TRAU KEINEM

Das Rad des Karrens drehte sich einmal um die Achse und quietschte. Es machte eine neuerliche Umdrehung und quietschte wieder. Verdammtes Rad. Verdammter Karren. Sie richtete ihre Verachtung vom Karren selbst auf seinen Lenker.

Verdammter Lehrling. Sie traute ihm nicht so weit, wie sie ihn werfen konnte. Seine Augen tanzten unruhig zu ihr hinüber, ruhten einen beleidigend langen Moment auf ihr und tanzten dann weiter. Als ob er etwas über Ferro wusste, von dem sie selbst keine Ahnung hatte. Das machte sie wütend. Sie wandte den Blick von ihm ab, sah hinüber zu dem Pferd ganz vorn und zu seinem Reiter.

Verdammtes Unionistenbürschchen. Allein wie er im Sattel saß, kerzengerade aufgerichtet, wie ein König auf seinem Thron. Als ob die Tatsache, dass er mit einem hübschen Gesicht geboren worden war, eine Leistung sei, auf die man ununterbrochen stolz sein konnte. Er war anziehend, nett anzusehen und zickig wie eine Prinzessin. Ferro lächelte grimmig in sich hinein. Die Prinzessin der Union, das war er. Sie hasste gut aussehende Menschen noch mehr als die hässlichen. Schönheit war nie zu trauen.

Man hätte allerdings die ganze Welt nach einem Kerl absuchen können, der weniger schön war als dieser neunfingrige Drecksack. Er hing zusammengesunken im Sattel wie ein großer Sack Reis. Seine Bewegungen waren langsam, wenn er sich kratzte, schnüffelte oder wie eine große Kuh kaute. Er versuchte so zu wirken, als ob er nichts Mörderisches in sich hatte, keine wilde Wut, keinen Teufel. Sie wusste es besser. Er nickte ihr zu, und sie antwortete darauf mit einem finsteren Blick. Er war ein Teufel, der sich unter einer Kuhhaut verbarg, aber sie ließ sich davon nicht täuschen.

Aber immer noch besser als der verdammte Wegkundige. Der ununterbrochen redete, ununterbrochen lächelte und ununterbrochen lachte. Ferro hasste Reden und Lächeln und Lachen, eins mehr als das andere. Ein blöder kleiner Kerl mit seinen Geschichten. Hinter all seinen Lügen schmiedete er irgendwelche Ränke und beobachtete sie alle, das spürte sie.

Dann blieb noch der Erste der Magi, und ihm traute sie am allerwenigsten. Sie sah, wie seine Augen zum Karren hinüberglitten. Zu dem Sack, in den er die Kiste gesteckt hatte. Diese viereckige, graue, schmucklose, schwere Kiste. Er dachte wohl, dass niemand das Ding gesehen hatte, aber sie hatte aufgepasst. Der und seine Geheimnisse. Kahler Drecksack, mit seinem dicken Hals und dem hölzernen Stab, der immer so tat, als habe er sein ganzes Leben lang nur Gutes gewirkt, als ob er gar nicht wüsste, wie man einen Menschen in Stücke zerspringen lassen konnte.

»Verdammte Scheiß-Rosigs«, murmelte sie leise vor sich hin. Dann beugte sie sich vor und spuckte auf den Weg, und ihre Augen brannten beinahe Löcher in die fünf Rücken, die vor ihr her ritten. Wieso hatte sie sich von Yulwei zu diesem Irrsinn überreden lassen? Zu einer Reise in den kalten Westen, wo sie nichts verloren hatte. Sie hätte im Süden bleiben und gegen die Gurkhisen kämpfen sollen.

Um sie für das bezahlen zu lassen, was sie ihr angetan hatten.

Während sie leise Yulweis Namen verfluchte, folgte sie den anderen hinauf zur Brücke. Sie wirkte uralt – narbige Steine, mit Flechten bewachsen und mit tiefen Furchen an den Stellen, wo die Räder eines Karrens normalerweise rollten. Tausende von Jahren waren hier wohl Wagen gefahren, hin und zurück. Der Strom gurgelte unter dem einzigen Brückenbogen dahin, bitterkaltes Wasser, das schnell floss. Neben der Brücke stand eine niedrige Hütte, die über die langen Jahre in die Landschaft hineingewachsen zu sein schien. Aus ihrem Schornstein stieg ein kleiner Rauchfaden auf, den der schneidende Wind über das Land blies. Ein einzelner Soldat stand davor. Hatte wahrscheinlich irgendwann mal Pech gehabt. Er hatte sich gegen die Mauer gelehnt und war in einen schweren Mantel gehüllt, der Wind riss an dem Pferdeschweif auf seinem Helm, und neben ihm lehnte unbeachtet sein Speer.

»Wir reiten hinaus auf die Ebene und ziehen in Richtung Darmium.«

»Kann ich nicht empfehlen. Ist gefährlich da oben.«

Bayaz lächelte. »Gefahren bergen auch Gewinne.«

»Gewinne halten keinen Pfeil auf, mein Freund.« Der Soldat sah sie alle einen nach dem anderen von oben bis unten an und schniefte. »Ihr seid aber ein ziemlich gemischter Haufen, was?«

»Ich nehme alle guten Kämpfer, die ich finde.«

»Klar.« Er sah zu Ferro hinüber, und sie blickte böse zurück. »Ihr seid sicher alle ziemlich hart, aber dennoch lauern auf der Ebene tödliche Gefahren, heute mehr denn je. Einige Kauffahrer wagen sich immer noch hinaus, aber sie kehren nicht zurück. Dieser Verrückte, Cabrian, hat dort Räubertruppen, die auf Plünderung aus sind. Scario und Goltus auch, sie sind keinen Deut besser. Wir versuchen, auf dieser Seite des Flusses zumindest ein wenig für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, aber da oben seid Ihr ganz allein auf Euch gestellt. Für Euch wird es keine Hilfe geben, wenn man Euch da draußen erwischt.« Er schniefte wieder. »Überhaupt keine Hilfe.«

Bayaz nickte grimmig. »Wir werden auch nicht darum bitten.« Er spornte sein Pferd an, und es trabte über die Brücke und auf den Pfad, der auf der anderen Seite begann. Die anderen folgten ihm, erst Langfuß, dann Luthar, dann Neunfinger. Quai schnalzte mit den Zügeln, und der Karren setzte sich in Bewegung. Ferro ging als Nachhut hinterdrein.

»Überhaupt keine Hilfe!«, rief ihr der Soldat nach, bevor er sich wieder gegen die unverputzte Steinmauer seiner Hütte lehnte.

 

Die große Ebene.

Eigentlich hätte es gutes Land zum Reiten sein sollen, ein Land, das einem ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Ferro hätte einen Feind schon auf Meilen sehen können, aber sie erspähte niemanden. Nur den endlosen Teppich hohen Grases, das im Wind hin und her wogte und sich in jede Richtung bis zum weit entfernten Horizont erstreckte. Einzig der Pfad unterbrach die Gleichförmigkeit dieser Gegend, eine Linie aus kürzerem, trockenerem Gras, unterbrochen von Flecken nackter, schwarzer Erde, die sich schnurgerade über die Ebene zog.

Ferro gefiel das nicht, diese endlose Gleichförmigkeit. Während sie weiter ritten, sah sie mit finsterem Gesicht immer wieder nach links und rechts. In den Wüsten Landen von Kanta war die nackte Erde voller Orientierungspunkte – zerklüftete Felsblöcke, ausgedörrte Täler, vertrocknete Bäume, die klauenartige Schatten warfen, entfernte Spalten in der Erde, die voller Schatten waren, oder helle Höhenrücken, die in Licht getaucht wurden. In den Wüsten Landen von Kanta wäre der Himmel über ihnen leer gewesen, eine helle Schüssel, die nichts anderes enthielt als die blendende Sonne am Tag und die leuchtenden Sterne in der Nacht.

Hier war alles seltsam verkehrt.

Der Boden war ohne jegliche Unterscheidungsmerkmale, aber am Himmel herrschte ständig Bewegung und Durcheinander. Hoch aufgetürmte Wolken dräuten über der Ebene, Dunkelheit und Licht glitten in riesenhaften Spiralen ineinander und fegten mit dem beißenden Wind über das Grasland. Sie veränderten ihre Form, drehten sich, rissen auseinander und fanden wieder zusammen, und dabei warfen sie riesenhafte, fließende Schatten auf die geduckt daliegende Erde, als drohten sie, die sechs winzigen Reiter und ihren winzigen Karren mit einem Regenguss hinwegzuwaschen, der die ganze Welt vernichten würde. Sie hingen über Ferros verkrampften Schultern, als habe der göttliche Zorn Gestalt angenommen.

Es war ein seltsames Land, in dem es für sie keinen Platz gab. Sie brauchte Gründe, um hier zu sein, und zwar gute. »He du, Bayaz!«, rief sie und schloss zu dem Magus auf. »Wohin reiten wir?«

»Hm«, knurrte er und sah mit gerunzelter Stirn über das wogende Gras von einem Nichts zum anderen. »Wir reiten westwärts über die Ebene, überqueren dann den großen Aos und reiten weiter zu den Geborstenen Höhen.«

»Und dann?«

Sie sah, wie sich die schwachen Fältchen um seine Augen und über seiner Nasenwurzel vertieften, während seine Lippen schmal wurden. Er war verärgert. Ihm gefielen ihre Fragen nicht. »Dann reiten wir weiter.«

»Wie lange wird es dauern?«

»Den ganzen Winter und bis in den Frühling«, erklärte er kurz angebunden. »Und dann müssen wir zurück.« Er stieß seinem Pferd die Absätze in die Weichen und ließ es einen Schritt schneller gehen, bis er wieder an der Spitze der kleinen Gruppe ritt und Ferro hinter ihm zurückblieb.

Sie ließ sich jedoch nicht so schnell abwimmeln. Nicht von diesem durchtriebenen alten Rosig. Stattdessen spornte sie ihr Pferd ebenfalls an und holte ihn wieder ein. »Was ist das Erste Gebot?«

Bayaz warf ihr einen scharfen Blick zu. »Was weißt denn du darüber?«

»Nicht genug. Ich habe gehört, wie du mit Yulwei darüber gesprochen hast, durch die Tür.«

»Du hast gelauscht, was?«

»Ihr habt laute Stimmen, und ich habe gute Ohren.« Ferro zuckte die Achseln. »Ich stülpe mir keinen Eimer über den Kopf, bloß damit ihr eure Geheimnisse wahren könnt. Was ist das Erste Gebot?«

Die Furchen auf Bayaz’ Stirn wurden noch tiefer, und die Mundwinkel zogen sich nach unten. Wut. »Eine Beschränkung, die Euz seinen Söhnen auferlegte, das erste Gesetz, das nach dem Chaos der Alten Zeit aufgestellt wurde. Es ist verboten, die Andere Seite zu berühren. Es ist verboten, mit der Unterwelt in Kontakt zu treten, Dämonen zu rufen oder die Tore der Hölle zu öffnen. Dies ist das Erste Gebot, die Richtlinie aller Magie.«

»Pffft«, schnaubte Ferro. Ihr bedeutete das alles nichts. »Wer ist Khalul?«

Bayaz’ dichte Brauen zogen sich weiter zusammen, sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und seine Augen wurden schmal. »Haben deine Fragen denn gar kein Ende, Weib?« Ihre Fragen ärgerten ihn. Das war gut. Es bedeutete, dass es die richtigen waren.

»Du wirst schon merken, wenn ich mit ihnen aufhöre. Wer ist Khalul?«

»Khalul gehörte zum Orden der Magi«, knurrte Bayaz. »Er war einer meines Ordens, der zweite von Juvens’ zwölf Lehrlingen. Er neidete mir meinen Platz und dürstete stets nach Macht. Er brach das Zweite Gebot, um sie zu erlangen. Er verzehrte das Fleisch von Menschen und brachte andere dazu, es ihm gleichzutun. Er erhob sich zum falschen Propheten und brachte die Gurkhisen mit List und Tücke dazu, ihm zu dienen. Das ist Khalul. Dein Feind – und der meine.«

»Was ist der Samen?«

Ein Zucken lief plötzlich über das Gesicht des Magus. Wut, und vielleicht auch ein winziger Hauch von Angst. Dann wurde sein Gesicht sanft. »Was das ist?« Er lächelte sie an, und sein Lächeln beunruhigte sie mehr, als all sein Zorn es zuvor getan hatte. Er beugte sich zu ihr hinüber, bis niemand außer ihr ihn hören konnte. »Er ist das Werkzeug deiner Rache. Unserer Rache. Aber er ist gefährlich. Schon allein davon zu sprechen ist gefährlich. Da sind jene, die immer zuhören. Es wäre klug, wenn du deinen Fragen Einhalt gebieten würdest, bevor die Antworten uns alle verbrennen.« Wieder gab er seinem Pferd die Sporen und ritt nun der Gemeinschaft allein voran.

Ferro blieb zurück. Sie hatte für den Moment genug erfahren. Genug, um dem Ersten der Magi noch weniger zu trauen als zuvor.

 

Eine Mulde im Boden, nicht mehr als vier Schritt im Durchmesser. Eine Bodensenke, umgeben von einem niedrigen Wall feuchter, dunkler Erde voller knotiger Graswurzeln. Das war der beste Platz, den sie für ein Nachtlager hatten finden können, und sie konnten von Glück sagen, dass sie überhaupt darauf gestoßen waren.

Es war das größte Merkmal der Landschaft, das Ferro den ganzen Tag zu Gesicht bekommen hatte.

Das Feuer, das Langfuß in Gang gebracht hatte, brannte inzwischen recht gut, die Flammen leckten hell und hungrig am Holz, knisterten und zuckten zur Seite, wenn ein Windstoß die Senke hinunterfegte. Die fünf Rosigs hatten sich darum herumgeschart und saßen zusammengekauert und aneinandergedrängt da, um möglichst warm zu bleiben. Das Licht schien hell auf ihre verbissenen Gesichter.

Langfuß war der Einzige, der sprach. Sein Gerede drehte sich nur um seine eigenen großen Taten. Dass er hier oder dort gewesen war. Dass er dieses oder jenes wusste. Dass er ein bemerkenswertes Talent für dieses oder jenes besaß. Ferro hing sein Gerede bereits gründlich zum Hals heraus, und das hatte sie ihm auch schon zweimal gesagt. Das erste Mal hatte sie eigentlich gedacht, sie hätte sich klar und deutlich ausgedrückt. Beim zweiten Mal hatte sie dafür gesorgt, dass das tatsächlich so war. Ihr würde er von seinen blöden Reisen nichts mehr erzählen, aber die anderen ertrugen das Geschwätz weiterhin schweigend.

Es war noch Platz für sie dort unten am Feuer, aber sie wollte nicht. Sie wollte oberhalb der anderen im Gras sitzen, im Schneidersitz am Rand der Senke. Es war kalt hier oben im Wind, und sie zog sich die Decke fester um die frierenden Schultern. Es war eine seltsame und beängstigende Erfahrung zu frieren. Sie hasste es.

Aber ihr war lieber kalt, als dass sie Gesellschaft ertrug.

Und so saß sie abseits, schmollend und schweigsam, und sah zu, wie das Licht aus dem drohenden Himmel wich und die Dunkelheit über das Land kroch. Von der Sonne war jetzt nur noch ein ganz schwaches Schimmern am weit entfernten Horizont zu sehen. Der letzte Glanz fasste nach den Rändern der schweren Wolken.

Der große Rosig stand auf und sah sie an. »Wird dunkel«, sagte er.

»Hm.«

»Das ist wohl immer so, wenn die Sonne untergeht, was?«

»Hm.«

Er kratzte sich am Hals. »Wir müssen Wachen aufstellen. Nachts könnte es hier gefährlich werden. Wir sollten abwechselnd aufpassen. Ich übernehme die erste Wache, dann Luthar …«

»Ich halte Wache«, knurrte sie.

»Mach dir keine Sorgen. Du kannst schlafen, ich wecke dich später.«

»Ich schlafe nicht.«

Er starrte sie an. »Was, niemals?«

»Nicht oft.«

»Das erklärt vielleicht ihre Laune«, brummte Langfuß.

Er hatte es nur leise sagen wollen, aber Ferro hörte ihn doch. »Meine Laune geht niemanden was an, du Narr.«

Der Wegkundige entgegnete nichts, als er sich in seine Decke wickelte und neben dem Feuer ausstreckte.

»Willst du als Erste?«, fragte Neunfinger. »Dann tu das, aber weck mich nach ein paar Stunden. Wir sollten alle unsere Wache übernehmen.«

 

Langsam, leise und mit verkrampftem Gesicht, weil sie auf jeden Fall jegliches Geräusch vermeiden wollte, stahl Ferro aus dem Karren. Trockenfleisch. Trockenes Brot. Eine Wasserflasche. Genug, damit sie ein paar Tage überleben konnte. Sie stopfte die Sachen in einen Leinenbeutel.

Eines der Pferde schnaubte und scheute, als sie an ihm vorüberschlich, und sie sah es böse an. Sie konnte reiten. Sie konnte sogar gut reiten, aber sie wollte nichts mit Pferden zu tun haben. Verdammt dämliche, große Viecher. Sie rochen schlecht. Vielleicht waren sie schnell, nun gut, aber sie brauchten zu viel Futter und Wasser. Man konnte sie meilenweit sehen und hören. Und sie hinterließen breite Spuren, denen man leicht folgen konnte. Wenn man ein Pferd ritt, wurde man schwach. Man verließ sich auf das Pferd, und wenn man dann einmal selbst laufen musste, stellte man fest, dass man es nicht mehr konnte.

Ferro hatte gelernt, sich auf niemand anderen zu verlassen als auf sich selbst.

Sie nahm den Beutel über die eine Schulter, ihren Köcher und den Bogen über die andere. Dann warf sie einen letzten Blick auf die schlafenden Umrisse der anderen, dunkle, kleine Hügel rund um das Feuer. Luthar hatte sich die Decke bis unters Kinn gezogen und das Gesicht mit der weichen Haut und den vollen Lippen der niedergebrannten Glut zugewandt. Bayaz drehte ihr den Rücken zu, aber sie sah die Konturen eines dunklen Ohrs und das schwache Licht, das auf seinem kahlen Kopf glänzte; und sie hörte sein langsames Atmen. Langfuß hatte sich die Decke über den Kopf gezogen, dafür sahen seine nackten Füße am anderen Ende hervor, dünn und knochig, und die Sehnen standen vor wie Baumwurzeln am Uferrand. Quais Augen waren einen winzigen Schlitz geöffnet, und das Licht des Feuers spiegelte sich auf einem schmalen Streifen Augapfel. Es sah aus, als beobachte er sie, aber seine Brust hob und senkte sich langsam, der Mund war leicht geöffnet, und er schlief zweifelsohne fest und träumte.

Ferro runzelte die Stirn. Nur vier? Wo war der große Rosig? Seine Decke lag auf der entgegengesetzten Seite des Feuers in Falten wie eine Landschaft schattiger Täler und heller Berghänge, aber es war niemand darunter. Dann hörte sie seine Stimme.

»Gehst du schon?«

Hinter ihr. Das war eine Überraschung, dass er einfach so hinter sie getreten war, während sie die Vorräte stahl. Er machte stets den Eindruck, als sei er zu groß, zu schwerfällig und zu laut, um sich an jemanden anzuschleichen. Sie fluchte leise. Sie hätte wissen sollen, dass man ihn nicht nach dem Anschein beurteilen sollte.

Langsam wandte sie sich zu ihm um und machte einen Schritt auf die Pferde zu. Er folgte ihr und hielt den Abstand zwischen ihnen aufrecht. Ferro sah das Glühen des Feuers an der einen Seite seiner beider Augen, eine geschwungene, vernarbte, stopplige Wange, den vagen Umriss seiner gekrümmten Nase, ein paar Strähnen fettigen Haars, die leicht in der Brise wehten und sich leicht von dem dunklen Land hinter ihm abhoben.

»Ich will nicht mit dir kämpfen, Rosig. Ich habe gesehen, wie du kämpfst.« Sie war dabei gewesen, als er fünf Männer in wenigen Augenblicken getötet hatte, und das war wirklich völlig unerwartet geschehen, sogar für sie. Die Erinnerung an sein Gelächter, das von den Wänden widergehallt war, sein verkrampftes, hungriges Gesicht, verzerrt halb vor Gehässigkeit, halb vor Lachen, während er in Blut, in Spucke und in Irrsinn getaucht zwischen den verkrümmten Leichen gestanden hatte, die wie Lumpensäcke auf den Fliesen um ihn herum gelegen hatten, war ihr noch viel zu deutlich in Erinnerung. Nicht, dass sie Angst hatte, natürlich nicht, denn Ferro Maljinn kannte keine Angst.

Aber sie wusste, wann sie sich in Acht nehmen musste.

»Ich will auch nicht gegen dich kämpfen«, sagte er. »Aber wenn Bayaz morgen früh feststellt, dass du verschwunden bist, dann lässt er mich nach dir suchen. Ich habe dich laufen sehen, und ich würde eher gegen dich kämpfen als dir nachjagen. Da hätte ich zumindest etwas bessere Aussichten.«

Er war stärker als sie, und sie wusste das. Seine Verletzungen waren wieder fast geheilt, und er bewegte sich ganz mühelos. Jetzt bedauerte sie, dass sie ihn versorgt hatte. Es war immer ein Fehler, anderen zu helfen. Ein Kampf war ein großes Risiko. Sie war vielleicht härter als viele andere, aber sie verspürte nicht den geringsten Wunsch, dass er ihr das Gesicht zu Brei schlug wie diesem großen Kerl, dem Steinbeißer. Und sie wollte sich auch nicht von einem Schwert durchbohren, sich die Knie zertrümmern und halb den Kopf abreißen lassen.

Das alles war überhaupt nicht verlockend.

Aber er stand zu nahe vor ihr, als dass sie ihn hätte erschießen können, und wenn sie weglief, würde er die anderen wecken, und sie hatten Pferde. Wahrscheinlich würden sie ohnehin wach, wenn sie kämpften, aber so konnte sie vielleicht einen schnellen Schlag austeilen und in dem anschließenden Durcheinander flüchten. Das war nicht ideal, aber welche Wahl hatte sie denn schon? Langsam ließ sie den Beutel von ihrer Schulter gleiten und auf den Boden sinken, dann den Bogen und den Köcher. Sie legte eine Hand an das Heft ihres Säbels, und ihre Finger streiften den Knauf. Er tat es ihr gleich.

»In Ordnung, Rosig. Bringen wir es hinter uns.«

»Vielleicht gibt es ja auch einen anderen Weg.«

Sie sah ihn an, voller Misstrauen und auf jeden Trick gefasst. »Was für einen Weg?«

»Bleib bei uns. Gib der Sache ein paar Tage. Wenn du dann immer noch derselben Ansicht bist, schön, dann helfe ich dir packen. Du kannst mir vertrauen.« Vertrauen, das war ein Wort für Narren. Es war ein Wort, das Menschen dann verwendeten, wenn sie einander betrügen wollten. Wenn er sich jetzt auch nur um Fingerbreite näherte, würde sie ihr Schwert schwingen und ihm den Kopf abschlagen. Sie war bereit.

Aber er bewegte sich weder vor noch zurück. Er stand einfach nur da, ein großer, ruhiger Umriss in der Dunkelheit. Sie verzog das Gesicht, und ihre Fingerspitzen strichen noch immer über den Knauf des Krummsäbels. »Wieso sollte ich dir vertrauen?«

Der große Rosig zuckte mit den schweren Schultern. »Wieso nicht? Damals in der Stadt habe ich dir geholfen und du mir. Ohne einander wären wir vielleicht beide tot.« Das war wohl wirklich so, dachte sie, er hatte ihr geholfen. Nicht so viel wie sie ihm, aber trotzdem. »Irgendwann einmal muss man sich an etwas halten, oder nicht? Mit Vertrauen ist es ebenso, irgendwann einmal muss man es einfach tun, auch ohne gute Gründe.«

»Wieso?«

»Weil man sonst so endet wie wir, und wer würde das wollen?«

»Hm.«

»Ich schlage dir einen Handel vor. Du hältst mir den Rücken frei und ich dir.« Er tippte sich mit dem Daumen langsam gegen die Brust. »Ich halte hier aus.« Er deutete auf sie. »Und du auch. Was hältst du davon?«

Ferro dachte darüber nach. Weglaufen hätte ihr die Freiheit gebracht, aber sonst auch nichts. Sie war auf diesem Weg nach Jahren des Elends an die äußerste Grenze der Wüste gelangt, ihre Feinde stets auf den Fersen. Sie war vor Yulwei weggelaufen, und die Verzehrer hätten sie beinahe erledigt. Wohin wollte sie nun überhaupt? Übers Meer bis nach Kanta? Vielleicht hatte der große Rosig recht. Vielleicht war die Zeit gekommen, mit dem Weglaufen aufzuhören.

Wenigstens so lange, bis sich eine Möglichkeit ergab, um ungesehen zu verschwinden.

Sie nahm die Hand vom Heft ihres Schwertes, verschränkte langsam die Arme vor der Brust, und er tat dasselbe. Beide standen eine lange Weile so da und sahen einander in der Dunkelheit, in der Stille an. »In Ordnung, Rosig«, knurrte sie. »Ich werde aushalten, wie du sagst, und dann werden wir sehen. Aber ich mache keine verdammten Versprechungen, verstehst du?«

»Ich habe dich nicht um ein Versprechen gebeten. Jetzt ist meine Wache. Du kannst dich ausruhen.«

»Ich brauche keine Ruhe, hab ich dir doch schon gesagt.«

»Wie du meinst, aber ich setze mich jetzt hier hin.«

»Von mir aus.«

Der große Rosig ließ sich vorsichtig auf den Boden nieder, und sie tat es ihm nach. Sie saßen im Schneidersitz dort, wo sie zuvor gestanden hatten, sahen einander an, und die glimmenden Überreste des Lagerfeuers glühten zu ihnen herüber. Sie warfen etwas Helligkeit auf die vier Schlafenden, auf die eine Seite des ungeschlachten Gesichts des großen Rosigs, und legten ein wenig Wärme auf das ihre.

Sie beobachteten einander.