IM GEBIRGE
»Die Geborstenen Höhen«, hauchte Bruder Langfuß mit vor Ehrfurcht bebender Stimme. »Wahrlich, ein überwältigender Anblick.«
»Mir würden sie wahrscheinlich besser gefallen, wenn ich sie nicht überqueren müsste«, knurrte Logen.
Dem wollte Jezal nicht im Geringsten widersprechen. Das Land hatte sich an jedem Tag ihres Ritts weiter verändert. Allmählich ansteigendes Grasland war einer sanft hügeligen Prärie gewichen, dann steilen Hügeln voller nackter Felsen und düsteren Grüppchen krüppliger Bäumchen. In der Ferne war der dunkelgraue Schatten des Gebirges zu erahnen, der mit jedem Morgen deutlicher und größer wurde, bis sich die Gipfel selbst in die düsteren Wolken zu bohren schienen.
Und jetzt hatten sie den Schatten der Berge erreicht. Das lange Tal mit seinen windzerzausten Bäumen und dem gewundenen Bach, dem sie gefolgt waren, endete in einem Labyrinth verfallener Mauern. Dahinter lag der steile Anstieg zum rauen Vorgebirge, hinter dem sich die erste wahre Höhe der Berge erhob, der kantige Umriss zerklüfteter Felsen, stolz und großartig, die fernen Gipfel mit weißem Schnee bedeckt. Die schwindelerregende Vorstellung eines Kindes davon, wie ein Gebirge aussehen sollte.
Bayaz ließ die harten grünen Augen über die verfallenen Mauerreste gleiten. »Hier stand einst eine starke Festung. Sie bezeichnete die westliche Grenze des Kaiserreichs, bevor sich erste Siedler über den Pass trauten und sich in den Tälern auf der anderen Seite niederließen.« Jetzt war dieser Ort die Heimstatt stachliger Unkräuter und kratziger Brombeeren. Der Magus kletterte vom Karren und setzte sich auf den Boden, streckte den Rücken und lockerte die Beine, das Gesicht dabei schmerzhaft verzogen. Er wirkte noch immer alt und krank, aber seit sie Aulcus verlassen hatten, waren wieder etwas Fleisch und Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt. »Hier ist es nun für mich mit dem Ausruhen vorbei«, sagte er. »Der Karren hat uns gute Dienste geleistet, ebenso wie die Tiere, aber für Pferde ist der Pass zu steil.«
Jetzt sah auch Jezal den Pfad, der sich in Serpentinen hinaufringelte, eine schwache Spur durch wildes Gras und steile Felsen, bis er sich hinter einem Steilhang verlor. »Sieht aus, als wäre es ein weiter Weg.«
Bayaz schnaubte. »Aber die erste Steigung werden wir heute noch bewältigen; dann warten noch viele weitere auf uns. Wir werden mindestens eine Woche in den Bergen unterwegs sein, mein Junge, wenn alles gut geht.« Jezal wagte kaum zu fragen, was passieren würde, wenn es nicht gut ginge. »Wir müssen nun mit leichtem Gepäck weiterreisen. Vor uns liegen lange, steile Wege. Wir nehmen Wasser mit und den ganzen Proviant, den wir noch haben. Warme Kleidung, denn oben zwischen den Gipfeln wird es bitterkalt sein.«
»Die Geburt des Frühlings ist vielleicht nicht die beste Zeit, eine Bergkette zu überqueren«, bemerkte Langfuß unterdrückt.
Bayaz warf ihm einen scharfen Seitenblick zu. »Manche sagen, die beste Zeit, ein Hindernis zu überwinden, ist dann, wenn man sich auf der falschen Seite befindet! Oder schlagt Ihr vor, dass wir auf den Sommer warten?« Der Wegkundige verzichtete auf eine Antwort, und das war weise, wie Jezal fand. »Der Pass ist größtenteils gut geschützt, und daher sollten wir uns über das Wetter die wenigsten Gedanken machen. Wir werden jedoch Seile brauchen. In der Alten Zeit war der Pfad sehr gut, aber das ist lange her. Vielleicht ist er an verschiedenen Stellen ausgewaschen oder auch in die tiefen Täler gestürzt, wer weiß? Wir haben harte Kletterpartien vor uns.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, brummte Jezal.
»Und dann haben wir auch noch das.« Der Magus zog einen der fast leeren Futtersäcke auf und schob das Heu mit beiden Händen zur Seite. Die Kiste, die sie aus dem Haus des Schöpfers geholt hatten, lag ganz unten, ein Block aus Dunkelheit zwischen den blassen, trockenen Halmen.
»Wem kommt denn wohl das Vergnügen zu, dieses mörderische Ding zu schleppen?«, erkundigte sich Logen. »Sollten wir das vielleicht auslosen? Nein?« Niemand sagte etwas. Der Nordmann brummte, als er die Hände unter die Kiste schob und sie zu sich heranzog, sodass eine Kante über das Holz kratzte. »Ich vermute mal, es bleibt an mir hängen«, meinte er, und dicke Adern traten an seinem Hals hervor, als er das schwere Ding auf eine Decke wuchtete.
Jezal hatte der Anblick überhaupt nicht gefallen. Er erinnerte ihn viel zu sehr an die erstickenden Flure im Haus des Schöpfers. An Bayaz’ dunkle Geschichten über Magie, über Dämonen, über die Andere Seite. An die Tatsache, dass diese Reise einen Zweck hatte, den er nicht verstand, aber dessen Klang ihm nicht gefiel. Er war froh, als Logen das Ding in Decken gepackt und in einem Rucksack verstaut hatte. So war es zumindest aus den Augen, wenn auch nicht aus dem Sinn.
Sie alle hatten viel zu tragen. Jezal nahm natürlich seine Eisen mit, die in ihren Scheiden an seinem Gürtel hingen. Dann die Kleider, die er trug – die am wenigsten verdreckten, zerrissenen und stinkenden, die er besaß –, und darüber zog er seinen zerfetzten, abgetragenen, einarmigen Mantel. In seinen Rucksack packte er ein zweites Hemd, eine Rolle Seil, und oben drauf die Hälfte ihrer Vorräte. Beinahe wünschte er sich, das Gepäck wäre schwerer: Sie waren bei ihrer letzten Schachtel Zwieback angelangt und besaßen sonst noch einen halben Sack Hafermehl und ein Päckchen eingesalzenen Fisch, das keiner außer Quai anrühren mochte. Er rollte eine Decke zusammen und legte sie oben auf die anderen Sachen, hängte sich eine volle Feldflasche an den Gürtel und war abmarschbereit. Jedenfalls so sehr, wie er überhaupt je sein würde.
Quai schirrte die Zugpferde aus, während Jezal den anderen beiden die Sättel und das Zaumzeug abnahm. Es erschien wenig gerecht, sie hier in der Wildnis allein zurückzulassen, nachdem die Tiere sie den ganzen Weg von Calcis bis hierher getragen hatten. Jezal kam es vor, als sei das Jahre her. Inzwischen war er ein ganz anderer als jener Bursche, der von dieser Stadt auf die Ebene hinausgeritten war. Die Erinnerung an seine Überheblichkeit, seine Unwissenheit und Selbstsucht schmerzte ihn beinahe.
»Jah!«, schrie er. Sein Pferd sah ihn traurig an, bewegte sich aber nicht, dann senkte es den Kopf und begann an dem Gras bei seinen Füßen zu knabbern. Er strich ihm voll Zuneigung über den Rücken. »Na ja, ich denke, sie werden irgendwann zurückfinden.«
»Oder auch nicht«, sagte Ferro und zog ihren Säbel.
»Was hast du …«
Die gekrümmte Schneide durchschlug den Hals von Jezals Pferd zur Hälfte und ließ warme, nasse Tropfen auf sein entsetztes Gesicht regnen. Die Vorderbeine brachen ein, es stürzte zu Boden und fiel zur Seite. Blut strömte ins Gras.
Ferro packte es an einem Huf, zerrte es mit einer Hand zu sich heran und begann, mit kurzen, effektiven Schlägen ein Bein von dem Kadaver zu trennen, während Jezal sie mit offenem Mund anstarrte. Sie blickte grimmig zurück.
»Ich lasse doch nicht das ganze Fleisch für die Aasvögel zurück. Es wird sich nicht lange halten, aber zumindest heute Abend werden wir richtig gut essen. Hol den Sack.«
Logen warf ihr einen der leeren Futtersäcke zu und zuckte die Achseln. »Man sollte keine zu enge Beziehung zu den Dingen aufbauen, Jezal. Nicht hier draußen in der Wildnis.«
Niemand sagte etwas, als sie den Aufstieg begannen, alle vornübergebeugt und die Augen auf den unsicheren Pfad gerichtet. Der Weg stieg an, führte dann um eine scharfe Kurve, stieg wieder an und führte zur nächsten Kehre, und schon bald taten Jezal die Beine weh, seine Schultern waren wund, und das Gesicht war schweißnass. Ein Schritt nach dem anderen. Das hatte West immer zu ihm gesagt, als er seine langen Laufrunden um den Agriont hatte drehen müssen. Ein Schritt nach dem anderen, und er hatte recht gehabt. Linker Fuß, rechter Fuß, so kamen sie allmählich voran.
Nachdem er sich eine Weile mit diesem sich stets wiederholenden Motto angetrieben hatte, hielt er inne und sah nach unten. Es war verblüffend, wie hoch sie in so kurzer Zeit gekommen waren. Er konnte die Ruinen der Festung erkennen, graue Umrisse im grünen Gras am Fuß des Passes. Dahinter führte der überwachsene Weg durch die eingesunkenen Hügel weiter nach Aulcus. Jezal erschauerte unwillkürlich und wandte sich wieder den Bergen zu. Besser, er ließ all das hinter sich.
Logen trottete den steilen Pfad hinauf, seine abgetragenen Stiefel knirschten und scharrten über Steinchen und Erde, und das tote Gewicht der Metallkiste in seinem Rucksack zerrte an seinen Schultern und schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Sie bohrte sich wie ein Sack voller Nägel in seinen Rücken, obwohl sie in Decken gewickelt war. Aber Logen machte das nicht so sehr zu schaffen. Ihn beschäftigte vielmehr, wie sich Ferros Hintern bewegte, als sie vor ihm herging, wie sich die straffen Muskeln bei jedem Schritt unter dem fleckigen Leinen ihrer Hose hin und her schoben.
Es war seltsam. Bevor er sie gefickt hatte, hatte er überhaupt nicht so über sie nachgedacht. Da war er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sie am Weglaufen zu hindern, oder daran, ihn zu erschießen oder einen der anderen zu erstechen. Er hatte so sehr auf ihre finstere Miene geachtet, dass er das Gesicht dahinter gar nicht wahrgenommen hatte. Er hatte so sehr auf ihre Hände geachtet, dass ihm der Rest ihres Körpers nicht aufgefallen war. Jetzt konnte er an nichts anderes mehr denken.
Jede ihrer Bewegungen erschien ihm faszinierend, und er erwischte sich dabei, dass er sie andauernd beobachtete. Wenn sie unterwegs waren. Wenn sie Pause machten. Wenn sie etwas aß oder trank, wenn sie redete oder ausspuckte. Wenn sie sich am Morgen die Stiefel anzog oder wenn sie sie zur Nacht ablegte. Besonders schlimm war daran, dass sein Schwanz die ganze Zeit über halb steif war, wenn er sie so aus den Augenwinkeln ansah und sie sich dann auch noch nackt vorstellte. Es war schon ziemlich peinlich.
»Was glotzt du so?« Logen hielt an und blinzelte zur Sonne empor. Ferro sah finster zu ihm hinab. Er schob den Rucksack auf seinem Rücken hin und her, rieb sich die wunden Schultern und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Natürlich hätte er sich leicht eine Lüge ausdenken können. Er hatte das großartige Bergpanorama bewundert. Er hatte darauf geachtet, wo er hintrat. Er hatte geschaut, ob ihr Rucksack richtig saß. Aber was hätte das genutzt? Sie wussten beide verdammt gut, was er so angeglotzt hatte, und die anderen waren inzwischen weitergegangen und nicht mehr in Hörweite.
»Ich habe deinen Hintern angeguckt«, sagte er und zuckte die Achseln. »Tut mir leid, aber er ist nun mal ziemlich hübsch. Angucken ist doch nicht verboten, oder?«
Sie öffnete zornig den Mund, aber er hatte den Kopf gesenkt und war, die Daumen unter die Rucksackriemen geklemmt, an ihr vorbei, bevor sie etwas sagen konnte. Nach etwa zehn Schritten sah er über die Schulter zurück. Sie stand noch immer da, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah böse zu ihm herüber. Er grinste zurück.
»Was glotzt du denn so?«, fragte er.
Der Morgen war kalt und frisch, als sie an einer Klippe über einem tiefen Tal anhielten, um Wasser zu schöpfen. Zwar wuchsen einige Bäume, die voller roter Beeren hingen, beinahe seitwärts aus dem nackten Fels, aber Jezal konnte am Grund der engen Schlucht weißes Wasser toben sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte eine schwindelerregende Steilwand aus glattem grauem Stein auf, vor der dunkle Vögel herumflatterten und einander ankrächzten, während weiße Wolkenwirbel über den blassen Himmel zogen. Ein beeindruckender Anblick, wenn auch ein wenig beunruhigend.
»Wunderschön«, murmelte Jezal, der allerdings darauf achtete, nicht zu nahe an den Klippenrand zu treten.
Logen nickte. »Erinnert mich an zu Hause. Als ich ein Junge war, verbrachte ich ganze Wochen oben auf den Hohen Höhen und habe mich gegen die Berge erprobt.« Er nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche und reichte sie dann Jezal, während er die dunklen Bergspitzen mit zusammengekniffenen Augen musterte. »Sie gewinnen allerdings immer. Das Kaiserreich ist gekommen und gegangen, und sie sind immer noch da und sehen auf das Land hinab. Und sie werden auch immer noch da sein, wenn wir alle wieder zu Schlamm geworden sind. Sie haben auf mein Heimatdorf hinabgeblickt.« Er schnaubte kurz und spuckte dann einen Schleimbrocken über die Bruchkante. »Jetzt gucken sie auf gar nichts mehr.«
Jezal nahm nun auch einen Schluck Wasser. »Wirst du wieder in den Norden zurückgehen, wenn all das hier vorbei ist?«
»Vielleicht. Ich habe noch einige Rechnungen offen. Einige ernste Rechnungen mit einem hohen Preis.« Der Nordmann zuckte die Achseln. »Aber wenn ich sie einfach vergesse, dann wird es vermutlich auch niemandem deswegen schlechter ergehen. Ich denke mal, dass man mich überall für tot hält, und höchstwahrscheinlich sind sie alle erleichtert deswegen.«
»Ist da nichts, wohin du zurückgehen wolltest?«
Logen verzog das Gesicht. »Nur noch mehr Blutvergießen. Meine Familie ist schon lange tot und verfault, und jene Freunde, gegen die ich mich nicht im Zorn wandte und die ich nicht selbst tötete, die habe ich mit meinem Stolz und meiner Dummheit umgebracht. Tja, so viel zu meinen Leistungen. Aber du hast doch noch Zeit, oder, Jezal? Dir steht doch noch ein schönes, friedliches Leben offen. Was wirst du denn tun?«
»Na ja … ich habe mir überlegt …« Jezal räusperte sich. Plötzlich war er nervös, als ob seine Pläne, wenn er sie tatsächlich aussprach, dadurch wahrhaftiger und greifbarer würden. »Zu Hause gibt es ein Mädchen … eher eine Frau, sollte ich wohl sagen. Die Schwester meines Freundes … sie heißt Ardee. Ich glaube, na ja, ich bin wohl irgendwie in sie verliebt …« Es war seltsam, dass er seine innersten Gefühle mit diesem Mann besprach, den er für einen Wilden gehalten hatte. Mit diesem Mann, der die komplizierten Regeln des Lebens in der Union gar nicht begreifen konnte, der nicht wusste, welches Opfer für Jezal mit einer solchen Verbindung verbunden war. Aber irgendwie ging es ihm leicht über die Zunge. »Ich habe überlegt, dass ich sie … wenn sie mich überhaupt haben will, heißt das … vielleicht heiraten will.«
»Hört sich nach einem guten Plan an.« Logen grinste und nickte. »Heirate sie und pflanz ein paar Setzlinge.«
Jezal hob die Brauen. »Ich verstehe nicht wirklich viel vom Ackerbau.«
Der Nordmann brach in schallendes Gelächter aus. »Doch nicht solche Setzlinge, Kleiner!« Er tätschelte ihm den Arm. »Aber einen Rat hätte ich für dich, wenn du ihn von jemandem wie mir annehmen willst. Mach etwas aus deinem Leben, das nichts mit Mord und Totschlag zu tun hat.« Er bückte sich, hob seinen Rucksack auf und schob die Arme durch die Riemen. »Überlass das Kämpfen denen mit weniger Verstand.« Damit wandte er sich um und stapfte wieder den Pfad hinauf.
Jezal nickte langsam. Vorsichtig führte er eine Hand zu der Narbe an seinem Kinn, und seine Zunge fand seine Zahnlücke. Logen hatte recht. Kämpfen, das war nichts für ihn. Schon jetzt hatte er eine Narbe zu viel.
Es wurde ein freundlicher Tag. Zum ersten Mal seit langer Zeit war Ferro wieder einmal warm, und die Sonne fühlte sich gut an, heiß und zornig auf ihrem Gesicht, auf ihren bloßen Unterarmen, auf ihren Handrücken. Die Schatten der Felsen und Zweige zeichneten sich scharf auf dem steinigen Boden ab, und die Gischt des Wasserfalls neben dem Pfad glitzerte in der Luft.
Die anderen waren ein wenig zurückgefallen. Langfuß ließ sich Zeit, staunte lächelnd alles an, was er am Wegesrand sah, und salbaderte von den majestätischen Ausblicken. Quai stapfte gebeugt und müde unter dem Gewicht seines Gepäcks dahin. Bayaz quälte sich, schnaufte und keuchte, als ob er jeden Augenblick tot umfallen würde. Luthar jammerte über die Blasen an seinen Füßen, wenn er jemanden fand, der ihm zuhörte, was aber praktisch nicht vorkam. So blieben nur sie und Neunfinger, die in eisernem Schweigen vorausschritten.
Ihr war es so gerade recht.
Sie kletterte über eine kleine Anhöhe lockeren Gesteins und entdeckte ein Bassin mit dunklem Wasser, das an einem halbrunden Strand mit flachen Kieseln leckte, während von oben zischend eine Fontäne über aufgetürmte, mit nassem Moos bewachsene Steine hinuntersprudelte. Zwei verkrüppelte Bäume reckten ihre Zweige in den Himmel, an denen die ersten dünnen, frisch entfalteten Blätter schimmerten und in der leichten Brise rauschten. Das Sonnenlicht flimmerte, Insekten summten und glitten über das gekräuselte Wasser dahin.
Ein wunderschöner Ort, wenn man ein Auge für solche Dinge hatte.
Ferro hatte das nicht. »Da sind Fische drin«, murmelte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ein Fisch wäre etwas Feines, so am Stock über dem Feuer gebraten. Das Pferdefleisch, das sie mit sich geführt hatten, war inzwischen aufgebraucht, und sie hatte Hunger. Sie sah die verschwommenen Schatten unter dem Wasser dahingleiten, als sie sich hinkniete, um ihre Wasserflasche zu füllen. Jede Menge Fische. Neunfinger nahm seinen schweren Rucksack ab und setzte sich auf die Steine daneben, dann zog er sich die Stiefel aus und rollte sich die Hosen bis über die Knie hoch. »Was wird das denn, Rosig?«
Er grinste sie an. »Ich werde mir ein paar Fische aus dem Teich herauskitzeln.«
»Mit den Händen? Sind deine Finger dazu etwa geschickt genug?«
»Das solltest du doch wissen.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu, aber er grinste nur noch breiter. Kleine Fältchen umlagerten dabei seine Augenwinkel. »Aufgepasst, hier kannst du was lernen.« Damit watete er hinein, beugte sich vor, die Lippen aufmerksam zusammengepresst, und fuhr mit den Händen sachte durch das Wasser.
»Was macht er denn da?« Luthar warf seinen Rucksack neben Ferros Gepäck und wischte sich mit dem Handrücken das schweißnasse Gesicht.
»Der Blödmann meint, er könnte Fische fangen.«
»Was, mit bloßen Händen?«
»Aufpassen, dann kannst du auch noch was lernen, Kleiner«, murmelte Neunfinger. »Aaaah …« Ein breites Lächeln zog über sein Gesicht. »Und hier ist er schon.« Die Muskeln seines Unterarms bewegten sich, als er mit den Fingern unter Wasser spielte. »Hab ich dich!« Er riss die Hand aus dem aufspritzenden Wasser. Etwas Glänzendes zappelte in der Sonne, und er warf es ans Ufer neben ihnen, wo es eine Spur dunkler nasser Flecke auf den trockenen Steinen hinterließ. Ein zuckender, sich windender Fisch.
»Haha!«, rief Langfuß und trat nun neben sie. »Lockt er die Fischlein aus dem Wasser? Eine höchst bemerkenswerte und beeindruckende Fähigkeit. Auf den Tausendinseln habe ich einmal einen Mann getroffen, den man für den größten Fischer des ganzen Weltenrunds hielt. Und was soll ich sagen, er saß am Ufer und sang, und die Fischlein sprangen ihm in den Schoß! So war es wirklich!« Als er bemerkte, dass niemand seine Geschichte zu schätzen wusste, verzog er beleidigt das Gesicht, aber nun kam Bayaz schnaufend über den Geröllberg, beinahe auf allen vieren. Sein Lehrling erschien mit versteinertem Gesicht gleich hinter ihm.
Der Erste der Magi stolperte müde bis zu ihnen hinunter, stützte sich dabei stark auf seinen Stab und ließ sich gegen einen Felsen sinken. »Vielleicht … sollten wir hier lagern.« Er schnappte nach Luft, und Schweiß rann über sein ausgemergeltes Gesicht. »Man sollte nicht glauben, dass ich diesen Pass einmal laufend überquert habe. Damals habe ich nur zwei Tage gebraucht.« Er ließ den Stab aus den zitternden Fingern fallen, sodass er klappernd zwischen das trockene, graue Treibholz nahe dem Wasser fiel. »Das ist lange her …«
»Ich habe nachgedacht …«, murmelte Luthar.
Bayaz warf ihm einen müden Seitenblick zu, als sei schon die Anstrengung, den Kopf zur Seite zu bewegen, zu viel für ihn. »Laufen und denken? Überfordert Euch nur nicht, Hauptmann Luthar.«
»Wieso der Rand der Welt?«
Der Magus sah ihn streng an. »Nicht aus Gründen der körperlichen Ertüchtigung, das kann ich Euch versichern. Dort liegt das, was wir suchen.«
»Ja, aber wieso ist es dort?«
»Ah«, knurrte Ferro zustimmend. Eine gute Frage.
Bayaz holte tief Luft und blies die Backen auf. »Ihr gebt aber auch nie Ruhe, wie? Nach der Zerstörung von Aulcus und Glustrods Fall trafen sich die drei verbliebenen Söhne des Euz. Juvens, Bedesch und Kanedias. Sie berieten sich darüber, was nun geschehen sollte … mit dem Samen.«
»Hab ich dich!«, schrie Neunfinger, riss einen weiteren Fisch aus dem Wasser und warf ihn auf die Steine, gleich neben den ersten. Bayaz sah ausdruckslos zu, wie sich das Tier wand und mit dem Schwanz schlug, während Mund und Kiemen verzweifelnd nach der erstickenden Luft schnappten.
»Kanedias wollte ihn gern erforschen. Er behauptete, dass er ihn seinem wahrhaftigen Zweck zuführen könnte. Juvens fürchtete den Stein, wusste aber nicht, wie er zerstört werden könnte, und daher vertraute er ihn seinem Bruder an. Als jedoch die Wunden des Kaiserreichs auch über die langen Jahre hinweg nicht heilen wollten, bedauerte er schließlich seine Entscheidung. Er sorgte sich darum, dass Kanedias aus Machthunger das Erste Gebot brechen könnte, wie auch Glustrod es schon getan hatte. Er verlangte, dass der Stein so weggeschlossen würde, dass er nicht mehr verwendet werden könnte. Zuerst weigerte sich der Meisterschöpfer, und das Vertrauen zwischen den Brüdern nahm großen Schaden. Dessen bin ich mir gewiss, denn ich war derjenige, der die Botschaften von einem zum anderen überbrachte. Schon damals, das weiß ich heute, bereiteten sie die Waffen vor, die sie später gegeneinander zum Einsatz bringen sollten. Juvens bat, er flehte, schließlich drohte er, und dann endlich gab Kanedias nach. Und so reisten die drei Söhne des Euz nach Schabulyan.«
»Im ganzen Weltenrund gibt es keinen entlegeneren Ort«, sagte Langfuß leise.
»Deswegen wurde er gewählt. Sie übergaben den Samen dem Geist jener Insel, um ihn dort für alle Zeiten in Sicherheit zu verwahren.«
»Sie befahlen dem Geist, ihn niemals wieder freizugeben«, murmelte Quai.
»Aufs Neue zeigt mein Lehrling seine Unwissenheit«, gab Bayaz zurück und starrte Quai unter seinen buschigen Brauen an. »Nicht niemals, Meister Quai. Juvens war weise genug, um zu wissen, dass er nicht alle Entwicklungen vorausahnen konnte. Ihm war bewusst, dass eine verzweifelte Zeit kommen mochte, irgendwann einmal in der Zukunft, in der die Macht … jenes Steins gebraucht werden könnte. Bedesch befahl dem Geist also, ihn nur einem Mann zu übergeben, der mit Juvens’ Stab zu ihm käme.«
Langfuß runzelte die Stirn. »Und wo ist der?«
Bayaz deutete auf das Holzstück, das er als Gehstütze benutzte und das nun neben ihm am Boden lag, roh und ohne Verzierungen. »Das ist er?«, fragte Luthar und klang mehr als nur ein wenig enttäuscht.
»Was habt Ihr erwartet, Herr Hauptmann?« Bayaz grinste ihn von der Seite an. »Zehn Fuß poliertes Gold, mit kristallenen Runen geschmückt und mit einem Diamanten von der Größe Eures Kopfes an der Spitze?« Der Magus schnaubte. »Selbst ich habe noch keine Gemme von einem solchen Umfang gesehen. Ein einfacher Stab genügte meinem Meister. Er brauchte nicht mehr als das. Ein Stück Holz an sich macht einen Mann ebenso wenig weise, edel oder mächtig wie ein Stück Stahl. Macht kommt aus dem Fleisch, mein Junge, und aus dem Herzen, und aus dem Kopf. Vor allem aus dem Kopf.«
»Ich liebe diesen Teich!«, lachte Neunfinger und schleuderte schon wieder einen Fisch auf die Felsen.
»Juvens«, hob Langfuß leise an, »und seine Brüder, mächtig über alle Vorstellungskraft hinaus, halb zwischen Menschen und Göttern. Selbst sie fürchteten dieses Ding. Sie setzten sich großen Anstrengungen aus, um es unschädlich zu machen. Sollten wir es nicht ebenso sehr fürchten wie sie?«
Bayaz sah mit glitzernden Augen zu Ferro hinüber, und sie blickte starr zurück. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner runzligen Haut und ließen sein Barthaar noch dunkler erscheinen, aber sein Gesicht war so steinern wie eine verschlossene Tür. »Waffen sind gefährlich, zumal für jene, die sie nicht verstehen. Mit Ferro Maljinns Bogen könnte ich mir leicht in den eigenen Fuß schießen, wenn ich ihn nicht zu gebrauchen wüsste. Mit Hauptmann Luthars Eisen könnte ich einen Verbündeten verletzen, wenn ich sie nicht beherrschte. Je größer die Waffe, desto größer die Gefahr. Ich bringe diesem Ding den nötigen Respekt entgegen, glaubt mir, aber um unsere Feinde zu besiegen, benötigen wir eine derart mächtige Waffe.«
Ferro runzelte die Stirn. Sie war noch immer nicht recht davon überzeugt, dass seine Feinde und ihre Feinde dieselben waren, aber sie wollte einstweilen nicht wieder an dieser Frage rühren. Jetzt war sie zu weit gereist und zu nah herangekommen, um einen Rückzieher zu machen. Sie sah zu Neunfinger herüber und merkte, dass er sie beobachtet hatte. Seine Augen zuckten zur Seite, wieder zum Wasser. Sie blickte noch grimmiger drein. In letzter Zeit starrte er sie dauernd an. Starrte sie an, grinste und machte irgendwelche blöden Witze. Aber auch sie ertappte sich dabei, dass sie ihn viel öfter ansah, als eigentlich nötig war. Lichtflecken, zurückgeworfen vom gekräuselten Wasser, tanzten über sein Gesicht. Er sah wieder hoch, ihre Blicke trafen sich, und er lächelte sie einen Augenblick lang an.
Ferros Miene verfinsterte sich immer mehr. Sie zog das Messer hervor, schnappte sich einen der Fische und schnitt ihm den Kopf ab, schlitzte ihn auf und schleuderte die schleimigen Innereien in Neunfingers Richtung, wo sie neben seinem Bein ins Wasser fielen. Es war natürlich ein Fehler gewesen, ihn zu ficken, aber letztlich entwickelten sich die Dinge doch gar nicht so übel.
»Ha!« Neunfinger ließ wieder eine Wasserfontäne aufsteigen, dann stolperte er und griff in die Luft. »Ah!« Der Fisch entwand sich seinen Händen wie ein schimmernder, heller Blitz, und der Nordmann kippte vornüber ins Wasser. Prustend tauchte er wieder auf und schüttelte den Kopf, das Haar glatt an den Kopf gelegt. »Dreckstück!«
»Auf jeden Mann wartet irgendwo auf der Welt ein Gegner, der ihn an Klugheit übertrifft.« Bayaz streckte die Beine aus. »Kann es sein, Meister Neunfinger, dass Ihr den Euren endlich gefunden habt?«
Jezal erwachte mit einem Ruck. Es war mitten in der Nacht. Es dauerte einen kleinen, verwirrten Augenblick, bis er wusste, wo er war, denn er hatte von zu Hause geträumt, vom Agriont, von sonnigen Tagen und milden Abenden. Von Ardee oder jemandem, der ihr ähnelte, und die ihn in seinem Salon mit einem schiefen Lächeln bedacht hatte. Nun standen die Sterne hell und leuchtend am schwarzen Himmel, und die kühle, klare Luft des Gebirges zupfte an Jezals Lippen, seinen Nasenlöchern und den Ohrenspitzen.
Er war wieder hoch in den Geborstenen Höhen, die halbe Welt lag zwischen ihm und Adua, und er spürte ein plötzliches Gefühl des Verlusts. Aber zumindest hatte er einen vollen Magen. Fisch und Zwieback, die erste anständige Mahlzeit, seit das Pferdefleisch zur Neige gegangen war. Noch legte sich etwas Wärme des Feuers auf die Seite seines Gesichts, und er drehte sich ihm entgegen, lächelte die glühenden Scheite an und zog sich seine Decken bis unters Kinn. Zur Glückseligkeit reichten ihm inzwischen etwas frischer Fisch und ein noch glimmendes Feuer.
Er runzelte die Stirn. Die Decken neben ihm, unter denen Logen schlief, bewegten sich. Zuerst dachte er, dass Neunfinger sich im Schlaf umdrehte, aber sie bewegten sich weiter und hörten nicht auf. Ein langsames, gleichmäßiges Hin und Her, das, wie Jezal jetzt bemerkte, von einem leisen Stöhnen begleitet wurde. Er hatte das Geräusch zunächst für Bayaz’ Schnarchen gehalten, aber jetzt merkte er, dass das nicht stimmte. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit und konnte schließlich Neunfingers bleiche Schulter und seinen Arm erkennen, dessen dicke Muskeln sich anspannten. Unter seinem Arm, eng an seine Seite gedrückt, lag eine dunkelhäutige Hand.
Jezal klappte die Kinnlade herunter. Logen und Ferro, und die Geräusche ließen keinen Zweifel daran, dass sie es miteinander trieben! Und dann auch noch keinen Schritt von seinem Kopf entfernt! Er starrte hinüber, sah im Dämmerlicht des Feuers, wie die Decke sich vor und zurück und auf und nieder bewegte. Wie hatten sie … Es war eine verdammte Zumutung, was sie sich da leisteten! Seine alte Abneigung für beide kehrte mit einem Schlag zurück, und seine narbige Lippe kräuselte sich verächtlich. Ein paar Barbaren, die vor aller Augen ihren niederen Trieben nachgaben! Er hatte gute Lust, aufzustehen und sie zu treten, wie man es mit Hunden tat, die zur allgemeinen Empörung auf einem Gartenfest unerwartet zueinander gefunden hatten.
»Scheiße«, flüsterte eine Stimme. Jezal erstarrte und fragte sich, ob ihn jemand gesehen hatte.
»Warte mal.« Einen Augenblick war alles still.
»Ah … ah, ja, das ist es.« Die gleichmäßigen Bewegungen setzten wieder ein, die Decke rutschte hin und her, erst langsam, dann schneller. Wie konnten sie überhaupt erwarten, dass er davon nicht aufwachen würde? Mit bitterbösem Gesicht rollte er sich zur anderen Seite, zog sich die eigene Decke über den Kopf und lag in der Dunkelheit da, hörte Neunfingers kehliges Stöhnen und Ferros drängendes Zischen immer lauter werden. Er kniff die Augen zusammen und spürte Tränen unter seinen Lidern.
Verdammt, er fühlte sich so einsam.