himmel.

Man mag kaum glauben, dass nur vor wenigen Stunden und keine halbe Meile entfernt Hunderte von Männern starben. Dass die Luft erfüllt war von Schreien aus Wut oder Schmerz. Dass auch jetzt noch die Trümmer der zwei großen Belagerungstürme vor den Landmauern vor sich hinrauchen und um sie herum Leichen verstreut liegen wie Blätter im Herbst …

»Fffffff.« Glokta fühlte das Knacken in seinem Hals, als er herumfuhr und in die Dunkelheit spähte. Praktikal Frost trat aus den Schatten zwischen zwei dunklen Gebäuden, sah sich misstrauisch um und trieb einen Gefangenen vor sich her, eine sehr viel kleinere Person, die gebeugt ging und unter einem Mantel mit großer Kapuze verborgen war, die Arme hinter dem Rücken gefesselt. Die zwei Gestalten überquerten den staubigen Kai und kamen zum Anleger; ihre Schritte klopften hohl auf die Holzplanken.

»In Ordnung, Frost«, sagte Glokta, als der Albino den Gefangenen in eine aufrechtere Haltung zwang. »Ich glaube, das brauchen wir nun nicht mehr.« Die weiße Faust zog die Kapuze zurück.

Im fahlen Mondlicht wirkte Carlot dan Eiders Gesicht ausgemergelt und abgespannt, voller scharfer Linien und schwarzer Schürfwunden auf der eingefallenen Wange. Man hatte ihr den Kopf rasiert, wie es mit Verrätern, die sich schuldig bekannt hatten, immer geschah, und ohne das üppige Haar wirkte ihr Schädel seltsam klein, beinahe kindlich, ihr Hals unnatürlich lang und zerbrechlich. Vor allem, da ihn ein Ring zorniger Schwellungen zierte, die dunklen Hinterlassenschaften der Glieder von Vitaris Kette. Es war nicht mehr viel übrig von der eleganten, mächtigen Frau, die ihn im Audienzsaal des Lord Statthalters an die Hand genommen hatte, und das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Ein paar Wochen in der Dunkelheit, die man auf dem verdreckten Boden einer schwülheißen Zelle verbringt, ohne zu wissen, ob man die nächste Stunde überleben wird – das kann dem guten Aussehen einigen Schaden zufügen. Das sollte ich wohl wissen.

Sie hob das Kinn, als sie ihn sah, die Nasenflügel gebläht, und die Augen glänzten, umgeben von schwarzen Schatten. Diese besondere Mischung aus Angst und Trotz, die manche Menschen ergreift, wenn sie wissen, dass sie sterben müssen. »Herr Superior Glokta, ich hatte kaum zu hoffen gewagt, Sie wieder zu sehen.« Ihre Worte mochten munter klingen, aber sie verdeckten nicht die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang. »Und nun? Hängen Sie mir einen Stein an die Beine und versenken mich in der Bucht? Ist das nicht ein wenig zu dramatisch?«

»Das wäre es, aber das hatte ich auch nicht vor.« Er sah mit der kleinsten Andeutung eines Nickens zu Frost hinüber. Eider wich zurück, kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Lippe, dann zog sie die Schultern hoch, als sie spürte, dass der riesenhafte Praktikal hinter sie trat. Wartet sie auf den Schlag, der ihr den Schädel zerschmettert? Auf die scharfe Klinge zwischen den Schulterblättern, die sie erdolcht? Auf den Draht um die Kehle, der sie erwürgt? Dieses schreckliche Warten. Was wird es sein? Frost hob die Hand. Etwas Metallenes blitzte in der Dunkelheit auf. Dann ertönte ein sanftes Klicken, als der Schlüssel in das Schloss von Eiders Handschellen glitt und sie löste.

Langsam öffnete sie wieder die Augen, zog die Hände vor sich und starrte sie an, als ob sie sie noch nie zuvor gesehen hätte. »Was bedeutet das?«

»Genau das, wonach es aussieht.« Er nickte zum Anlegeplatz hinüber. »Dieses Schiff läuft mit der nächsten Flut nach Westport aus. Sie haben doch Kontakte in Westport?«

Die Sehnen an ihrem dünnen Hals zuckten hin und her, als sie schluckte. »Ich habe überall Kontakte.«

»Gut. Dann gebe ich Ihnen hiermit die Freiheit.«

Es folgte ein langes Schweigen. »Freiheit?« Sie hob eine Hand zum Kopf und rieb sich geistesabwesend die Haarstoppeln, während sie Glokta lange ansah. Sie ist sich nicht sicher, ob sie das glauben kann, und das kann man ihr auch nicht verübeln. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es selbst glaube. »Seine Eminenz muss über alle Maßen mildherzig geworden sein.«

Glokta schnaubte. »Sehr unwahrscheinlich. Sult weiß nichts davon. Wenn er das täte, würden wir vermutlich beide schon mit Steinen um die Knöchel baden gehen.«

Ihre Augen verengten sich. Die Königin der Kaufleute überschlägt das Geschäft. »Was ist dann der Preis?«

»Der Preis ist, dass Sie tot sind. Sie sind vergessen. Tilgen Sie Dagoska aus Ihrem Gedächtnis, es ist zu Ende. Suchen Sie sich andere Leute, die Sie retten können. Der Preis ist, dass Sie die Union verlassen und nie wieder zurückkommen. Nie. Wieder.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles.«

»Wieso?«

Ah, meine Lieblingsfrage. Wieso tue ich das? Er zuckte die Achseln. »Was spielt das für eine Rolle? Eine Frau, die sich in der Wüste verirrt …«

»Sollte das Wasser annehmen, das sie angeboten bekommt, ganz gleich, wer es ihr gibt. Keine Sorge. Ich sage nicht nein.« Sie streckte plötzlich die Hand aus, und Glokta zuckte zurück, aber ihre Fingerspitzen berührten ihn sanft an der Wange. Einen Augenblick verharrten sie dort, während seine Haut prickelte und sein Auge zuckte und sein Hals schmerzte. »Vielleicht«, flüsterte sie, »wenn die Dinge anders gelegen hätten …«

»Und ich kein Krüppel wäre und Sie keine Verräterin? Die Dinge sind nun einmal, wie sie sind.«

Sie ließ die Hand sinken und lächelte ein wenig. »Natürlich, so sind sie. Ich würde sagen, auf Wiedersehen …«

»Mir wäre es lieber, Sie täten das nicht.«

Sie nickte langsam. »Dann sage ich, leben Sie wohl.« Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und verbarg ihr Gesicht wieder in den Schatten, rauschte dann an Glokta vorüber und ging schnellen Schrittes zum Ende des Anlegers. Er stand auf seinen Stock gestützt da und sah ihr nach, wobei er sich langsam über die Wange fuhr, dort, wo ihre Finger ihn berührt hatten. So ist das also. Damit man von einer Frau gestreichelt wird, muss man nur ihr Leben retten. Das sollte ich öfter probieren.

Er drehte sich um, humpelte mit ein paar schmerzenden Schritten auf den staubigen Kai und sah zu den dunklen Gebäuden empor. Ich frage mich, ob Praktikalin Vitari dort irgendwo steckt und uns beobachtet? Ob diese kleine Episode wohl Eingang in ihren nächsten Bericht an den Erzlektor finden wird? Ein schweißgebadetes Erschauern rann über seinen Rücken. In meinen werde ich sie nicht aufnehmen, das steht fest, aber was spielt das für eine Rolle? Er konnte es riechen, als sich der Wind drehte, den Geruch, der jetzt in jeden Winkel der Stadt zu dringen schien. Scharfer Brandgeruch. Rauch. Asche. Tod. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird keiner von uns diesen Ort lebend verlassen. Er blickte zurück. Carlot dan Eider ging bereits über die Planke an Bord. Tja. Vielleicht schafft es immerhin eine von uns.

 

»Es läuft alles bestens«, summte Costa mit seinem warmen styrischen Akzent und sah grinsend über die Brustwehr auf das Blutbad jenseits der Landmauer. »Eine recht hübsche Leistung für diesen Tag, unter den gegebenen Umständen.«

Eine recht hübsche Leistung. Unter ihnen auf der anderen Seite des Grabens war die nackte Erde zerfurcht und verbrannt und starrte vor Flachbogenbolzen, die wie Bartstoppeln aus einem braunen Kinn aus dem Boden sahen. Überall lag zerstörtes Belagerungsmaterial herum. Zerbrochene Leitern, umgekippte Schubkarren, aus denen Steine herausgefallen waren, verbranntes und zertrümmertes Weidengeflecht, das in den festen Boden getrampelt worden war. Die Überreste eines der großen Belagerungstürme standen noch, ein Gerüst aus geschwärzten Balken, die verdreht aus einem Aschehaufen ragten. Verbranntes und zerfetztes Leder flatterte im salzigen Wind.

»Wir haben diesen gurkhisischen Arschlöchern eine Lektion erteilt, die sie so schnell nicht vergessen werden, was, Herr Superior?«

»Was für eine Lektion?«, brummte Severard. Ja, was für eine Lektion? Die Toten lernen nichts. Die Leichen lagen verstreut vor den gurkhisischen Linien, etwa zweihundert Schritte vor der Landmauer, zwischen zerbrochenen Waffen und Rüstungsteilen. Das Niemandsland zwischen den Fronten war von ihnen übersät. Vor dem Kanal waren so viele von ihnen gefallen, dass man beinahe vom Ufer der einen Bucht über die Halbinsel bis zur anderen hätte gehen können, ohne ein einziges Mal auf nackten Boden zu treten. An einigen Stellen lagen sie in aneinandergedrängten Haufen. Dort, wo sich die Verwundeten in die Deckung geschleppt hatten, die ihnen die Toten boten, um dann selbst zu verbluten.

Noch nie hatte Glokta ein solches Gemetzel gesehen. Noch nicht einmal nach der Belagerung von Ulrioch, als die Bresche mit toten Unionisten verstopft war und Hunderte von gurkhisischen Gefangenen ermordet wurden; als der Tempel, in dem sich viele hundert Menschen aufhielten, angezündet wurde und abbrannte. Zusammengesunkene, ausgestreckte, schlaff daliegende Leichen, manche vom Feuer versengt, manche noch in einer Körperhaltung, die auf ein letztes Gebet hinzudeuten schien, manche mit eingeschlagenen Köpfen, da von oben so viele Steine auf sie herabgestürzt waren. Manche mit zerrissenen und zerfetzten Kleidern. Weil sie ihre eigenen Hemden aufrissen, um ihre Wunden anzusehen, in der Hoffnung, dass sie nicht tödlich seien. Eine Hoffnung, die sich als vergebens herausstellte.

Fliegen umsummten die Toten zu Tausenden. Vögel, Hunderte von verschiedenen Arten, hüpften und flatterten pickend zwischen den unerwarteten Festmählern herum. Selbst hier oben, in dem heftigen Wind, machte sich der Gestank bemerkbar. Stoff für Albträume. Für meine Albträume in den nächsten Monaten, könnte ich mir vorstellen. Wenn ich überhaupt so lange durchhalten kann.

Glokta fühlte, wie sein Auge zuckte; er holte tief Luft und reckte den Kopf zur einen, dann zur anderen Seite. Nun gut. Wir müssen weiterkämpfen. Jetzt ist es ein wenig zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Er lugte vorsichtig über die Brustwehr, um zum Graben hinunterzusehen, und hielt sich mit der freien Hand an den zernarbten Steinen fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Das sieht nicht gut aus. »Sie haben den Graben hier unter uns fast gefüllt, und dort drüben nahe den Toren auch.«

»Das stimmt«, sagte Cosca gut gelaunt. »Sie schleppen ihre Karren bis hierher und versuchen, die Steine reinzukippen. Noch schneller, als wir’s jetzt schon tun, können wir sie aber nicht abschießen.«

»Der Kanal ist unsere beste Verteidigung.«

»Auch das stimmt. Er war eine gute Idee. Aber nichts hält ewig.«

»Er ist das Einzige, was die Gurkhisen daran hindert, Leitern an die Landmauer zu bringen, Rammböcke heranzuschleppen oder sich sogar unter den Mauern hindurchzugraben. Es wäre vielleicht nötig, eine Art Ausfall zu organisieren, um ihn wieder auszuheben.«

Coscas dunkle Augen sahen ihn von der Seite an. »Sich also mit Seilen von der Mauer herunterzulassen und dann in der Dunkelheit zu malochen, keine zweihundert Schritte von den gurkhisischen Linien entfernt? Ist es das, was Ihnen vorschwebt?«

»So ungefähr.«

»Dann wünsche ich Ihnen dabei viel Glück.«

Glokta schnaubte. »Ich würde natürlich gern selbst gehen.« Mit seinem Stock tippte er gegen sein Bein. »Aber ich fürchte, für mich sind die Zeiten der Heldentaten lange vorbei.«

»Da haben Sie aber Glück.«

»Oder auch nicht. Wir sollten eine Barrikade hinter den Toren errichten. Dort liegt unser größter Schwachpunkt. Ein Halbkreis, würde ich vorschlagen, von ein paar hundert Schritten Durchmesser. So würde ein Kessel entstehen, in dem man den Gegner niedermachen kann. Falls es den Gurkhisen gelingen sollte, die Tore zu zerstören, dann könnten wir sie auf diese Weise vielleicht aufhalten, lange genug, um sie zurückzutreiben.«

Vielleicht …

»Ah, sie zurücktreiben.« Cosca kratzte sich an dem Ausschlag an seinem Hals. »Ich bin mir sicher, dass die Freiwilligen sich darum reißen werden, diesen Posten zu übernehmen, wenn der Moment gekommen ist. Aber dennoch, ich kümmere mich darum.«

»Man muss sich ja doch wundern.« General Vissbruck erschien an der Brustwehr, die Hände fest hinter seiner makellosen Uniform verschränkt. Es überrascht mich, dass er die Zeit findet, sich immer wieder so zurechtzumachen, in der jetzigen Lage. Aber wahrscheinlich klammern wir uns alle an etwas, das uns Halt gibt. Er schüttelte den Kopf, während er auf die Toten hinuntersah. »Das ist wirklich mutig, uns auf diese Weise anzugreifen, immer wieder und wieder, obwohl unsere Verteidigungsanlagen so stark und gut bemannt sind. Ich habe selten Männer gesehen, die derart bereit waren, ihr Leben zu opfern.«

»Sie verfügen über eine spezielle und gefährliche Eigenschaft«, sagte Cosca. »Sie glauben, sie seien im Recht.«

Vissbruck sah ihn streng unter gerunzelten Brauen an. »Wir sind es, die hier im Recht sind.«

»Wie Sie meinen.« Der Söldner warf Glokta grinsend einen Seitenblick zu. »Aber ich glaube, wir anderen haben die Vorstellung allmählich aufgegeben, dass es so etwas überhaupt gibt. Die munteren Gurkhisen kommen mit ihren Schubkarren heran … und es ist meine Aufgabe, sie mit Pfeilen zu spicken!« Er stieß ein kurzes Lachen aus.

»Ich finde das nicht besonders amüsant«, gab Vissbruck kurz angebunden zurück. »Ein gefallener Feind sollte mit Respekt behandelt werden.«

»Wieso?«

»Weil es jeder von uns sein könnte, der dort unten in der Sonne verfault, und möglicherweise ist es auch genau das, was uns bevorsteht.«

Cosca lachte nur noch lauter und tätschelte Vissbruck am Arm. »Jetzt begreifen Sie es! Eins haben mich zwanzig Jahre Kriegsführung gelehrt – man muss immer versuchen, den Witz an der Sache zu sehen!«

Glokta beobachtete den Styrer, wie er glucksend auf das Schlachtfeld hinabsah. Überlegt er, wann die beste Zeit für einen Seitenwechsel wäre? Versucht er zu berechnen, wie entschlossen man den Gurkhisen Widerstand bieten sollte, bevor sie besser zahlen werden als ich? In seinem schrundigen Kopf stecken nicht nur lustige Sprüche, das steht fest, aber im Augenblick können wir nicht auf ihn verzichten. Er warf einen Blick auf General Vissbruck, der ein Stück weitergegangen war, um allein seinen beleidigten Stolz zu pflegen. Unser untersetzter Freund hat weder das Hirn noch den Mut, um die Stadt länger als eine Woche zu halten.

Er fühlte eine Hand auf der Schulter und wandte sich wieder Cosca zu. »Was denn?«, raunzte er.

»Da«, murmelte der Söldner und zeigte hinauf in den blauen Himmel. Glokta folgte seinem Finger. Dort war ein schwarzer Punkt, nicht allzu weit über ihnen, der weiter aufstieg. Was ist das? Ein Vogel? Nun hatte das Ding den Höhepunkt seiner Flugbahn erreicht und rauschte abwärts. Ruckartig dämmerte die Erkenntnis. Ein Stein. Ein Stein aus einem Katapult.

Er wurde immer größer, als er näher kam, drehte sich um die eigene Achse und schien sich mit geradezu alberner Langsamkeit zu bewegen, als sinke er in Wasser ein. Die absolute Geräuschlosigkeit dieses Angriffs machte die Szenerie noch unwirklicher. Glokta sah dem Geschoss mit offenem Mund zu. Das taten sie alle. Schreckliche Anspannung machte sich auf den Mauern breit. Es war unmöglich vorherzusagen, wo der Stein aufprallen würde. Die Männer begannen auf dem Wehrgang hin und her zu laufen, mal in diese, mal in jene Richtung, schubsten, keuchten, schrien, manche warfen ihre Waffen weg.

»Scheiße«, flüsterte Severard, der sich bäuchlings auf den Boden warf.

Glokta blieb, wo er war, die Augen fest auf den dunklen Fleck am wolkenlosen Himmel gerichtet. Kommt es direkt auf mich zu? Ein paar Tonnen Stein, die meine sterblichen Überreste über die ganze Stadt spritzen werden? Was für eine alberne Art zu sterben. Er fühlte, wie sich sein Mund zu einem leichten Lächeln verzog.

Mit einem ohrenbetäubenden Krachen wurde ein Stück der Brustwehr in der Nähe weggerissen, und eine Wolke aus Staub und fliegenden Steinbrocken erhob sich in die Luft. Splitter flogen um sie herum. Ein Soldat, der keine zehn Schritt entfernt stand, wurde von einem Mauerstein enthauptet. Sein kopfloser Körper schwankte einen Augenblick, bevor die Knie einknickten und er rücklings von der Mauer stürzte.

Das Wurfgeschoss schlug irgendwo in der Unterstadt ein, walzte dort durch die Hütten, knickte Balken um wie Streichhölzer und hinterließ eine Spur der Zerstörung. Glokta blinzelte und schluckte. Seine Ohren dröhnten noch, aber er konnte jemanden brüllen hören. Eine seltsame Stimme. Mit styrischem Akzent. Cosca.

»Ist das alles, wozu ihr in der Lage seid, ihr Wichser? Ich stehe immer noch hier!«

»Die Gurkhisen bombardieren uns!«, quiekte Vissbruck überflüssigerweise. Er hatte sich hinter der Brustwehr zusammengekauert und hielt die Hände schützend über den Kopf; auf den Schultern seiner Uniform lag eine feine Staubschicht. »Mit soliden Schüssen ihrer Katapulte!«

»Was Sie nicht sagen«, brummte Glokta. Es gab einen neuerlichen mächtigen Knall, als ein zweiter Stein etwas weiter abseits in die Mauern einschlug und in einem Schauer von Bruchstücken zerbarst. Steinbrocken von der Größe eines Schädels regneten in das Wasser unter ihnen. Der Einschlag war so stark, dass der Boden unter Gloktas Füßen zu zittern schien.

»Sie greifen wieder an!«, schrie Cosca aus vollem Hals. »Bemannt die Mauer! Bemannt die Mauer!«

Männer eilten an ihnen vorüber: Einheimische, Söldner, Unionssoldaten, alle Seite an Seite. Sie hoben ihre Flachbogen, holten ihre Bolzen hervor, brüllten und riefen einander etwas in einem Durcheinander verschiedenster Sprachen zu. Cosca ging zwischen ihnen herum, klopfte einigen auf die Schulter, zeigte anderen die Faust, grantelte und lachte ohne das geringste Anzeichen von Angst. Ein äußerst mitreißender Anführer, vor allem, wenn man bedenkt, dass er ein halb verrückter Säufer ist.

»Scheiße, nicht mit mir«, zischte Severard in Gloktas Ohr. »Ich bin kein verdammter Soldat!«

»Ich auch nicht, jedenfalls nicht mehr, aber einen schön inszenierten Angriff kann ich durchaus genießen.« Er humpelte zur Brustwehr und blickte darüber hinweg. Dieses Mal sah er, wie in flimmernder Entfernung der große Arm des Katapults hochfederte. Die Entfernung war nicht gut berechnet, und das Geschoss flog hoch über ihre Köpfe hinweg. Es schlug mit lautem Krachen nicht weit entfernt von den Mauern zur Oberstadt ein und schleuderte Steinbrocken bis weit in die Elendsviertel hinein.

Ein großes Horn erklang hinter den Linien der Gurkhisen: eine pulsierende, donnernde Fanfare. Dann folgten Trommeln, wie das Stampfen riesiger Füße. »Hier kommen sie!«, brüllte Cosca. »Bogen angelegt!« Glokta hörte, wie der Befehl von den Mauern widerhallte, und wenig später strotzten die Befestigungsmauern der Türme vor schussbereiten Flachbogen. Die hellen Spitzen der Bolzen glitzerten im harten Sonnenlicht.

Die großen Schutzschilde aus Weidengeflecht, hinter denen sich die vorausmarschierenden gurkhisischen Soldaten verbargen, bewegten sich stetig vorwärts und wagten sich langsam in das verdammte Niemandsland vor. Und hinter ihnen verborgen wimmeln zweifelsohne gurkhisische Soldaten wie die Ameisen. Gloktas Hand schloss sich schmerzhaft fest um die Steine der Brustwehr, als er zusah, wie sie vorrückten, und sein Herz klopfte beinahe so laut wie die gurkhisischen Trommeln. Angst oder Aufregung? Gibt es da einen Unterschied? Wann habe ich das letzte Mal derart bittersüße Erregung gefühlt? Als ich vor dem Offenen Rat sprechen musste? Als ich einen Ausfall der Königlichen Kavallerie anführte? Als ich im Turnier vor der tobenden Menge kämpfte?

Die Flechtwände kamen stetig näher, ganz ruhig in einer geraden Reihe, die sich quer über die Landenge zog. Noch hundert Schritte, noch neunzig, noch achtzig. Er sah zu Cosca hinüber, der noch immer wie ein Irrsinniger grinste. Wann wird er den Befehl geben? Sechzig, fünfzig

»Jetzt!«, brüllte der Styrer. »Und Schuss!« Ein lautes Rasseln hallte von den Mauern wider, als die Flachbogen in einer mächtigen Salve gleichzeitig abgeschossen wurden und sich in die Weidenschilde bohrten, in den Boden dazwischen, in die Leichen und auch alle Gurkhisen, die das Pech hatten, ein Stück ihres Körpers ungeschützt hervorsehen zu lassen. Männer knieten hinter der Brustwehr und luden nach, legten Bolzen ein, zogen Hebel zurück, schwitzten und mühten sich. Die Trommeln schlugen schneller, drängender, die Flechtwände rückten achtlos über die umherliegenden Toten weiter vor. Das ist sicher nicht lustig für die Männer weiter hinten, die von all den Leichen umgeben sind und sich sicherlich fragen, wie lange es dauern wird, bis sie ihnen Gesellschaft leisten.

»Öl!«, brüllte Cosca.

Eine Flasche mit einem brennenden Docht flog trudelnd von einem Turm zur Linken. Sie zerbarst an einem der Weidenschilde, und Feuerzungen leckten schnell über die Fläche, färbten sie erst braun, dann schwarz. Das Flechtwerk begann zu wanken, einzuknicken und schließlich umzufallen. Ein Soldat rannte mit lautem Geheul dahinter hervor; sein Arm stand in hellen Flammen.

Das brennende Weidengeflecht stürzte zu Boden und enthüllte eine Kolonne gurkhisischer Soldaten, von denen einige Schubkarren mit Gesteinsbrocken schoben, während andere lange Leitern trugen und wieder andere mit Bogen, Rüstungen, Waffen ausgerüstet waren. Sie stießen ihr Kriegsgeheul aus und stürmten mit erhobenen Schilden vor, schossen Pfeile zur Brustwehr hoch und liefen im Zickzack zwischen den Leichen dahin. Männer stürzten, von Bolzen gespickt, zu Boden. Männer schrien und hielten sich ihre Wunden. Männer schleppten sich voran, gurgelten, fluchten. Sie winselten, sie brüllten trotzigen Widerstand hinaus. Sie machten kehrt und wurden in den Rücken geschossen.

Oben auf der Mauer sangen und klapperten die Bogen. Noch mehr Flaschen mit Öl wurden entzündet und geworfen. Manche Männer brüllten und fauchten und fluchten, andere kauerten sich hinter der Brustwehr zusammen, wenn Pfeile von unten aufstiegen, von den Steinen abprallen, über sie hinwegglitten oder sich gelegentlich auch in Fleisch bohrten. Cosca hatte sich, die Gefahren missachtend, mit dem Fuß auf die Zinnen gestützt, lehnte sich gefährlich weit vor und schwang ein schartiges Schwert, während er Worte brüllte, die nicht zu Glokta herüberschallten. Alle schrien und brüllten, Angreifer wie Verteidiger gleichermaßen. Schlacht. Chaos. Jetzt erinnere ich mich. Wie habe ich jemals meinen Spaß daran haben können?

Jetzt brannte das nächste Weidengeflecht und ließ schwarzen Rauch aufsteigen, der Übelkeit verursachte. Gurkhisische Soldaten schwärmten dahinter hervor wie Bienen aus einem zerstörten Stock und machten sich auf der anderen Seite des Grabens zu schaffen, wo sie eine geeignete Stelle suchten, um ihre Leiter aufzustellen. Die Verteidiger in ihrer Nähe begannen sie mit Mauersteinen zu bewerfen. Wieder schleuderte eines der Katapulte einen Felsbrocken in die Luft, aber der Schuss war viel zu kurz berechnet worden, riss eine lange Lücke in eine gurkhisische Kolonne und ließ Körper oder auch nur einzelne Körperteile durch die Luft wirbeln.

Ein Soldat wurde mit einem Pfeil im Auge vorbeigetragen. »Ist es schlimm«, heulte er, »ist es schlimm?« Einen Atemzug später gab ein Mann direkt neben Glokta einen erstickten Schrei von sich, als ihn ein Pfeil in die Brust traf. Die Wucht des Aufschlags riss ihn halb herum, sein Flachbogen ging los, und der Bolzen schoss in den Hals seines Nachbarn, tief bis zu den Federn. Beide fielen zusammen vor Gloktas Füße, ihr Blut sickerte auf den Wehrgang.

Unten am Fuß der Mauer platzte eine Flasche mit Öl mitten in eine Gruppe gurkhisischer Soldaten, die gerade dabei waren, ihre Leiter aufzurichten. Ein schwacher Dunst von gekochtem Fleisch gesellte sich zu dem Gestank von Fäulnis und brennendem Holz. Männer verbrannten, brüllten und schlugen um sich, rannten wie verrückt herum oder warfen sich in voller Rüstung in den gefluteten Graben. Tod durch Verbrennen oder durch Ertrinken. Großartige Auswahl.

»Haben Sie endlich genug gesehen?«, zischte ihm Severards Stimme ins Ohr.

»Ja.« Mehr als genug. Glokta blickte noch einmal zu Cosca hinüber, der sich auf Styrisch heiser schrie, und schob sich atemlos durch das Gedränge von Söldnern auf die Treppe zu. Dort folgte er einer Bahre nach unten, wobei er bei jedem schmerzerfüllten Schritt zusammenzuckte und versuchte, nicht den Anschluss zu verlieren, während sich ein stetiger Strom von Menschen aus der anderen Richtung an ihm vorbeischob. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal freuen würde, wieder eine Treppe hinunterzugehen. Seine Freude währte jedoch nicht lange. Als er unten angekommen war, zuckte sein Bein wieder mit der altbekannten Mischung aus Schmerz und Taubheit.

»Verdammt!«, zischte er vor sich hin und machte einen hoppelnden Schritt auf die Mauer zu. »Es gibt Verwundete, die sich schneller bewegen können als ich!« Er sah den Verletzten zu, die bandagiert und blutverschmiert an ihm vorübertaumelten.

»Das ist nicht in Ordnung«, fauchte Severard. »Wir haben unsere Aufgabe erledigt. Wir haben die Verräter gefunden. Was, zur Hölle, tun wir noch hier?«

»Es ist wohl unter Ihrer Würde, für Ihren König zu kämpfen?«

»Für ihn zu sterben, schon.«

Glokta schnaubte. »Meinen Sie, dass sich irgendjemand in dieser verdammten Stadt gerade amüsiert?« Ihm war, als ob Coscas wild gebrüllte Beleidigungen über das Schlachtgetümmel hinweg an sein Ohr drangen. »Abgesehen von diesem verrückten Styrer natürlich. Behalten Sie ihn im Auge, ja, Severard? Er hat Eider betrogen und wird auch uns verraten, vor allem, wenn es anfängt, finster auszusehen.«

Der Praktikal blickte ihn an, und zur Abwechslung stand einmal kein Lächeln in seinen Augen geschrieben. »Und, sieht es finster aus?«

»Sie waren doch auch dort oben.« Glokta zog eine Grimasse, während er sein Bein ausstreckte. »Wir hatten schon rosigere Zeiten.«

 

Die lange, düstere Halle war einmal ein Tempel gewesen. Als die gurkhisischen Angriffe begonnen hatten, waren die Leichtverwundeten hierhergebracht worden, die dann von Priestern und Frauen versorgt wurden. Es war ein idealer Ort, den man leicht erreichen konnte, weit unten in der Unterstadt, nahe der Landmauer. In diesem Teil der Elendsquartiere hielten sich nun kaum noch Zivilisten auf. Wenn die Gefahr von wilden Bränden und einschlagenden Felsbrocken steigt, wirkt sich das meist nachteilig auf die Beliebtheit eines Viertels aus. Als die Kämpfe andauerten, waren die Leichtverwundeten wieder an ihre Plätze auf den Mauern gerückt. Die ernsteren Fälle waren noch da. Die mit abgetrennten Gliedern, tiefen Wunden, schrecklichen Verbrennungen, mit Pfeilen im Körper lagen auf ihren blutigen Bahren überall zwischen den Säulen der düsteren Arkaden. Ihre Zahl war täglich gewachsen, und inzwischen bedeckten sie jeden Fleck des Fußbodens. Die Verwundeten, die noch laufen konnten, wurden draußen behandelt. Dieser Ort war den Gefällten vorbehalten, den Versehrten. Den Sterbenden.

Jeder Mann hatte seine eigene Sprache des Schmerzes. Einige schrien und heulten ohne Unterlass. Andere riefen um Hilfe, um Gnade, nach Wasser, nach ihren Müttern. Wieder andere husteten und gurgelten und spuckten Blut. Manche taten keuchend oder rasselnd ihre letzten Atemzüge. Nur die Toten sind völlig still. Aber auch von denen gab es eine ganze Menge. Von Zeit zu Zeit sah man, wie sie weggeschleppt wurden, mit schlaff nachschleifenden Gliedern, bevor sie dann in billige Leichentücher gewickelt und hinter dem Gebäude aufgetürmt wurden.

Den ganzen Tag über, das wusste Glokta, waren grimmige Männer damit beschäftigt, Gräber für die Einheimischen auszuheben. Ganz im Einklang mit ihren festen Glaubensgrundsätzen. Große Gruben zwischen den Ruinen, die ein Dutzend Tote auf einmal fassen konnten. Die ganze Nacht über waren dieselben Männer damit beschäftigt, die toten Unionisten zu verbrennen. Ganz im Einklang damit, dass wir an gar nichts glauben. Oben auf den Klippen, wo der schwere Qualm in die ganze Bucht hinausgetragen wird. Wir können nur hoffen, dass der Wind ihn direkt den Gurkhisen auf der anderen Seite ins Gesicht weht. Eine letzte Beleidigung, die wir ihnen entgegenschleudern können.

Glokta schlurfte langsam durch die Halle, die erfüllt war mit den Klängen des Schmerzes, und er wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete die Verwundeten. Dunkelhäutige Dagoskaner, styrische Söldner, blasshäutige Unionsmänner, alle miteinander und nebeneinander. Menschen aller Nationen, aller Hautfarben und aller Art, alle vereint gegen die Gurkhisen, und jetzt sterben sie miteinander und nebeneinander und sind dabei tatsächlich alle gleich. Da sollte mir doch wirklich das Herz aufgehen. Wenn ich denn noch eins hätte. Er war sich vage bewusst, dass Praktikal Frost in der Dunkelheit nahe der Mauer lauerte und den Raum aufmerksam im Blick behielt. Mein wachsamer Schatten, der dafür sorgt, dass niemand meine Bemühungen im Auftrag des Erzlektors damit belohnt, dass zur Abwechslung einmal ich eine tödliche Kopfwunde erhalte.

An der Rückseite des Tempels war ein kleiner Bereich für Operationen abgeteilt worden. Oder für das, was unter den gegenwärtigen Umständen als Operation bezeichnet werden kann. Ein Bein auf Höhe des Knies, einen Arm kurz unterhalb der Schulter mit Säge oder Messer abhacken und abtrennen. Die lautesten Schreie drangen hinter diesen dreckigen Vorhängen hervor. Verzweifeltes, geiferndes Aufheulen. Kaum weniger brutal als das, was auf der anderen Seite der Landmauer geschieht. Durch eine Lücke entdeckte Glokta Kahdia bei der Arbeit; sein weißes Gewand war von Blutspritzern und Flecken schmutzig braun gefärbt. Er sah mit zusammengekniffenen Augen auf glänzendes Fleisch, während er mit einer Klinge daran herumsäbelte. Vielleicht der Stumpf eines Beines? Die Schreie verebbten mit einem Gurgeln.

»Er ist tot«, sagte der Haddisch schlicht, warf sein Messer auf den Tisch und wischte sich die blutigen Hände an einem Lumpen ab. Dann bemerkte er Glokta. »Ah! Der Verursacher unseres Leids! Sind Sie gekommen, um Ihre Schuldgefühle zu füttern, Herr Superior?«

»Nein. Ich bin gekommen, um zu sehen, ob ich überhaupt welche habe.«

»Und, wie sieht es aus?«

Eine gute Frage. Habe ich Schuld? Er sah zu einem jungen Mann hinunter, der eng zwischen zwei anderen auf schmutzigem Stroh an der Wand lag. Sein Gesicht war wachsbleich, die Augen glasig, und seine Lippen bewegten sich schnell, während er sinnlosen Unfug vor sich hin murmelte. Sein Bein war kurz über dem Knie abgetrennt, der Stumpf mit einem blutigen Verband umwickelt und der Oberschenkel mit einem Gürtel abgebunden. Seine Aussicht auf Überleben? Gering bis nicht vorhanden. Noch ein paar letzte Stunden voller Schmerzen, umgeben von seinen Leidensgenossen und ihrem Stöhnen. Ein junges Leben, lange vor der Zeit ausgelöscht, bla bla bla. Glokta hob die Augenbrauen. Er fühlte lediglich eine leichte Abneigung, nicht stärker, als wenn der Sterbende ein Haufen Unrat gewesen wäre. »Nein«, sagte er.

Kahdia sah auf seine blutverschmierten Hände. »Dann hat Gott Sie wahrlich gesegnet«, murmelte er. »Nicht jeder hält so viel aus wie Sie.«

»Ich weiß nicht. Ihre Leute haben gut gekämpft.«

»Sie sind gut gestorben, meinen Sie.«

Gloktas Lachen fuhr hart durch die schwere Luft. »Kommen Sie. So etwas wie gut sterben gibt es nicht.« Sein Blick glitt über die endlose Zahl von Verletzten. »Ich hätte gedacht, dass gerade Sie das inzwischen begriffen hätten.«

Kahdia lachte nicht. »Was glauben Sie, wie viel wir hiervon ertragen können?«

»Verlieren Sie langsam den Mut, Haddisch? Wie bei so vielen Dingen im Leben sind heroische Taten in der Theorie wesentlich attraktiver als in der Realität.« Das hätte uns auch der schneidige Oberst Glokta sagen können, den man einst von der Brücke schleifte, als sein Bein kaum noch an seinem Körper hing und sich seine Vorstellungen davon, wie sich die Welt um ihn herum dreht, radikal geändert hatten.

»Ihr Mitgefühl rührt mich, Herr Superior, aber ich bin an Enttäuschungen gewöhnt. Glauben Sie mir, ich werde auch diese hier überstehen. Die Frage bleibt jedoch: Wie lange können wir noch durchhalten?«

»Wenn die Seewege offen bleiben und wir per Schiff versorgt werden, wenn die Gurkhisen keinen Weg finden, um die Landmauer zu überwinden, wenn wir zusammenhalten und einen kühlen Kopf bewahren, dann können wir es noch wochenlang schaffen.«

»Und mit welchem Ziel?«

Glokta hielt inne. Ja, mit welchem Ziel? »Vielleicht verlieren die Gurkhisen den Mut.«

»Ha!«, schnaubte Kahdia. »Die Gurkhisen kennen keinen Zweifel an der eigenen Kraft! Schließlich ist ihnen die Eroberung von ganz Kanta nur gelungen, weil sie keine halben Sachen machen! Nein. Der Imperator hat gesprochen, und er verlangt, dass man ihm gehorcht.«

»Dann müssen wir hoffen, dass der Krieg im Norden schnell zu Ende geht und uns die Truppen der Union zu Hilfe kommen.« Eine völlig unbegründete Hoffnung. Es wird Monate dauern, bevor die Auseinandersetzungen in Angland beigelegt werden können. Und selbst wenn sie es einmal sein sollten, ist unser Heer dann nicht in der Verfassung, um sofort weiterzukämpfen. Wir sind auf uns selbst gestellt.

»Und wann können wir eine solche Hilfe erwarten?«

Wenn die Sterne nicht mehr leuchten? Wenn der Himmel einbricht? Wenn ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht eine Meile weit laufen kann? »Wenn ich alle Antworten wüsste, wäre ich kaum zur Inquisition gegangen!«, fauchte Glokta. »Vielleicht sollten Sie um göttliche Hilfe beten. Eine hübsche Welle, die alle Gurkhisen hinwegspült, wäre jetzt sehr nützlich. Wer hat mir noch gesagt, dass Wunder tatsächlich geschehen?«

Kahdia nickte langsam. »Vielleicht sollten wir beide beten. Ich fürchte, die Hoffnung auf meinen Gott könnte uns weiterbringen als das Vertrauen in Ihre Herren.« Wieder wurde eine Bahre an ihnen vorbeigetragen, auf der diesmal ein schreiender Styrer mit einem Pfeil im Bauch lag. »Ich muss gehen.« Kahdia rauschte davon, und der Vorhang schloss sich hinter ihm.

Glokta sah ihm finster nach. Und so beginnen die Zweifel. Die Gurkhisen verstärken langsam ihren Zugriff auf die Stadt. Unser Schicksal kommt näher, und jeder Mann hier weiß das. Eine seltsame Sache, der Tod. Wenn er noch fern ist, kann man über ihn lachen, aber wenn er näher kommt, verursacht er immer mehr Angst. Wenn er so nahe ist, dass er einen schon fast berührt, dann lacht niemand mehr. Dagoska ist voller Angst, und die Zweifel können sich nur verstärken. Früher oder später wird irgendjemand die Stadt an die Gurkhisen verraten, und wenn auch nur, um das eigene Leben zu retten oder das Leben geliebter Menschen. Möglicherweise wäre es ein erster Schritt, einen missliebigen Superior aus dem Weg zu räumen, der das ganze Unglück ausgelöst hat …

Er fühlte plötzlich eine Berührung an der Schulter, zog scharf die Luft ein und wirbelte herum. Sein Bein gab nach, und er taumelte rückwärts gegen eine Säule, wobei er beinahe auf einen stöhnenden Einheimischen mit bandagiertem Gesicht trat. Vitari stand da und sah ihn mit düsterem Blick an. »Verdammt!« Glokta biss sich mit seinen verbliebenen Zähnen auf die Lippe und kämpfte gegen den Krampf in seinem Bein an. »Hat Ihnen nie jemand gesagt, dass man sich nicht derart von hinten an andere Leute heranschleicht?«

»Mir hat man das genaue Gegenteil beigebracht. Ich muss mit Ihnen reden.«

»Dann reden Sie. Aber fassen Sie mich ja nicht wieder an.«

Sie betrachtete die Verletzten. »Nicht hier. Allein.«

»Ach, kommen Sie. Was können Sie mir schon sagen wollen, das Sie nicht in einem Raum voller sterbender Helden über die Lippen brächten?«

»Das werden Sie merken, wenn wir draußen sind.«

Eine Kette um den Hals, schön fest, auf Empfehlung Seiner Eminenz? Oder möchte sie sich mit mir nur übers Wetter unterhalten? Glokta merkte, dass er lächelte. Ich kann es kaum erwarten, das herauszufinden. Mit einer Hand gab er Frost ein Zeichen, und der Albino verschwand wieder in den Schatten. Dann hinkte er hinter Vitari her, und sie bahnten sich ihren Weg durch die stöhnenden Verwundeten bis zur Hintertür an die frische Luft. Der scharfe Schweißgeruch wurde durch scharfen Brandgeruch verdrängt und von noch etwas anderem …

Vor der Wand des Tempels waren bis auf Schulterhöhe längliche, ovale Pakete aufgestapelt, in grobes, graues Tuch gewickelt, das an manchen Stellen mit braunen Blutflecken durchtränkt war. Es waren viele. Leichen, die geduldig auf ihr Begräbnis warteten. Die Ernte dieses Vormittags. Was für ein wundervoll makabrer Ort für unser kleines Gespräch. Den hätte ich nicht schöner aussuchen können.

»Nun also, wie gefällt Ihnen die Belagerung? Sie ist ein wenig zu laut für meinen Geschmack, aber Ihr Freund Cosca scheint ganz in seinem Element …«

»Wo ist Eider?«

»Was?«, gab Glokta scharf zurück, während er Zeit zu gewinnen versuchte, um sich eine Antwort einfallen zu lassen. Ich hatte nicht erwartet, dass sie es so schnell herausfindet.

»Eider. Sie erinnern sich? So eine Frau, wie eine teure Hure gekleidet? Das Schmuckstück des Regierungsrats der Stadt? Die versucht hat, uns an die Gurkhisen zu verraten? Ihre Zelle ist leer. Wieso?«

»Ach, die. Die hat das Wasser davongetragen.« Das stimmt. »Mit einer fünfzig Schritt langen Kette um den Körper.« Das stimmt nicht. »Sie ziert jetzt wohl den Meeresboden der Bucht, wenn Sie schon so fragen.«

Vitaris orangerote Brauen zogen sich misstrauisch zusammen. »Wieso wurde ich nicht benachrichtigt?«

»Ich hatte Besseres zu tun, als Ihnen Bescheid zu sagen. Hier geht es um einen Krieg, den wir gewinnen oder verlieren werden, oder ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?« Glokta wandte sich ab, aber ihre Hand schoss vor und schlug klatschend gegen die Mauer, sodass ihr langer Arm ihm den Weg versperrte.

»Mich informieren heißt, Sult zu informieren. Wenn wir anfangen, ihm verschiedene Geschichten zu erzählen …«

»Wo haben Sie die letzten Wochen gesteckt?« Er lachte leise und deutete auf die verhüllten Toten vor der Wand. »Es ist schon lustig. Je wahrscheinlicher es wird, dass die Gurkhisen unsere Mauern stürmen und jedes Geschöpf in Dagoska erschlagen, desto weniger interessiert mich Seine dämliche Eminenz! Erzählen Sie ihm, was Ihnen gefällt. Sie langweilen mich.« Er schickte sich an, ihren Arm beiseitezuschieben, stellte aber fest, dass sie sich nicht bewegte.

»Und was, wenn ich ihm sagen würde, was Ihnen gefällt?«, flüsterte sie.

Glokta runzelte die Stirn. Also, das ist jetzt tatsächlich spannend. Sults Lieblingspraktikalin, die hierhergeschickt wurde, um sicherzustellen, dass ich nicht den rechten Pfad verlasse, bietet mir einen Handel an? Ein Trick? Eine Falle? Ihre Gesichter waren nur noch zwei Handspannen voneinander entfernt, und sein Blick bohrte sich in ihre Augen, als er zu erraten suchte, was sie dachte. Steht darin ein kleiner Hauch Verzweiflung? Könnte das einzige Motiv tatsächlich der Selbsterhaltungstrieb sein? Wenn man diesen Instinkt selbst verloren hat, dann neigt man dazu zu vergessen, wie stark er in anderen Menschen ist. Er merkte, dass er zu lächeln begann. Ja, jetzt erkenne ich es. »Sie dachten, Sie würden zurück nach Hause beordert, sobald die Verräter gefunden waren, nicht wahr? Sie dachten, Sult würde Ihnen eine hübsche kleine Passage nach Adua arrangieren! Aber jetzt gibt es keine Schiffspassagen mehr, und Sie machen sich Sorgen, dass Ihr netter Onkel Sie vergessen haben könnte! Dass Sie mit dem restlichen Hundefutter den Gurkhisen zum Fraß vorgeworfen werden sollen!«

Vitaris Augen verengten sich. »Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. Ich habe es mir genauso wenig ausgesucht wie Sie, hierhergesandt zu werden, aber ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass man dann, wenn Sult einen Befehl gibt, besser so tut, als täte man ihm gern seinen Willen. Mir geht es nur um eines – hier lebend herauszugelangen.« Sie kam sogar noch näher. »Können wir einander nicht gegenseitig helfen?«

Können wir das vielleicht? Das frage ich mich wirklich. »Nun gut. Sagen wir, ich hätte in dem bunten Treiben, das ich mein Leben nenne, noch einen Platz für einen Freund frei. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Sie werden sehen, was Sie tun können?«

»Mehr kann ich Ihnen nicht anbieten. Sie müssen wissen, dass ich nicht besonders gut darin bin, anderen zu helfen. Ich bin ein bisschen außer Übung in der Hinsicht.« Er grinste ihr zahnlos entgegen, schob ihren schlaff gewordenen Arm mit dem Stock aus dem Weg und humpelte dann an den Leichenstapeln vorbei zur Tempeltür zurück.

»Was soll ich Sult über Eider sagen?«

»Sagen Sie ihm die Wahrheit«, rief Glokta ihr über die Schulter zu. »Sagen Sie ihm, sie ist tot.«

Sagen Sie ihm, das sind wir alle.