VERSCHWENDETER ATEM
Ferro ritt dahin und beobachtete das Land mit wachsamem Blick. Noch immer folgten sie dem dunklen Wasser, noch immer fasste der Wind kalt in ihre Kleider, noch immer tobte Chaos über ihr am dräuenden Himmel, und dennoch änderte sich die Umgebung. Während sie zuvor flach wie eine Tischplatte gewesen war, taten sich nun Anhöhen und plötzliche, versteckte Senken auf. Land, in dem sich andere verstecken konnten, und der Gedanke gefiel ihr nicht. Nicht, dass sie Angst hatte, denn Ferro Maljinn fürchtete niemanden. Aber sie musste umso vorsichtiger lauschen und danach Ausschau halten, ob es Zeichen dafür gab, dass Menschen hier vorbeigekommen waren und vielleicht irgendwo auf sie warteten.
Das sagte einem schon der gesunde Menschenverstand.
Das Gras war auch anders geworden. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass es überall um sie herum wogte, hoch und windgebeutelt, aber hier war es kurz und trocken und farblos wie verdorrtes Stroh. Es wurde immer kürzer, je weiter sie kamen. Heute gab es zwischendurch auch immer öfter kahle Stellen. Nackte Erde, wo gar nichts wuchs. Leere Erde, wie der Staub in den Wüsten Landen.
Tote Erde.
Und tot, ohne dass sie einen Grund dafür entdecken konnte. Sie sah finster über das Auf und Ab der Landschaft bis hin zu den Hügeln, die als schwache und gezackte Linie weit hinten am Horizont zu erkennen waren. Nichts bewegte sich in all dieser Weite. Nichts außer ihnen und den ungeduldigen Wolken. Und ein Vogel, der hoch, hoch über ihnen schwebte und beinahe still in der Luft stand, wobei die langen Federn an den dunklen Flügelspitzen flatterten.
»Der erste Vogel, den ich seit zwei Tagen sehe«, knurrte Neunfinger, der misstrauisch nach oben blickte.
»Hm«, knurrte sie zustimmend. »Die Vögel haben mehr Verstand als wir. Was tun wir hier?«
»Wahrscheinlich gibt’s keinen besseren Ort für uns.«
Für Ferro gab es solche Orte sehr wohl. Überall dort, wo man Gurkhisen töten konnte. »Für dich vielleicht nicht.«
»Was soll denn das heißen? Du hast wohl einen Haufen Freunde in den Wüsten Landen, die alle Sehnsucht nach dir haben, hm? Wo ist Ferro nur geblieben? Es wird gar nicht mehr gelacht, seit sie weg ist.« Und er schnaubte, als hätte er etwas Lustiges gesagt.
Ferro wusste nicht, was daran lustig sein sollte. »Wir können ja nicht alle so beliebt sein wie du, Rosig.« Sie schnaubte nun auch. »Ich bin sicher, dass man ein großes Fest für dich vorbereiten wird, wenn du wieder in den Norden kommst.«
»Oh, da wird bestimmt ganz schön gefeiert. Jedenfalls, nachdem man mich aufgehängt hat.«
Sie kurz dachte darüber nach, sah ihn aus den Augenwinkeln an. Guckte, ohne den Kopf zu bewegen, damit sie dann, falls er in ihre Richtung sah, schnell den Blick abwenden und so tun konnte, als hätte sie gar nicht geguckt. Jetzt, da sie sich allmählich an ihn gewöhnte, musste sie zugeben, dass der große Rosig gar nicht mal so übel war. Sie hatten Seite an Seite gekämpft, mehr als einmal, und er hatte stets seine Pflicht getan. Sie hatten sich darauf geeinigt, einander zu begraben, wenn es sein musste, und sie vertraute ihm, dass er es auch wirklich tun würde. Er sah komisch aus und redete auch komisch, aber sie hatte noch nicht erlebt, dass er etwas versprach und es dann nicht hielt, und das machte ihn zu einem der besseren Menschen, die sie bisher kennen gelernt hatte. Aber das wollte sie ihm natürlich auf keinen Fall sagen oder ihm auch nur das Gefühl geben, dass sie so etwas dachte.
Denn dann würde er sie unweigerlich im Stich lassen.
»Du hast dann also niemanden?«, fragte sie.
»Nur Feinde.«
»Warum kämpfst du dann nicht gegen sie?«
»Kämpfen? Das hat mir all das eingebracht, was ich heute habe.« Und er zeigte ihr seine große leere Hand. »Nichts außer einem bösen Ruf und verdammt vielen Männern, die das brennende Bedürfnis verspüren, mich umzubringen. Kämpfen? Ha! Je besser man darin ist, desto schlimmer ist man später dran. Ich habe einige Rechnungen beglichen, und das kann schon ein gutes Gefühl sein, aber es hält nicht lang. Rache hält einen nachts nicht warm, das ist nun einmal so. Wird überschätzt. Reicht allein nicht. Man braucht noch was anderes.«
Ferro schüttelte den Kopf. »Du erwartest zu viel vom Leben, Rosig.«
Er grinste. »Und ich dachte immer, du erwartest zu wenig.«
»Wenn man nichts erwartet, kann man auch nicht enttäuscht werden.«
»Wenn man nichts erwartet, wird man auch nichts bekommen.«
Ferro sah ihn düster an. Das war es ja eben mit dem Reden. Irgendwann führte es immer dahin, wo sie gar nicht sein wollte. Vielleicht, weil sie nicht genug Übung hatte. Sie riss an den Zügeln und trieb ihr Pferd mit den Hacken weiter, weg von Neunfinger und den anderen, zur Seite, wo sie allein war.
Dann eben Stille. Stille war langweilig, aber ehrlich.
Sie warf einen bösen Blick zu Luthar hinüber, der im Karren saß. Er grinste wie ein Idiot zu ihr zurück, so breit, wie es mit dem Verband möglich war, der noch immer sein halbes Gesicht bedeckte. Er schien sich verändert zu haben, und das gefiel ihr nicht. Als sie das letzte Mal seine Verbände gewechselt hatte, hatte er sich bei ihr bedankt, und das war irgendwie komisch. Ferro hielt nichts davon, sich zu bedanken. Normalerweise versteckte sich etwas dahinter. Es nagte an ihr, dass sie etwas getan hatte, das Dank verdiente. Wenn man anderen half, konnte sich eine Freundschaft entwickeln. Und Freundschaften führten zu Enttäuschungen. Bestenfalls.
Schlimmstenfalls führten sie zum Tod.
Luthar sagte jetzt irgendetwas zu Neunfinger und blickte, da er unten im Karren saß, zu dem Nordmann hoch. Neunfinger legte den Kopf in den Nacken und brüllte dämlich vor Lachen, bis sein Pferd scheute und ihn beinahe abwarf. Bayaz schaukelte zufrieden in seinem Sattel, mit fröhlichen Fältchen um die Augen, als er Neunfinger mit den Zügeln hadern sah. Ferro galoppierte missgestimmt auf die Ebene hinaus.
Sie hatte es besser gefunden, als man sich gegenseitig noch nicht gemocht hatte. Das war beruhigend und vertraut. Das verstand sie. Vertrauen und Kameradschaft und gute Laune, diese Dinge lagen für sie so weit zurück, dass sie ihr beinahe fremd waren.
Und wer mochte schon das Fremde?
Ferro hatte viele tote Menschen gesehen. Mehr als die meisten anderen Leute. Eine ganze Menge hatte sie mit ihren eigenen Händen begraben. Tod war ihr Geschäft und ihr Zeitvertreib. Aber selbst sie hatte selten so viele Leichen auf einem Haufen gesehen. Das kränkliche Gras war mit ihnen übersät. Sie glitt aus dem Sattel und ging zwischen den Toten umher. Es war nicht mehr festzustellen, wer gegen wen gekämpft hatte oder welche Seiten es bei diesem Kampf überhaupt gegeben hatte.
Die Toten sehen alle gleich aus.
Vor allem, wenn sie bereits gründlich ausgeplündert worden sind und ihre Rüstungen, ihre Waffen, die Hälfte ihrer Kleidung fehlen. An einer Stelle lagen sie aufgetürmt und ineinander verschlungen da, im langen Schatten einer abgebrochenen Säule. Ein uralt wirkendes Ding, abgesplittert und angeschlagen, verfallender Stein, streckenweise mit Flechten und verdorrtem Gras bewachsen. Ein großer schwarzer Vogel saß mit gefalteten Schwingen auf seiner Spitze und sah Ferro ohne zu blinzeln mit runden Knopfaugen an, als sie näher kam.
Die Leiche eines riesigen Mannes lehnte halb aufgestützt gegen das zerstörte Gestein, seine leblose Hand umklammerte noch einen abgebrochenen Stab, und dunkles Blut und dunkler Schmutz saßen unter den Fingernägeln. Dieser Stab hatte vermutlich einmal eine Flagge getragen, vermutete Ferro. Soldaten schienen sich sehr viel aus Flaggen zu machen. Sie hatte das nie verstanden. Man konnte damit niemanden töten. Man konnte sich damit nicht schützen. Und dennoch waren Männer bereit, für Flaggen zu sterben.
»Reine Dummheit«, murmelte sie und sah misstrauisch zu dem großen Vogel auf der Säule empor.
»Ein Blutbad«, sagte Neunfinger.
Bayaz knurrte und kratzte sich am Kinn. »Aber wer hat hier wen abgeschlachtet?«
Ferro sah, wie Luthars geschwollenes Gesicht sorgenvoll mit großen Augen aus dem Karren herausschaute. Quai saß direkt vor ihm auf dem Kutschbock, die Zügel locker in der Hand, und blickte völlig ausdruckslos auf die Leichen.
Ferro drehte einen der Toten um und schnupperte an ihm. Bleiche Haut, dunkle Lippen, aber noch kein Geruch. »Es geschah vor nicht allzu langer Zeit. Vielleicht vor zwei Tagen?«
»Aber hier sind keine Fliegen.« Neunfinger betrachtete die Leichen mit finsterem Blick. Einige Vögel hockten auf ihnen und sahen zu ihnen herüber. »Nur Vögel. Und die picken nicht mal an ihnen. Das ist seltsam.«
»Nicht unbedingt, mein Freund!« Ferros Kopf schoss in die Höhe. Ein Mann kam schnellen Schrittes über das Schlachtfeld auf sie zu, ein großer Rosig in einem zerlumpten Mantel, ein knorriges langes Stück Holz in der Hand. Er hatte ungekämmtes, fettiges Haar und einen langen verfilzten Bart. Seine Augen saßen hell, wild und hervorquellend in einem Gesicht voller tiefer Runzeln. Ferro starrte ihn an und wusste nicht, wie er ihr hatte so nahe kommen können, ohne dass sie ihn bemerkt hatte.
Die Vögel flogen von den Leichen auf, als er sprach, aber er vertrieb sie nicht. Stattdessen setzten sie sich auf seine Schultern, einige flogen in weiten Kreisen um seinen Kopf. Ferro griff nach ihrem Bogen und zog einen Pfeil hervor, aber Bayaz streckte den Arm aus. »Nein.«
»Habt ihr das gesehen?« Der große Rosig deutete auf die beschädigte Säule, und der Vogel erhob sich von ihrer Spitze in die Luft und landete auf seiner ausgestreckten Hand. »Eine Hundertmeilensäule! Noch einhundert Meilen bis Aulcus!« Er ließ den Arm sinken, und der Vogel landete auf seiner Schulter neben den anderen und blieb dort sitzen, still und ruhig. »Ihr steht direkt an der Grenze zum Toten Land! Hierher kommen keine Tiere freiwillig, wenn man sie nicht mit sich führt.«
»Wie ist es, Bruder?«, rief Bayaz, und Ferro schob ihren Pfeil angespannt und voller Unruhe wieder in den Köcher. Noch ein Magus. Das hätte sie sich denken können. Wann immer zwei dieser alten Narren aufeinandertrafen, wurde erst einmal endlos mit den Lippen gewackelt und viele Worte gemacht.
Sprich, jede Menge Lügen.
»Der Große Bayaz!«, rief der Neuankömmling, als er näher trat. »Der Erste der Magi! Ich hörte, dass du auf dem Wege seiest, von den Vögeln der Lüfte, den Fischen des Wassers, den Tieren der Erde, und jetzt sehe ich es mit meinen eigenen Augen und kann es dennoch kaum glauben. Kann es sein? Dass diese gesegneten Füße auf diesem blutigen Boden wandeln?«
Er stellte seinen Stab auf den Boden, und sofort kletterte der große schwarze Vogel von seiner Schulter, ergriff mit den Klauen die Spitze und schlug mit den Flügeln, bis er schließlich seinen Platz gefunden hatte. Ferro trat einen vorsichtigen Schritt zurück und legte eine Hand an ihr Messer. Sie hatte nicht die Absicht, sich von diesen Viechern vollkacken zu lassen.
»Zacharus«, sagte Bayaz und schwang sich steifbeinig aus dem Sattel, obwohl es Ferro so vorkam, als ob er den Namen ohne echte Freude nannte. »Du siehst aus, als seiest du bei guter Gesundheit, Bruder.«
»Ich sehe müde aus. Müde und schmutzig und verrückt, und genau das bin ich auch. Du bist schwer zu finden, Bayaz. Ich habe die ganze Ebene nach dir abgesucht.«
»Wir haben uns versteckt gehalten. Khaluls Verbündete halten ebenfalls nach uns Ausschau.« Bayaz’ Augen glitten über die Leichen. »Ist das deine Arbeit?«
»Die meines Mündels, des jungen Goltus. Er ist so wild wie ein Löwe, das sage ich dir, und er wird einen ebenso guten Kaiser abgeben wie die großen Männer der Alten Zeit! Er hat seinen größten Rivalen, seinen Bruder Scario, gefangen genommen und ihm Gnade erwiesen.« Zacharus schniefte. »Das entsprach nicht meinem Rat, aber die Jungen wollen nun einmal ihre eigenen Wege gehen. Dies hier waren Scarios letzte Männer. Jene, die sich nicht ergeben wollten.« Er wies mit einer leichtherzigen Handbewegung auf die Toten, und die Vögel auf seiner Schulter folgten flatternd seiner Geste.
»Gnade reicht nur so oder so weit«, bemerkte Bayaz.
»Sie wollten nicht ins Tote Land hineinflüchten und beschlossen daher, den Kampf zu suchen, und hier starben sie, im Schatten der Hundertmeilensäulen. Goltus nahm ihnen die Standarte der Dritten Legion ab. Jene Standarte, unter der Stolicus selbst in die Schlacht ritt. Ein Relikt aus der Alten Zeit! Ebenso wie du und ich es sind, Bruder.«
Bayaz schien nicht besonders beeindruckt. »Ein Fetzen altes Tuch. Diesen Burschen hier hat es verdammt wenig genützt. Nur, weil er ein Stück Mottenfutter vor sich her trägt, wird niemand zu Stolicus.«
»Vielleicht nicht. Das Tuch ist auch schon ziemlich ausgeblichen, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Die Juwelen waren längst alle herausgerissen und versetzt, um Waffen davon zu kaufen.«
»Juwelen sind Luxus in der heutigen Zeit, aber Waffen braucht jeder. Wo ist dein junger Kaiser jetzt?«
»Bereits auf dem Rückweg nach Osten, ohne sich die Zeit genommen zu haben, die Toten zu verbrennen. Er zieht nach Darmium, um die Stadt zu belagern und diesen Verrückten Cabrian aus den Mauern zu verjagen. Dann können wir vielleicht Frieden haben.«
Bayaz schnaubte bitter. »Erinnerst du dich überhaupt daran, wie es sich anfühlt, Frieden zu haben?«
»Du wärst überrascht, woran ich mich erinnere.« Zacharus’ hervorquellende Augen starrten Bayaz an. »Aber wie laufen die Dinge draußen in der Welt? Wie geht es Yulwei?«
»Er passt auf, wie immer.«
»Und was ist mit unserem anderen Bruder, der Schande unserer Familie, dem großen Propheten Khalul?«
Bayaz’ Gesicht wurde hart. »Seine Stärke wächst. Er unternimmt die ersten Schritte. Er spürt, dass seine Zeit gekommen ist.«
»Und du möchtest ihn natürlich aufhalten?«
»Was sonst sollte ich tun?«
»Hmm. Khalul war im Süden, als ich zuletzt von ihm hörte, und dennoch reist du westwärts. Bist du vom Weg abgekommen, Bruder? Hier gibt es nichts außer den Ruinen der Vergangenheit.«
»In der Vergangenheit liegt Macht.«
»Macht? Ha! Du änderst dich auch nie. Seltsame Gesellschaft, mit der du reitest, Bayaz. Den jungen Malacus Quai kenne ich natürlich. Wie geht es, Erzähler von Geschichten?«, rief er dem Zauberlehrling zu. »Wie geht es, Redner? Wie behandelt mein Bruder Euch?«
Quai blieb zusammengesunken auf dem Kutschbock sitzen. »Ganz ordentlich.«
»Ganz ordentlich? Das ist alles? Ihr habt zumindest gelernt, Schweigen zu bewahren. Wie hast du ihm das beigebracht, Bayaz? Gerade das konnte ich ihm nie vermitteln.«
Bayaz warf Quai einen scharfen Blick zu. »Das musste ich gar nicht.«
»Aha. Was hat Juvens gesagt? Die besten Lektionen bringt man sich selbst bei.« Zacharus richtete die hervorquellenden Augen jetzt auf Ferro, und die Augen der Vögel gingen sofort, als seien sie alle eins, in dieselbe Richtung. »Aber hier hast du ein seltsames Wesen bei dir.«
»Sie hat das Blut.«
»Dann brauchst du noch immer einen, der mit den Geistern sprechen kann.«
»Das kann er.« Bayaz nickte zu Neunfinger hinüber. Der große Rosig hatte etwas an seinem Sattel zurechtgerückt, aber jetzt sah er verwirrt auf.
»Er?« Zacharus verzog das Gesicht. Sehr viel Zorn, dachte Ferro, aber auch Traurigkeit und ein wenig Angst. Die Vögel auf seinen Schultern, auf seinem Kopf und auf der Spitze seines Stabes richteten sich auf und breiteten die Flügel aus, flatterten und krächzten. »Hör mich an, Bruder, bevor es zu spät ist. Gib diese närrische Idee auf. Ich werde mit dir gegen Khalul ziehen. Ich werde an deiner und Yulweis Seite kämpfen. Wir drei, zusammen, wie in der Alten Zeit, als wir gegen den Schöpfer auszogen. Die Magi, wieder vereint. Ich werde dir helfen.«
Darauf folgte langes Schweigen, und harte Linien gruben sich in Bayaz’ Gesicht. »Du willst mir helfen? Wenn du mir diese Hilfe doch nur vor langer Zeit angeboten hättest, nach dem Fall des Schöpfers, als ich bei dir darum bettelte. Damals hätten wir Khaluls Irrsinn ausrotten können, bevor er Wurzeln schlug. Jetzt wimmelt der ganze Süden vor Verzehrern, die unsere Welt zu ihrer Spielwiese machen wollen und ganz offen ihre Verachtung für das feierliche Wort unseres Herrn zeigen! Wir drei würden nicht genügen, glaube ich. Und dann? Willst du Cawneil von ihren Büchern weglocken? Willst du Leru in der ganzen weiten Welt aufspüren und herausfinden, unter welchem Stein sie sich verkrochen hat? Willst du Karnault von der anderen Seite des weiten Meeres zurückholen, oder Anselmi und Bruchzahn aus dem Land der Toten? Die Magi, wieder vereint, meinst du?« Und Bayaz’ Lippen kräuselten sich verächtlich. »Diese Zeit ist vorüber, Bruder. Das Schiff hat schon vor langer Zeit abgelegt und wird nie wiederkehren, und wir sind auf der Fahrt nicht mit dabei!«
»Ich verstehe!«, zischte Zacharus, und seine rotgeäderten Augen quollen noch weiter aus ihren Höhlen. »Und wenn du findest, was du suchst, was dann? Glaubst du im Ernst, du könntest es im Zaum halten? Wagst du dir vorzustellen, dass du das tun könntest, wozu Glustrod und Kanedias und Juvens selbst nicht in der Lage waren?«
»Ich habe aus ihren Fehlern gelernt.«
»Das glaube ich kaum! Du willst ein Verbrechen mit einem noch schlimmeren bestrafen!«
Bayaz’ schmale Lippen und hohle Wangen bekamen noch schärfere Konturen. Keine Traurigkeit, keine Angst, aber sehr viel Zorn. »Diesen Krieg habe nicht ich begonnen, Bruder! Brach ich das zweite Gebot? Habe ich den halben Süden versklavt, um meine eigene Eitelkeit zu befriedigen?«
»Nein, aber wir haben alle dazu beigetragen, du mehr als alle anderen. Seltsam, wie ich mich an Dinge erinnere, die du auszulassen beliebst. Wie du dich mit Khalul gezankt hast. Wie Juvens entschlossen war, euch beide zu trennen. Wie du dich an den Schöpfer wandtest und ihn überzeugtest, seine Geheimnisse mit dir zu teilen.« Zacharus lachte, ein hartes, gackerndes Lachen, und seine Vögel krächzten und kreischten mit ihm. »Ich vermute, dass er wohl nie beabsichtigte, auch seine Tochter mit dir zu teilen, was, Bayaz? Die Tochter des Schöpfers? Tolomei? Ist denn in deinen Erinnerungen Platz für sie?«
Bayaz’ Augen schimmerten kalt. »Vielleicht liegt die Schuld bei mir«, flüsterte er. »Die Lösung soll dann auch von mir ausgehen …«
»Glaubst du, dass Euz das Erste Gebot aus einer Laune heraus erließ? Glaubst du, Juvens hat dieses Ding deswegen an den Rand der Welt verbannt, weil es … sicher ist? Es ist … es ist böse!«
»Böse?« Bayaz schnaubte verächtlich. »Das ist ein Wort für Kinder. Ein Wort, das die Unwissenden gern gegenüber jenen gebrauchen, die nicht mit ihnen einer Meinung sind. Ich dachte, solche Ausdrücke hätten wir schon lange hinter uns gelassen.«
»Aber die Gefahren …«
»Ich bin fest entschlossen.« Und Bayaz’ Stimme klang eisenhart und gut geschärft. »Ich habe lange Jahre darüber nachgedacht. Du hast dein Sprüchlein aufgesagt, Zacharus, aber du hast mir keine neuen Möglichkeiten aufgezeigt. Versuche mich aufzuhalten, wenn du es nicht lassen kannst. Ansonsten geh mir aus dem Weg.«
»Dann hat sich also nichts geändert.« Der alte Mann drehte sich um und sah Ferro an, sein runzliges Gesicht zuckte, und die dunklen Augen seiner Vögel folgten seinem Blick. »Und was ist mit dir, Teufelsblut? Weißt du, was du für ihn berühren sollst? Begreifst du, was er dich tragen lassen will? Hast du auch nur eine Vorstellung von den Gefahren?« Ein kleiner Vogel hüpfte von seiner Schulter und begann, im Kreis um Ferros Kopf herumzufliegen. »Du solltest besser fliehen und nicht aufhören zu laufen! Das wäre für euch alle besser!«
Ferros Lippen verzogen sich. Sie schlug den Vogel aus der Luft, sodass er zu Boden taumelte und zwitschernd zwischen die Toten hüpfte. Die anderen krächzten und zischten und gackerten vor Zorn, aber sie achtete nicht auf sie. »Du kennst mich nicht, du alter närrischer Rosig mit deinem dreckigen Bart. Tu nicht so, als verstündest du mich, und tu nicht so, als wüsstest du, was ich weiß oder was man mir angeboten hat. Warum sollte ich das Wort eines alten Lügners dem eines anderen vorziehen? Nimm deine Vögel und steck deine Nase in deine eigenen Angelegenheiten, dann werden wir keinen Streit bekommen. Alles andere ist verschwendeter Atem.«
Zacharus und seine Vögel blinzelten. Sein Blick verdüsterte sich, dann öffnete er den Mund und schloss ihn schweigend wieder, als Ferro sich in den Sattel schwang und ihr Pferd nach Westen wandte. Sie hörte am Hufschlag, wie die anderen ihr folgten, hörte Quai auf dem Kutschbock mit den Zügeln schnalzen, und dann Bayaz’ Stimme. »Höre ihnen zu, den Vögeln der Luft, den Fischen des Wassers, den Tieren der Erde. Bald schon wirst du hören, dass Khalul vernichtet ist, seine Verzehrer zu Staub geworden, die Fehler der Vergangenheit begraben, wie sie es schon vor langer Zeit hätten sein sollen.«
»Ich hoffe es, aber ich fürchte, die Nachrichten werden schlechter sein.« Ferro wandte den Kopf und sah, wie die beiden alten Männer einander ein letztes Mal anstarrten. »Die Fehler der Vergangenheit lassen sich nicht so einfach begraben. Ich hoffe wirklich, dass du scheitern wirst.«
»Sieh dich um, alter Freund.« Und der Erste der Magi lächelte, als er schwerfällig in den Sattel stieg. »Keine deiner Hoffnungen hat sich bisher erfüllt.«
Und so ritten sie schweigend fort von den vielen Toten, an der zerbrochenen Hundertmeilensäule vorbei und in das Tote Land. Den Ruinen der Vergangenheit entgegen. Nach Aulcus.
Und der Himmel über ihnen verdüsterte sich.